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Sehenden Auges in die Krise: Kein Geld für Bildung - der größtmögliche Egoismus einer Gesellschaft. - Getty Images

Auf Kollisionskurs mit der Zukunft: Weshalb die Bildungskatastrophe ein gesellschaftlicher Skandal ist

Die „amtierende“ Generation, die in Amt, Würde und Verantwortung steht, verteidigt ihre Interessen bis zum wohl bitteren Ende. Energie, Sicherheit, Bildung – unseren Kindern und Enkeln wird buchstäblich die Zukunft unter den Füßen weggezogen.

Neben all den Krisen der vergangenen Monate und Jahre – und es gab bekanntermaßen viele – ist diese vielleicht die am wenigsten beachtete und zugleich der vielleicht größte politische Skandal: Es existiert ein dramatischer Mangel an Lehrkräften. Und es kommt noch schlimmer: Dieser Mangel wird sich in den nächsten zehn Jahren weiter erhöhen, und es gibt kaum etwas, was kurzfristig getan werden könnte, um diese Bildungskatastrophe noch abzuwenden.

Es ist wie in dem Film „Titanic“, als der Kapitän nach der Kollision mit dem Eisberg sagt: „Egal, was wir ab jetzt noch tun: Die Titanic wird untergehen.“ Kein Geld für Bildung der nächsten Generation zu haben ist für eine Gesellschaft nichts anderes, als auf Kollisionskurs mit der Zukunft zu sein. Und es ist der größtmögliche Egoismus einer Gesellschaft, deren einzig verbliebene Ambition darin besteht, gut durch Krisen zu kommen.

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Hat es Gründe, dass wir in diese Situation geraten sind? Ja. Ist allein die Politik schuld? Nein. Es ist eine krude Mischung aus Besitzstandswahrung und Technologiefeindlichkeit, die uns dorthin geführt hat. Automatisierung und der Einsatz digitaler Innovationen wird bis heute mit dem Hinweis auf ungeklärte ethische Fragen und arbeitsmarktpolitische Folgen – obwohl es technologische Arbeitslosigkeit nie dauerhaft gegeben hat, wohl aber einen enormen Wohlfahrtseffekt – verteufelt. Dabei könnte Technologie uns heute helfen, mit den vielfältig entstehenden Angebotsengpässen besser umzugehen. Das galt für die Pandemie ebenso wie es heute für die Energiewende oder eben den Lehrkräftemangel gilt.

Der zweite Grund ist die Demografie: Besitzstandswahrung betont den Konsum gegenüber den Investitionen, den Status quo gegenüber dem Fortschritt, die Gegenwart gegenüber der Zukunft. Das Problem ist die mittlere Generation. Die „amtierende“ Generation, die in Amt, Würde und Verantwortung steht, verteidigt ihre Interessen bis zum wohl bitteren Ende: Jetzt bloß nicht den über lange Zeit aufgebauten, hart erarbeiteten und wohlverdienten Wohlstand gefährden. Und koste es jenen der nächsten Generation.

Viele kennen es aus eigener Erfahrung und Erinnerung: Wenn Kinder oder Jugendliche einen aufmunternden Rat und Beistand für mutige Entscheidungen suchen, gehen sie eher zu den Großeltern als zu den Eltern. Wenn heute Kinder nach ihrer Zukunft fragen, werden sie eher bei den Älteren Gehör und Verständnis finden.

Wenn Zukunft konsumiert wird

Zukunftsfähigkeit von Politik wird oft mit dem Begriff der „Enkelfähigkeit“ umschrieben. Was könnte diesen Begriff im negativen Sinne besser illustrieren als ein Lehrkräftemangel, der unseren Kindern und Enkeln buchstäblich die Zukunft unter den Füßen wegzieht. Ob Energie, Sicherheit oder Bildung – fast überall ist die Zukunft unserer Kinder und Enkel wegkonsumiert worden.

Der nächsten Generation die Zukunft zu stehlen ist darüber hinaus zutiefst unsozial. Wer in Krisen den Mangel nur umverteilt, statt echten Fortschritt zu befördern, vergrößert die Ungleichheit strukturell, zehrt die Substanz auf und verteidigt den Status quo, bis dieser in sich zusammenfällt. In fast allen wichtigen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft sind wir heute unterinvestiert. Es gibt keine Resilienz im dauerhaften Mangel, keine Nachhaltigkeit in andauernden Krisen.

Das fatale Wunschdenken

Wunschdenken ist der Feind des Fortschritts. In der Politik gibt es viel davon. Die ökonomische Rationalität verhält sich diametral zur menschlichen Psychologie und zur politischen Logik: Gerade das, was lange dauert, muss man so früh wie möglich beginnen. Es ist geradezu paradox, dass heute so viel über Resilienz und Nachhaltigkeit gesprochen wird, aber ausgerechnet an Bildung, die der wichtigste Schlüssel für Zukunftsfähigkeit ist, überall gespart wird.

Innovationen sollen in der Zukunft unsere Probleme lösen. Aber Geld für die MINT-Ausbildung von Kindern gibt es nicht. Energiepreise sollen gedeckelt werden. Aber Genehmigungen für Windräder brauchen zehn Jahre. Die politischen Ziele haben sich von den ökonomischen Realitäten gefährlich entkoppelt. Die Welt existiert nur noch als Wille und Vorstellung. Und so verwundert es nicht, dass uns heute eine Krise nach der anderen ereilt. Mehr praktische Vernunft, politischer Pragmatismus und ökonomische Rationalität sind in Zeiten, in denen wir neu und radikal über Zukunft nachdenken müssen, zwar unspektakulär, aber gerade deshalb unerlässlich. Auf Wunder zu hoffen ist keine Strategie.

Kommentare

Prof. Dr. Henning Vöpel schreibt über Weltwirtschaft, Digitalökonomie

Professor für Volkswirtschaftslehre an der BSP Business and Law School sowie Direktor des Centrum für Europäische Politik in Berlin, Rom und Paris, Podcaster zur Digitalisierung und internationaler Keynote-Speaker, Forschung zu Globalisierung und Transformation.

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