Architektur, Stadtplanung und gutes Design: Warum wir ein gemeinsames „Anderswerden“ brauchen
Kreislaufwirtschaft braucht ganzheitliches Denken
Immer mehr Unternehmen richten ihre Geschäftspraktiken an den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft aus. Einzelmaßnahmen wie Recycling, Energieeffizienz und die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien oder Materialien genügen allerdings nicht, um die Transformation zur Kreislaufwirtschaft nachhaltig umzusetzen. Es bedarf ganzheitlicher Konzepte. Vor allem erfordern die hohen Umweltauswirkungen des Bausektors nachhaltige Lösungen: Die Baubranche und der Betrieb von Gebäuden verursachen 36 Prozent des globalen Energieverbrauchs sowie 39 Prozent der energiebezogenen CO₂-Emissionen. Es werden natürliche Ressourcen verschlungen, Abfall produziert und die Klimakrise angeheizt. Durch Bau- und Abbruchabfälle trägt der Baubereich zu ca. 60% des Abfallaufkommens in Deutschland bei. Die Stahlindustrie ist derzeit für etwa 7 % der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Stahl ist jedoch ein wesentlicher Werkstoff für eine Vielzahl von Bau- und Industrieprodukten. Daher ist die Verringerung der Emissionen auch in der Stahlindustrie eine globale Klimapriorität. Es braucht ein ganzheitliches Umdenken. Dazu gehören die Wiederverwertung von Bauteilen statt Entsorgung, Sanierung statt Abriss, Etagenaufstockung statt neue Flächenversiegelung, nachwachsende Rohstoffe statt Beton.
Im Brüsseler Vorort Anderlecht werden Materialien und Bauteile, die aus abbruchreifen Gebäuden stammen, gerettet und zur Wiederverwertung aufbereitet. Dahinter steckt Rotor Deconstruction (Rotor DC), das eigenständige Nebenprojekt von Rotor, einem gemeinnützigen Unternehmen, das hier ansässig ist. Ziel ist die nachhaltige Wiederverwendung von Bauteilen und die Förderung einer ressourceneffiziente Materialwirtschaft. Das Tochterunternehmen Rotor Deconstruction widmet sich vor allem dem Handel von geborgenen Baustoffen und außergewöhnlichen Objekten, die sich für faire Preise auf ihrer Webseite erwerben lassen (z.B. Massivholztüren aus dem historischen Rathaus in Antwerpen, Keramik- und Marmorfliesen aus dem 1952 erbauten Bahnhof Brüssel-Nord, handgefertigte Lampen der in den 1960er und 70er Jahre bekannten belgischen Glasfabrik Manuverbel). 2018 erhält Rotor für sein Engagement den Schelling Architekturpreis, der zukunftsweisende Entwicklungen in der Architektur sowie prägnante Leistungen in der Architekturtheorie würdigt. Bereits seit Jahrtausenden wurden alte Gebäude abgetragen, um deren Materialien für neue Bauten zu nutzen. Der Hamburger Architekt Justus Asselmeyer berücksichtigt schon in der Planungsphase Demontage- und Wiederverwendungsoptionen. Er entwickelte die Identitätsarchitektur mit dem Ziel einer nachhaltigen Architektur, die den Menschen und seine Beziehung zur Umwelt in den Mittelpunkt stellt. Die Identität einer Stadt oder eines Stadtteils wird dabei in die architektonische Planung einbezogen. Durch eine vielfältige Nutzung der Räumlichkeiten wird zugleich auch eine lebendige Nachbarschaft gefördert.
Vorteile der Wiederverwendung von Baustoffen:
- Reduzierung von Abbruchabfällen
- Hebung von Reserven des Wohnraums in Altbauten
- Ergänzung der Bemühungen im Bereich der Denkmalpflege
- Erhalt der im Gebäude verbaute grauen Energie
- höherer Immobilienwert
- positiver Beitrag zum Klimaschutz
- Kosteneinsparungen
- Förderung der Lebensqualität
- geringere Leerstandsquoten
- Unabhängigkeit von schwer durchschaubaren Lieferketten und Abbausituationen.
- weniger Material- und Flächenverbrauch als Neubau
- Vermeidung von klimaschädlichem Neubau
- Verlängerung der Ressourceneffizienz
- Siedlungen werden zu bunten und durchmischten Quartieren
- Vermeidung der Versiegelung von Böden
- Schaffung von mehr Wohnraum durch Umbau (Suffizienz).
Immer wird davongesprochen, dass die Aufgabe der Architektur zukünftig nicht mehr im Neubau, sondern im Um- und Weiterbau liege.
„Umbauen statt neu bauen“ heißt die Devise. Damit verbunden ist zwar weniger Wohnfläche, aber dafür mehr Klimaschutz. So stellt sich Architekt und Designprofessor Friedrich von Borries die Zukunft vor. In seinem aktuellen Buch "Architektur im Anthropozän - Eine spekulative Archäologie"“ nimmt er die Perspektive zukünftiger Archäologen ein, die sich auf die Suche nach den charakteristischen Architekturen der Gegenwart machen. Aussagekräftige Objekte finden sie vor allem an den Rändern der Städte: „Müllverbrennungsanlagen und Serverparks, mehrstöckige Schweineställe und Saatgut-Tresore verraten mehr über unsere zerstörerische Produktions- und Lebensweise als repräsentative Bauten in den Zentren.“ Wir leben in einer Epoche der Weltgeschichte, in der wir Menschen die geologischen Zusammenhänge für die Zukunft kausal bestimmen. Unsere Eingriffe hinterlassen über viele Generationen hinweg eine Veränderung in der geo-ökologischen Zusammensetzung der Erde. Sie sind so tiefgreifend, dass sie die Natur des Planeten radikal verändert. Im Jahre 2000 prägte der niederländische Chemiker und Atmosphärenforscher Paul Crutzen dafür den Begriff Anthropozän. Er beschreibt die Menschen als Verursacher der Naturzerstörung, verlangt von ihnen aber auch eine neue Qualität von Verantwortung. Das Fazit von Friedrich von Borries: „Wer übermorgen unseren Umgang mit dem Klimawandel verstehen will, wird sich mit Technofossilien zu befassen haben: mit den Überbleibseln unserer gebauten Umwelt.“ Von Borries, selbst Architekt, denkt in gesamtstädtischen, baulichen Dimensionen. Sein Büro ist seit vielen Jahren in städtebauliche Planungs- und Beratungsprojekte eingebunden. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht das Verhältnis von Gestaltung und gesellschaftlicher Entwicklung. Als Wissenschaftler versucht er, die Welt zu verstehen. Als Gestalter versucht er, sie zu verändern. Deshalb setzt er sich forschend und entwerfend mit politischen Fragen auseinander, die unsere Gegenwart und Zukunft bestimmen.
Die aktuellen Probleme sind für ihn auch negative Folgen der heutigen „Wegwerfgesellschaft": Umweltverschmutzung, voranschreitender Klimawandel, Ressourcenknappheit, Rückgang der Biodiversität, sozialer Zerfall, zunehmende Gleichgültigkeit und Ohnmacht („Das bringt ja eh alles nichts.“). Damit verbunden ist auch „Folgenlosigkeit“ im Sinne eines Ohnmachtsgefühls. Diesen Begriff möchte von Borries neu und positiv besetzten und mit Begriffen wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit verbinden - unerreichbar aber dennoch erstrebenswert. Er plädiert für ein Leben, das möglichst wenig negative Folgen hat, und in dem nicht das eigene Ich im Vordergrund steht. Allerdings müssen die Folgen der Vergangenheit zurückgebaut werden, wenn Städte nachhaltig werden sollen. Um das Leben in ihnen lebenswert zu erhalten, müssen wir unsere Art des Wohnens verändern. Damit verbunden sind folgende Fragen: Welche Rolle spielt der Klimawandel bei der Stadtplanung und beim Bauen? Was sind die Grundzüge des Seins im 21. Jahrhundert? Was sagt das Wohnen über uns und unsere Gesellschaft aus? Wie wird sich das Wohnen in Zukunft verändern? In seinem Buch zeigt er Beispiele aus Architektur, Stadtplanung, Kunst und Design, wo Aspekte dieser Zukunft schon heute erprobt werden, wo die Vision von Stadt und Natur schon teilweise Realität ist.
Ideen und Ansätze für eine Stadt der Zukunft
- Schutz und Förderung der Artenvielfalt
- Begrünung der Städte
- Planung und Umsetzung von Bauprojekten sollten auf die Circular Economy ausgerichtet werden (ganzheitliche Betrachtung des gesamten Lebenszyklus‘ eines Gebäudes=
- Gewährleistung eines besseren Zugangs zu Grünflächen (z.B. durch Building with Nature, Living Building Challenge und WELL Building Standard®)
- naturbasierte Lösungen (größere Resilienz gegenüber dem Klimawandel)
- nachhaltige Neunutzung von wichtigen Bauwerken und Stadtflächen im Einklang mit ihrer Identität gewährleisten
- Spezifische Raumplanung von Schwammstädten (verbessert beispielsweise die Wasseraufnahme und beugt Überschwemmungen in städtischen Gebieten vor).
- Urban Mining: Rückgewinnung von Baustoffen aus der gebauten Umwelt.
- Zusammenarbeit von Unternehmen und Kommunen bei der Entwicklung identitätsarchitektonischer Konzepte.
Wohnen ist die Weise, in der wir uns in der Welt befinden und der Versuch zu leben, ohne sich zu verlieren.
Im althochdeutschen „wonên“ klingen neben „Liebe“ auch „zufrieden sein“ und „bleiben“ mit. Doch das Wohnen ist heute auch zu einer sozialen und ökologischen Frage geworden. Immer mehr Menschen ziehen weltweit in die Städte. Laut United Nations werden im Jahr 2050 nur noch ein Drittel aller Menschen in ländlichen Gebieten wohnen und zwei Drittel in Städten. In Deutschland wohnen heute fast 80 Prozent der Menschen in Städten, in Belgien sind es bereits 98 Prozent. Allerdings können sich immer weniger Menschen den teuren Wohnraum in der Stadt leisten. Es braucht deshalb eine gebaute Umwelt, die nicht nur ökologisch verträglich, sondern auch sozial inklusiv und wirtschaftlich nachhaltig ist. Darauf sollten sich Gestalterinnen und Gestalter konzentrieren. Sie sollten keine machtlosen Unterwerfenden sein, sondern Emanzipierte, die das Leben in der Stadt selbst und neu gestalten (entwerfen) wollen. Der Designbetrieb darf kein „Hort des kreativen Größenwahns“ und kundenorientierter Dienstleistungen sein.
„Nachhaltiges Design bedeutet CO2-Neutralität für jedes Produkt und jede Dienstleistung“, sagt Prof. Andreas Mühlenberend, Professor für Industriedesign an der Bauhaus-Universität Weimar. Er verbindet mit Nachhaltigkeit den Wunsch, den daraus entstehenden Fragen mit den Denk- und Handlungsmöglichkeiten des Designs zu begegnen (Assoziieren, Konzeptionieren, Entwerfen, Modellieren usw.). Der Designbegriff von Friedrich von Borries berührt alle Sphären des Lebens: Das Entwerfen ist für ihn ein konstituierender Teil des Menschseins. Vorbild ist dabei Graphiker Otl Aicher. In seiner Textsammlung „die welt als entwurf“ (1991) fordert er, dass im Entwurf der Mensch das werde, was er sei. Sprache und Wahrnehmung hätten auch Tiere (aber sie würden nicht entwerfen). Auch der Philosoph Martin Heideggers spielt für von Borries eine wichtige Rolle: Er entwickelte einen eigenen Entwurfsbegriff in „Sein und Zeit“, „Der Ursprung des Kunstwerks“ sowie „Bauen Wohnen Denken“. Aus der Geworfenheit des Menschen in die Welt folgt die Unterworfenheit des Menschen unter die Bedingungen dieser Welt. Die Möglichkeit zur Emanzipation von diesen Bedingungen liegt im Entwerfen. „Als Entwerfen bezeichnen Gestalterinnen, also Architektinnen, Designer*innen, aber auch Städtebauer wie Sisyphos ihre Tätigkeit. Die Welt nach menschlichen Vorstellungen zu gestalten, sich aus der Unterworfenheit unter natürliche Bedingungen zu befreien – das ist Entwerfen.“
Life-Centered Design (LCD) soll dazu anregen, zu überdenken, was gutes Design bedeutet. Als Weiterentwicklung des Human-Centered Designs verfolgt dieser ganzheitliche Gestaltungsansatz das Ziel, Räume zu entwerfen, bei denen Menschen und Natur die gleiche Priorität haben. Dieser Designansatz „setzt sich für biologische Ökosysteme und Nichtnutzergemeinschaften ein, die im Designprozess nie eine Stimme hatten. Das langfristige Ziel ist die Wiederherstellung natürlicher Ökosysteme durch die Schaffung neuer Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft.“ (Jeroen Spoelstra, 2022) Life-Centered Design-Projekte im Städtebau berücksichtigen die Beziehungen zwischen den Innenräumen und ihren Gebäuden, den Gebäuden und ihren Standorten, den Standorten und ihrer Umgebung – und auch, wie jedes dieser Elemente zur Gesundheit der gesamten Stadtstruktur und darüber hinaus beiträgt.
Weitere Ansätze im Überblick:
Biodiversity Net Gain (BNG): Der Nettogewinn an Biodiversität ist eine Methode zur Schaffung und Verbesserung natürlicher Lebensräume. BNG stellt sicher, dass die Entwicklung im Vergleich zum Zustand vor der Entwicklung einen messbar positiven Einfluss („Nettogewinn“) auf die Biodiversität hat.
Biomimetik: Methode, die von den Strategien lebender Organismen lernt und diese nachahmt, um Herausforderungen zu lösen, die mit denen vergleichbar sind, denen wir als Individuen und Gesellschaften gegenüberstehen. Das Ziel besteht darin, Produkte, Prozesse und Systeme zu schaffen, die unsere größten Designherausforderungen nachhaltig und im Einklang mit allem Leben auf der Erde lösen. Die 3 wesentlichen Elemente der Biomimetik: EMULATION - ETHISCHER RAHMEN - (WIEDER)VERBINDUNG.
City Biodiversity Index (CBI): Der CBI – auch bekannt als Singapore Index on Cities' Biodiversity (SI) – ist ein Selbstbewertungstool für Städte, mit dem sie den Fortschritt ihrer Bemühungen zum Schutz der Artenvielfalt anhand ihrer eigenen individuellen Ausgangswerte bewerten und überwachen können. Basierend auf dem ursprünglichen Handbuch wurde das Tool von CitiesWithNature digitalisiert, um Städte bei der Überwachung und Berichterstattung über Artenvielfalt und Natur zu unterstützen und zu unterstützen.
Human-Centered Design (HCD): Dieser Ansatz zur Problemlösung wird häufig in Prozess-, Produkt-, Service- und Systemdesign, Management und Engineering-Frameworks verwendet, indem die menschliche Perspektive in alle Schritte des Problemlösungsprozesses einbezogen wird. Die menschliche Beteiligung erfolgt bei der anfänglichen Betrachtung des Problems im Kontext, beim Brainstorming, der Konzeptualisierung, der Entwicklung von Konzepten und der Implementierung der Lösung.
Urban Greening Factor (UGF): Planungsinstrument zur Verbesserung der Bereitstellung von grüner Infrastruktur (GI) insbesondere in städtischen Gebieten. Er ist freiwillig und kann verwendet werden, um die städtische Begrünung zu erhöhen und zum Nettogewinn an Biodiversität beizutragen.
Das Buch:
- Friedrich von Borries: Architektur im Anthropozän. Eine spekulative Archäologie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
Weiterführende Informationen:
- Life-Centered Design. Eine Welt gestalten, in der sich alles Leben entfalten kann
- Wohnungsmangel, Klimakrise, alternde Gesellschaft: Wie die Dreifachkrise bei Bauen und Wohnen gemeistert werden kann
- Weniger haben, mehr sein: Raumgestaltung und Nachhaltigkeit
- Grundrecht Wohnen: Die große soziale Frage unserer Zeit
- Industriedesign und Nachhaltigkeit an der Bauhaus-Universität Weimar: Interview mit Prof. Andreas Mühlenberend
- Circular Economy: Wohin mit unserem Elektroschrott?
- Warum wir jetzt eine radikale Bauwende brauchen
- Blau-grüne Infrastrukturen: Strategische Planungsansätze zur Klimawandel-Anpassung
- „Fire-Fighters aller Länder, dämmt die Brände ein!“
- Daniel Fuhrhop: Der unsichtbare Wohnraum. Wohnsuffizienz als Antwort auf Wohnraummangel, Klimakrise und Einsamkeit. Transcript Verlag, Bielefeld 2023.
- Daniel Fuhrhop: Einfach anders wohnen. 66 Raumwunder für ein entspanntes Zuhause, lebendige Nachbarschaft und grüne Städte. Oekom Verlag 2018.
- Klimaneutralität in der Industrie. Aktuelle Entwicklungen – Praxisberichte – Handlungsempfehlungen. Hg. von Ulrike Böhm, Alexandra Hildebrandt, Stefanie Kästle. Springer Gabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2023.
- Peter Sloterdijk: Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
- Zukunft Stadt: Die globale und lokale Bedeutung von SDG 11. Wie die sozialökologische Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft gelingen kann. Handlungsempfehlungen – Chancen – Entwicklungen. Hg. von Alexandra Hildebrandt, Matthias Krieger und Peter Bachmann. SpringerGabler. Berlin, Heidelberg 2025.
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