Tschüss, ich mach Feierabend! Warum ein Nein zu Überstunden völlig okay ist
Ganz langsam gleiten die Zeiger über das Ziffernblatt und ticken unaufhaltsam in deinem Kopf. Eigentlich könntest du jetzt deinen Laptop zuklappen und Richtung Feierabend marschieren. Eigentlich. Denn obwohl dein Überstundenkonto aus allen Nähten platzt, lässt dich das schlechte Gewissen am Bildschirm kleben.
24/7 Wir-Gefühl und We-are-Family-Gewissensbisse
Die Grenzen zwischen Privatleben und Job verschwimmen, deswegen bleiben Power Point und Briefingdokument selbst am Wochenende geöffnet – unbezahlt, versteht sich. E-Mail-Postfach und Puls blinken hektisch um die Wette, unerledigte Aufgaben sammeln sich schneller an, als Stressflecken im Gesicht. Kaum verwunderlich, dass schon mehr als zwei Überstunden wöchentlich psychische und körperliche Spuren an Workaholics hinterlassen: Rückenschmerzen, Müdigkeit und Erschöpfung.
Aber einfach „Nein“ zu sagen, weil der Akku leer ist? Scheinbar unmöglich. Auch in den Bewertungen auf kununu taucht das Wort Überstunden fast 14.000 mal auf. „Überstunden zum Nulltarif“ und unbezahlte Extrazeit werden als „normal angesehen und verlangt“. Sie verschwinden wie selbstverständlich zwischen flexiblen Arbeitszeiten und Zeiterfassung auf Vertrauensbasis. Als wäre es ein „privates Vergnügen“, den Chef öfter zu sehen, als die Familie.
Eigentliches Problem sind aber nicht die Überstunden an sich. Vielmehr ist es die We-are-Family-Mentalität: Wenn auch der Kollege noch am Pult hockt, müssen unbezahlte Arbeitszeiten schon in Ordnung sein. Schliesslich machen das viele Unternehmen so. Aber genau das ist der springende Punkt: Denn das können sie nur, weil es sich die Arbeitnehmer gefallen lassen. Es ist in Ordnung, auch mal „Nein“ zu sagen.
Kenne deine Rechte. Und trau dich, sie durchzusetzen
Natürlich ist die Rechtslage je nach Land unterschiedlich und sicherlich gibt es Ausnahmen, die eine Pauschalisierung nicht zulassen. Generell gilt aber: Nur du hast es in der Hand, deine Ansprüche geltend zu machen. Informiere dich über bindende Gesetze, kenne deinen Arbeitsvertrag genau und trau dich freundlich aber bestimmt, deinen Chef auf vereinbarte Regelungen hinzuweisen.
In Deutschland legt das Arbeitszeitgesetz fest, dass grundsätzlich pro Werktag höchstens acht Sunden gearbeitet werden darf. „Das Arbeitszeitgesetz hat nichts dagegen, dass die Arbeitszeit auf bis zu zehn Stunden verlängert wird – unter einer wichtigen Voraussetzung: Die über acht Stunden hinausgehende Arbeitszeit muss ausgeglichen werden. Und zwar nicht irgendwann, sondern innerhalb der nächsten sechs Monate. Im Durchschnitt darf niemand innerhalb von sechs Kalendermonaten länger als acht Stunden pro Werktag arbeiten.“
Ähnlich ist die Regelung in Österreich: „Bei erhöhtem Arbeitsbedarf sind 5 Überstunden wöchentlich zulässig. Darüber hinaus erlaubt das Gesetz 5 weitere Überstunden wöchentlich (insgesamt also 10 Überstunden wöchentlich), diese jedoch nur in einem jährlichen Höchstausmaß von 60 Stunden. Die tägliche Arbeitszeit darf 10 Stunden (inkl. Überstunden) nicht überschreiten. Kollektivverträge können ein noch höheres Ausmass an Überstunden vorsehen; darüber hinaus können zusätzliche Überstunden durch Betriebsvereinbarung zugelassen werden.“
In der Schweiz wird dann „von Überzeit gesprochen, wenn die wöchentliche gesetzliche Höchstarbeitszeit (je nach Branche 45 bis 50 Stunden) überschritten wird. Sie darf nicht mehr als zwei Stunden im Tag betragen. Sie darf im Kalenderjahr nicht mehr als 170 Stunden (bei wöchentlicher Arbeitszeit von 45 Stunden) bzw. 140 Stunden (bei 50 Stunden) betragen. Sie muss – wenn sie nicht in einer bestimmter Frist durch Freizeit ausgeglichen wird – mit einem Lohnzuschlag von mindestens 25 % entschädigt werden.“
Überstunden? Chef, ich habe da schon was vor
Zugegeben: Sich selbst treu zu bleiben und das eigene Versprechen „Ich gehe heute wirklich pünktlich“ einzuhalten, fällt schon schwer genug. Noch grösser ist das Dilemma allerdings, wenn die Überstunden vom Vorgesetzten eingefordert werden. Ein „Nein“ wird unmöglich – gerade dann, wenn Extra-Stunden aus der Sicht deines Chefs das unumstössliche Monument deiner Daseinsberechtigung in dem Unternehmen bilden.
Schwer fällt uns der Widerstand auch, weil wir uns vor Misserfolgen, Überanstrengungen und sozialen Zurückweisungen fürchten: Bevor etwas kompliziert wird, oder wir unseren inneren Schweinehund in eine ungemütliche Situation katapultieren, verweilen wir lieber in der bekannten Zone. Lieber bleiben wir im Sinne des sozialen Kuscheldrucks in der Norm, als dass wir etwas tun, was anderen Menschen missfällt. Besonders, wenn diese Menschen über unseren weiteren Karriereweg entscheiden können.
Der Ja-Sager-Sidekick kommt nicht als Held nach Hause
Auf den ersten Blick zeigt dir die Arbeitswelt vor allem ein Muster: Ja-Sager und Kopfnicker werden häufiger befördert. Doch hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen und die Chefetage an deinem Arbeitsplatz unter die Lupe zu nehmen. Coach Martin Wehrle verrät in einem Interview mit Zeit Online, wer die wahren Sieger des Erfolgsmarathons sind. Nämlich: Vorgesetzte mit klaren Überzeugungen – und mit einem deutlichen und selbstbewusstem „Nein“ gewinnen langfristig das Karriererennen. Charakterstärke und eine deutliche Positionierung schaffen Respekt und Vertrauen, weil eindeutige Wertevorstellungen zeigen, wofür sie stehen – und wofür nicht. Und mal ehrlich: Am Ende sind es nicht die Ja-Sager-Sidekicks eines Kinostreifens, die als Helden nach Hause kommen. Sondern die, die mit klarer Position ihre Werte vertreten, Konflikte in Kauf nehmen und einen Widerstand anführen.
So sagst du „Nein“ zu Überstunden
Wenn du dich von deinem Vorgesetzten regelrecht überfallen fühlst und mit seiner Bitte nicht gerechnet hast, räume dir Bedenkzeit ein. Das kannst du machen, indem du entweder klar kommunizierst, dass du darüber nachdenken musst oder aber eine kleinere Aufgabe als Vorwand vorschiebst, um nicht gleich antworten zu müssen. Z.B. „Ich mache diese Aufgabe noch fertig, dann könnten wir darüber sprechen.“ Dein Vorteil: So rutscht dir erst gar nicht ein automatisches „Ja“ heraus, dass du vielleicht später nicht zurücknehmen kannst.
Wenn du dich für eine Antwort entschieden hast, werde deutlich. Das bedeutet: Kein geflüstertes „Nein“, keine halbherzigen Ausflüchte, sondern ein lautes, klares „Nein“. Warum das wichtig ist? So erstickst du Überredungsversuche im Keim und zeigst, dass du selbstbewusst zu deinen Entscheidungen stehst.
Ausführliche Begründungen solltest du vermeiden. Sie klingen schnell so, als würdest du dich vor dir selbst rechtfertigen und unsicher sein. Das führt dazu, dass dein Gegenüber Futter erhält, dass er für seine Gegenargumente verwenden kann. Schlimmstenfalls katapultierst du dich so selber ins Aus und kannst am Ende nur noch „Ja“ sagen.
Kenne deine Prioritäten und deinen Workload. So kannst du deinem Chef ganz deutlich sagen: „Wenn ich ‚Ja‘ zu dieser Aufgabe sage, dann kann ich die Zeit nicht in das andere Projekt investieren. Dies hat aber Priorität oder sehen Sie das anders?“
Wenn Überstunden für dich schon länger auf der Verhandlungs-Agenda stehen, bereite dich vor deinem nächsten Mitarbeitergespräch vor, um das Thema gemeinsam mit deinem Chef anzugehen.
Schon gewusst?
Und wenn du immer noch glaubst, dass du ein Ja-Sager sein musst, damit dich dein Chef akzeptiert, dann gibt’s hier den Gegenbeweis. Wissenschaftler der Washington State University haben nämlich herausgefunden, dass Menschen, die sich sehr viel mehr als nötig für eine Gruppe einsetzen, nicht nur weniger gemocht, sondern regelrecht gehasst werden. Die Ursache liegt laut den Forschern darin, dass diese überehrgeizigen Mitstreiter Anderen das Gefühl geben, im Vergleich viel schlechter zu sein.
Wenn du dich also das nächste Mal mit Zusatzstunden überhäufen lässt, dann denke daran: Überstunden für (meist karrieretechnisch eher irrelevante) Aufgaben konditionieren dich nicht nur dazu, deinen Arbeitsplatz als Last anzusehen, der dir dank Überstunden Kreativität raubt und Frust schenkt. Sie verschaffen dir gleichzeitig nicht unbedingt eine bessere soziale Position in deinem Arbeitsgefüge. Schlimmstenfalls mauserst du dich mit solch einem Verhalten eher zum Schosshund deines Vorgesetzten, der ausgetauscht wird, wenn dem Herrchen langweilig wird.
Jetzt fragst du dich vielleicht, ob dich dein Widerstand gegen deinen Chef den Job kosten kann. Hierfür gilt (und ja, wir sagen es immer wieder gern): Kenne deinen Arbeitsvertrag. Nur dann kannst du deine Rechte geltend machen, dafür einstehen und als Nein-Sager aus der Reihe tanzen.