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Copyright: Arne Sattler

"Intuition ist gefühltes Wissen und keine göttliche Eingabe."

Prof. Gerd Gigerenzer ist ein weltweit renommierter Psychologe, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Direktor des Harding Zentrums für Risikokompetenz. Sein Buch „Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition“ ist ein Bestseller. Im NWXnow-Videocast spricht Marc-Sven Kopka am 30. November mit Prof. Gerd Gigerenzer darüber, wie wir gute Entscheidungen in unsicheren Zeiten treffen und uns vom Diktat des immer Gleichen befreien.

Ein Interview über Bauchentscheidungen, berechenbare Risiken und die Möglichkeit, mit einer Münze die Intuition zum Sprechen zu bringen.

Wir leben in unsicheren Zeiten – wie soll man da Entscheidungen für die Zukunft treffen können?

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer: In Zeiten der Ungewissheit lassen sich keine 5-Jahrespläne machen. Wer hingegen relativ kurzfristige Entscheidungen trifft, kann diese zur Not auch wieder rückgängig machen beziehungsweise den Gegebenheiten anpassen. Die Risiken eines Vorhabens lassen sich nur richtig einschätzen, wenn alle Unwägbarkeiten bekannt sind, in der Corona-Krise ist das definitiv nicht der Fall.

Sollten wir uns mehr auf unseren Bauch verlassen?

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer: Zunächst sollten wir definieren, was wir unter Intuition oder Bauchentscheidung verstehen. Intuition ist gefühltes Wissen, das auf langjährigen Erfahrungen beruht. Es besitzt zwei Eigenschaften – zum einen das Gespür dafür, was wir tun oder lassen sollten, und zum anderen das Phänomen, dass wir uns dieses Gespür nicht erklären können. Intuition ist kein diffuses Gefühl, kein sechster Sinn, keine göttliche Eingabe und auch nicht etwas, das nur Frauen vorbehalten ist. Für meine Untersuchungen habe ich Manager bis in die Vorstandsetagen hinein befragt. Nach eigenen Angaben treffen sie 50 Prozent aller Entscheidungen am Ende aus dem Bauch heraus. Ich betone am Ende. Man geht natürlich zunächst alle Daten durch und erwägt alle Möglichkeiten, ganz logisch und rational. Aber Zahlen geben einem nicht immer eine klare Antwort. Es existiert kein Gegensatz zwischen Logik und Bauchentscheidung, wir benutzen meistens beides.

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Im NWXnow-Videocast spricht Marc-Sven Kopka am 30. November mit Prof. Gerd Gigerenzer darüber, wie wir gute Entscheidungen in unsicheren Zeiten treffen und uns vom Diktat des immer Gleichen befreien.

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Kann man offen darüber sprechen, dass man gewisse Entscheidungen aus dem Bauch heraus getroffen hat und ist stolz auf seine Intuition oder wirkt das in manchen Kreisen unseriös?

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer: Es gibt ganze Berufszweige, die stolz auf ihre Intuition sind. Fragen Sie Maler, Komponisten, Fußballspieler. Gerd Müller hat einmal gesagt: "Wennst nachdenkst, bist eh schon verloren." Das ist eine typische Situation von Experten, die jahrelang etwas trainieren und am Ende intuitiv entscheiden, oder schießen in diesem Fall. Es ist etwas völlig Normales. Aber Führungspersönlichkeiten, zumindest im Wirtschaftsbereich, haben mehr Probleme damit zuzugeben, dass sie intuitiv entscheiden. Viele scheuen sich auch davor. Insbesondere Männer. Denn für die eigene Bauchentscheidung muss man selbst die volle Verantwortung übernehmen.

Wann kann man mit dem Kopf entscheiden, wann mit dem Bauch bzw. wie kann man beides miteinander kombinieren?

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer: Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir uns gegen die Intuition sperren, statt zu realisieren, dass wir auf beides angewiesen sind. Als Wissenschaftler brauche ich gute Intuition, um neue Ideen zu generieren und dann wissenschaftliche Methoden, um sie auf ihren Nutzen hin abzuklopfen. Wir müssen begreifen, dass es heißt Kopf und Bauch, nicht Kopf gegen Bauch. Für eine verlässliche Intuition brauchst du langjährige Erfahrung mit einem bestimmten Thema. Wenn dir diese Erfahrung fehlt, dann solltest du deinem Bauch nicht trauen. Besitzt du allerdings Erfahrung in einem Bereich, dann ist Intuition nützlich. Sie kann einem nicht nur ein guter Ratgeber sein, sondern auch zu Innovation führen. Albert Einstein hat einmal gesagt: "Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk, und der rationale Verstand ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat."

Welche Rolle spielen Bauchentscheidungen für die Karriere?

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer: Auf seine Intuition im Umgang mit Menschen zu hören ist in Ordnung, das lernt man sein ganzes Leben lang. Aber für fachliche Entscheidungen in einem Bereich, in dem man keine Erfahrungen hat, sollte man lieber nicht auf seinen Bauch hören. Meistens sagt der einem dann auch nichts.

Was heißt das konkret für Arbeitnehmer? Wenn jemand neu in einem bestimmten Job ist oder sich für einen neuen Arbeitgeber entscheidet, sollte man doch eher die berühmte Pro-Contra-Liste bemühen?

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer: Dazu gibt es soziale Intuition. Also zu spüren, wen man fragen sollte. Personen in deiner Familie, in deinem Freundes- oder Bekanntenkreis, die besser Bescheid wissen als du. So eine Pro-Contra-Liste macht ja auch nur Sinn, wenn du Ahnung von dem hast, was du bewerten willst. Ansonsten weißt du auch nicht, was du da drauf schreiben sollst.

Kann man es lernen, auf seinen Bauch zu hören, sich mehr auf seine Intuition zu verlassen?

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer: Zunächst muss man Erfahrungen sammeln, also lernen, um seine Intuition nutzen zu können. Außerdem kann man auch üben, genauer hinzuschauen. Oft gehen wir durchs Leben und bemerken überhaupt nicht, was um uns herum geschieht. Eine gewisse Neugier ist die Voraussetzung, um gute Intuition zu entwickeln. Dann hilft sie einem in Krisensituationen, die richtige Entscheidung zu treffen. Es ist auch schon ein großer Schritt, der Intuition anderer zu vertrauen. Nachdem ich bei einer Bank einen Vortrag zu dem Thema gehalten hatte, ergriff der Vorstandsvorsitzende das Wort. Er meinte, er hätte erst jetzt verstanden, was Jahre zuvor einmal zu einer fatalen Entscheidung geführt hatte. Es sei in einer Diskussion über eine mögliche Fusion bis nach Mitternacht hoch hergegangen. Von den fünf Vorständen waren vier dafür und einer dagegen. Der Mann konnte seine Gründe jedoch nicht erklären, so überstimmten ihn die anderen und segelten mit der Entscheidung ins Unglück. Nun sei ihm klar geworden, dass der Vorstand seine Intuition ja nicht erklären kann, und dass sie eine völlig andere Frage hätten stellen müssen. Nicht darauf zu beharren, die Gründe für sein ungutes Gefühl zu erfahren. Sondern zu fragen: Wer von uns hat die meisten Erfahrungen in dieser konkreten Situation? Und wenn es derjenige ist, der dieses negative Bauchgefühl hat, einfach auf ihn hören.

Welche praktischen Übungen empfiehlst du, um die intuitive Entscheidungsfindung zu schulen?

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer: Nehmen wir an, du hast zwei berufliche Optionen und kannst dich nicht entscheiden. Dann kannst du eine einfache Methode anwenden: Du wirfst eine Münze. Kopf ist Option A, Zahl ist Option B. Und während sich die Münze noch in der Luft dreht, wirst du wahrscheinlich schon spüren, welche Seite auf keinen Fall aufkommen soll. Das ist eine gute Übung, um die eigene Intuition zum Sprechen zu bringen. Das funktioniert vor allem für Menschen, die vor lauter Nachdenken gar nicht mehr auf ihren Bauch hören. Aber das Gespür macht sich bemerkbar in dem Moment, in dem man die Münze wirft. Eine andere Übung ist es, beim Einkaufen den Optimierungsgedanken fallen zu lassen. Nehmen wir an, du möchtest eine schwarze Hose kaufen. Du gehst in ein Kaufhaus, wirst fündig, aber hast immer im Hinterkopf, dass du womöglich woanders noch etwas Besseres bekommst. Nebenan ist ein weiteres Kaufhaus und dort verbringst du auch Stunden. Dann noch in die Boutique gegenüber. Irgendwann ist Ladenschluss und du hast dich immer noch nicht entschieden. Das ist ein Rezept zum Unglücklichsein. Versuch es dagegen mit einer einfachen Strategie: Du gehst in einen Laden, siehst eine Hose in der richtigen Farbe, die passt und nicht zu teuer ist – dann kauf sie. Und beschäftige dich nicht weiter mit dem Gedanken, ob es auch noch eine bessere geben könnte. Stattdessen geh‘ einen Kaffee trinken. Vielen Menschen fällt das schwer, die verbringen ihr ganzes Leben damit herauszufinden, ob es noch etwas Besseres gibt.

Ist es nicht ein generelles Problem, dass die Auswahl viel zu groß ist? Man kann alles studieren, überall hinreisen, per Dating-App immer neue Partner kennenlernen …

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer: Zu lernen, wann man aufhören sollte zu suchen. Wenn man das weiß, lebt man definitiv glücklicher.

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Über die NWXnow

Wer mehr von Prof. Gerd Gigerenzer erfahren möchte, sollte am 30. November 2020 bei der NWXnow vorbeischauen.

Wir präsentieren analog zur NEW WORK EXPERIENCE die neue digitale Formatreihe NWXnow. Wir möchten weiterhin ein Forum für die Diskussion zur Zukunft der Arbeit bieten. Denn wir sind davon überzeugt: Es geht mehr denn je um die Frage, wie wir die Weichen für eine zukünftige Arbeitswelt stellen, in der wir arbeiten wollen. Um Klarheit und Orientierung zu schaffen, sprechen wir dazu regelmäßig mit unterschiedlichsten Experten, Vordenkern und Praktikern.

Die NWXnow beinhaltet Videocasts, bei denen Fachleute aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik über den Wandel der Arbeitswelt sprechen, spannende Artikel, Hintergrundinformationen, Interviews, Online-Workshops und Webinare, spannende Artikel und vieles mehr. Die zentrale Fragestellung: Was kommt, was bleibt und was verändert sich?

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NWX – New Work News schreibt über Alles zur Zukunft der Arbeit

Alles zur Zukunft der Arbeit: Auf dieser News-Seite finden alle New Work-Interessierten multimedialen Content rund um das Thema. Neben Experten-Interviews, Debatten, Studien, Tipps und Best Practices, erwarten die Leser auch Video- und Podcastformate. Und natürlich ein Überblick unserer gesamten New Work Events, die mehrmals im Jahr im gesamten deutschsprachigen Raum stattfinden. Weitere spannende Inhalte zum Thema New Work finden Sie auf: nwx.new-work.se

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