Am Ohr der Geschichte: Die Stimme der „übergangenen“ Frauen
Menschen, die in der Geschichte stattfinden, haben auch ein Recht darauf, sich als Teil dieser Gesellschaft zu sehen.
„Das ist an historischem Content auf Social Media so empowernd. Da geht es darum, sich selbst zu finden und zu empowern, ein Kollektiv zu schaffen, Vorbilder und Antiheld:innen zu finden“, sagt die Historikerin und Journalistin Leonie Schöler (Jahrgang 1993), die vor allem jungen Menschen auf ihren Social Media-Kanälen vermitteln möchte, wie die Geschichte unsere Gegenwart beeinflusst. Auf TikTok- und Instagram sie ihre Follower:innen regelmäßig über die Vergangenheit und aktuelle politische Geschehnisse auf. Als Redakteurin und Filmemacherin mit Fokus auf Webvideos liefen ihre Recherchen bei diversen funk-Produktionen (u.s. »Jäger und Sammler«, das »Y-Kollektiv« und »Auf Klo«). Im Sommer 2021 erschien ihre Dokumentation über das System Tönnies für ZDFinfo, im Januar 2022 ihre achtteilige Webvideoreihe zur Wannsee-Konferenz für das ZDF. Zudem moderierte sie seit November 2022 in ihrer Rolle als Historikerin das ZDFinfo-Format »Heureka« auf YouTube. Geschichte muss auch kritisch sein „und auch Perspektiven zu Wort kommen lassen, die sonst im historischen Diskurs untergehen.“ Damit beschäftigt sich auch ihr aktuelles Buch „Beklaute Frauen“ – sie schrieb es allerdings nicht, um zu sagen: "Schaut mal, diese armen Frauen! Was denen vor 200 Jahren passiert ist! Schade, aber heute wissen wir es besser."
Auch heute erhalten Frauen häufig noch immer nicht die Wertschätzung und Auszeichnungen, die ihnen zusteht. Die Taten von heute "unterscheiden sich natürlich in der Dreistigkeit und werden eher im Tageslicht begangen". Auch mir passierte dies während meines Studiums: Große Teile meiner Hauptseminararbeit zur Geschichte der literarischen Zensur las der Professor wortgleich in seiner Vorlesung einfach ab. Ob er mich als verblüffte Zuhörende sah, weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht angesprochen, sondern anders gehandelt: Ich schickte meinen Text an die „Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte“, einer Fachpublikation, die der Professor regelmäßig las. Dort wurde er tatsächlich gedruckt, unter dem schönen Titel: „Ohne Ärgernis rückt die Welt nicht vorwärts …“ Seit diesem Erlebnis habe ich sämtliche Seminararbeiten in den jeweiligen Fachpublikationen meiner Professoren drucken lassen. Vor diesem Hintergrund ist dieses Buch zugleich eine persönliche Offenbarung.
Schöler widmet sich der Situation von Frauen als Ehefrauen, Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen – aber auch der Teilnahme von Frauen an Kriegen, die heute kaum thematisiert werden.
So waren bereits an der Französischen Revolution Frauen beteiligt, als Männer verkleidete Frauen schlossen sich den Befreiungskämpfern der Ungarischen Revolution gegen die Habsburgerherrschaft an, im Ersten Weltkrieg kämpften einige tausend Frauen, im Zweiten Weltkrieg dienten mehr als eine Million Frauen bei den unterschiedlichen Streitkräften. Im Spanischen Bürgerkrieg waren die »Mujeres Libres« (die »Freien Frauen«), eine feministisch-anarchistische Frauengruppe. Historisch beachtet wurden diese Fakten kaum. Schöler weist detailliert nach, wo Frauen systematisch durch eine männlich dominierte Welt gebremst, ausgenutzt und ihrer Karrierechancen beraubt wurden. Es handelt sich dabei nicht um Einzelfälle, sondern Teil eines Systems, das bis heute gesellschaftsübergreifend (nach)wirkt. Mit ihrem Buch möchte sie den Frauen „einen Teil ihrer Stimme zurückgeben“ und dazu beitragen, „dass sie rückwirkend die Aufmerksamkeit und Anerkennung erhalten, die sie zu Lebzeiten verdient hätten.“
Beispiele für „übergangene“ Frauen
Obwohl Jocelyn Bell Burnell die pulsierende Radioquelle entdeckt hatte, erntete vor allem ihr Doktorvater Ruhm und Ehre. Die Forschung von Rosalind Franklin zur Entschlüsselung der DNA wurde von den späteren Nobelpreisträgern Watson, Wilkins und Crick gestohlen. Ihre Familie und ihr Freundeskreis gehen davon aus, dass sie von dem Betrug an ihren Forschungen wenig bis nichts mitbekommen hat. Bis auf den Zwischenfall, bei dem sie Watson in ihrem Labor auf frischer Tat erwischt hatte, fand der weitere Datendiebstahl hinter ihrem Rücken und damit von ihr unbemerkt statt. Der Betrug wurde nur bekannt, weil Watson in einer Autobiografie offen damit prahlte. Zu diesem Zeitpunkt war Franklin bereits zehn Jahre tot. Konsequenzen aus dem Betrug gab es nicht. Rosalind Franklin war zum Zeitpunkt der Auszeichnung ihrer männlichen Kollegen bereits verstorben (posthum wird ein Nobelpreis nicht verliehen).
Die junge Schriftstellerin Elisabeth Hauptmann war ab 1925 beim Verleger Gustav Kiepenheuer als Assistentin von Bertolt Brecht angestellt. Sie machte ihn auf ein britisches Schauspiel aufmerksam, das er schließlich als Vorbild für sein Theaterstück "Die Dreigroschenoper" nahm. Hauptmann übersetzte das Stück ins Deutsche und war maßgeblich an der Entwicklung beteiligt: Beide arbeiteten bis zur finalen Fassung gemeinsam an den Manuskripten. Der amerikanische Germanist John Fuegi schrieb in seinem Buch "Brecht und Co." (1994) sogar, dass die "Dreigroschenoper" zu 80 Prozent das Werk von Hauptmann gewesen sei. Der Germanist Werner Mittenzwei bemerkte 1987: "Wenn das Werk auch durch verschiedene Faktoren zu einem Erfolg wurde, der eigentliche Erfolgsmanager war sie." In heutigen Ausgaben der "Dreigroschenoper" findet sich allerdings nur der Namen Bertolt Brecht. Hauptmann wirkte wie Margarete Steffin, Ruth Berlau und weitere Frauen auch an zahlreichen anderen Werken von Brecht mit.
Die Chemikerin Clara Immerwahr schloss zwar ihr Studium ab, konnte dann aber nicht als Wissenschaftlerin Fuß fassen, da sie in die Rolle der Ehefrau und Mutter gedrängt wurde. Die Physikerin Mileva Marić arbeitete zwar während des Studiums eng mit ihrem Mann Albert Einstein zusammen, doch auch für sie stellten Ehe und Mutterschaft eine Zäsur dar: Aus einer „Zusammen- wurde eine Zuarbeit innerhalb der Ehe“. Eleanor Marx, die Tochter von Karl Marx konnte sich ihr ganzes Leben lang kaum vom Vater emanzipieren, weil sie zuerst als eine Art Sekretärin und später als Nachlassverwalterin tätig war (ohne Bezahlung).
Als 1919 das Staatliche Bauhaus in Weimar gegründet wurde, bewarben sich mehr junge Frauen als Männer um die Studienplätze. Allerdings wurden sie von Gropius und den meisten der lehrenden und mitstudierenden Männer kritisch betrachtet und bei der Entfaltung ihres Könnens und ihrer Talente behindert, indem sie beispielsweise in die „Frauenklasse“, die Weberei, abgedrängt wurden. Dennoch erkämpften sie sich rasch sämtliche Fachbereiche, die bislang von Männern besetzt wurden. Dazu gehörte neben der Bildhauerei, dem Industriedesign oder der Architektur auch die Fotografie als junges und experimentelles Medium. Neue archivarische Funde komplettieren darüber hinaus das Bild der wenigen prominenten Bauhaus-Frauen wie Florence Henri und Lucia Moholy, die (nach der Machtübernahme der Nazis aus Deutschland geflohen) ihr Archiv mit 650 Glasnegativen ihrer berühmten Architektur-, Objekt- und Porträtaufnahmen Gropius anvertraut hatte und später nur auf juristischem Wege ihr Urheberinnen- und Eigentumsrecht geltend machen konnte.
Die einzige Frau, die Picasso „überlebte“
Die Malerin, Grafikerin und Schriftstellerin Françoise Gilot, die im Juni 2023 101-jährig in New York City starb, lernte im Mai 1943 den vierzig Jahre älteren Pablo Picasso kennen und wurde kurz darauf seine Geliebte und Lebensgefährtin. Jeder kennt das Foto, auf dem Picasso schützend einen Sonnenschirm über sie hält. Zusammen hatten sie zwei Kinder: Claude und Paloma. Das berühmte Malergenie hatte weiterhin zahllose Affären und tyrannisierte die Familie mit seinem Egozentrismus und Sadismus. "Niemand verlässt einen Mann, wie mich", soll er im Streit gesagt haben. Doch sie verließ ihn nach zehn Jahren: 1953 packte die begabte Malerin, die niemals in seinem Schatten stand, ihre Koffer, und die gemeinsamen Kinder mit und ging ihren eigenen Weg: "Ohne die Malerei gäbe es mich überhaupt nicht. Es spielt gar keine Rolle, ob meine Bilder gut oder schlecht sind, ob ich als Künstlerin Erfolg habe. Ich brauche die Malerei wie andere Leute Essen und Trinken." Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen internationalen Galerien und Museen ausgestellt sowie mit Preisen und Ehrungen ausgezeichnet.
Als die berühmte Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach mit 80 Jahren einen Preis für Autorinnen stiftete, ging sie zwar nicht auf die Barrikaden, ist aber dennoch eine Feministin der ersten Stunde, die sich auch der Macht der Sprache stets bewusst war. So lautet ihr wohl berühmtester Aphorismus: „Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde – alle dummen Männer.“ Von ihr lässt sich lernen, dass es nicht reicht, sich immer nur zu beschweren. Wer Veränderungen will, muss sich auch aktiv engagieren.
Das Buch:
- Leonie Schöler: Beklaute Frauen. Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte. Verlag: Penguin, München 2024.
Weiterführende Informationen:
- Eine traurige Wahrheit: Der lange Weg zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern
- Frauen, Macht, Karriere: Was wir von den Bauhausmädels lernen können
- Hochstapelei im Spiegel der Gesellschaft
- Schritte zur Freiheit: Wie die Künstlerin Françoise Gilot auf die Welt reagiert
- Gabriele Fischer: Diven-Dämmerung. In brand eins 3/2007, S. 57-64.
- Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
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