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Begreifen, was uns ergreift: über die Liebe zum Notizbuch

Viele Dinge des Alltags haben heute keinen sichtbaren „Meister“ mehr. Kluge Dinge, deren Herkunft bekannt ist und die ihre Geschichte und Machart zeigen, sind deshalb umso wertvoller. Zu ihnen gehören auch Notizbücher, die im Zeitalter der Digitalisierung für viele Menschen nach wie vor wichtige Begleiter und Gedankenstützen geblieben sind.

„An schönen Notizbüchern komme ich nicht vorbei – ich habe sogar eine kleine Sammlung zu Hause. Manch einer mag es in Zeiten von Handy und Tablet seltsam finden, aber ich trage immer ein kleines Notizbuch bei mir, um Dinge festzuhalten, die ich nicht vergessen darf oder will“, sagt Claudia Silber, Leiterin der Unternehmenskommunikation beim Öko-Versender memo AG. Anders als das Smartphone kann ein Notizbuch weder abstürzen oder Viren bekommen. Und es schärft unser Denken, denn alles, was Strukturierung braucht, sollte erst einmal handschriftlich aufgeschrieben werden, weil es sich dann besser merken lässt.

Zudem fühlen sich handschriftliche Notizen in Notizbüchern wertiger an als andere Notizen. Der optische und physische Rahmen verleiht den eigenen Gedanken scheinbar „mehr Gewicht“, sagt Christian Mähler. Von Beruf ist er Informatiker und arbeitet als Entwicklungsleiter in einer Softwarefirma. Er gestaltet so direkt die Digitalisierung des Lebens mit und bloggt gleichzeitig privat seit 2009 über die analoge Welt. Sein Notizbuchblog ist zu einem der wichtigsten Blogs über Notizbücher geworden. Hier ist die digitale und analoge Welt auf nachhaltige und schönste Weise verbunden.

Mit 23 Jahren begann der Lyriker, Philosoph und Essayist Paul Valéry in seiner Studentenzeit damit, sich täglich in den frühen Morgenstunden an den Schreibtisch zu setzen und in Schulheften seine Gedanken zu notieren. Mehr als fünfzig Jahre lang. Bei den „Cahiers“ handelt es sich nicht um Bilanzen und Tagebucheinträge, sondern Hervorbringungen, die sich der Gymnastik des Denkens, den Akten und Übungen des Geistes, verdanken. Es war eine Erleichterung für ihn, sich täglich vor diesen Heften einzufinden. Dabei dachte er an das, was ihm gerade einfiel („und nicht an das, woran man für die andern denken muß“). Sein philosophisch-literarisches Ziel war es, die unterschiedlichen Ordnungen zu zeigen, die sich gegenseitig fordern und fördern und die Komplexität des Menschen ausmachen. Eine enorme Geduldsarbeit, ausgeführt von einem Unruhegeist. Es war ihm zuwider, in seinen täglichen Aufzeichnungen Anekdoten wiederzugeben. Wie im Reden so wollte er auch im Schreiben eine ständige Erneuerung. Notiert werden sollte immer nur das, was ihn selbst etwas gelehrt hat.

Das, was sie unterwegs finden, legen sie am liebsten in ihren Notizbüchern ab. Der Publizist Roger Willemsen notierte in seinem Notizbuch immer, was er für das Flüchtigste hielt: „Ein Einfall, eine Beobachtung, eine Metapher, der Teil eines Satzes, den ich vom Nachbartisch aufschnappe. Es gibt vieles, von dem ich glaube, dass man es nicht einfach aus dem Spontan-Gedächtnis befreien kann, sondern dass man es sammeln muss. Ich bin in dieser Hinsicht auch Dokumentarist. Ich schreibe in meine Kladden sehr viel, was ich dann niemals brauche.“ Maßlos las er Aufzeichnungen, Notizbücher, liebte Tagebücher und las in Paul Valérys Heften.

Der internationale Marketingexperte Tim Leberecht verbindet mit Notizbüchern im modernen Nomadentum fern der Heimat auch einen emotionalen Anker, während sie gleichzeitig ein handhabbares Mittel der Neugier, „der Entdeckungen und der Erkundungen darstellen“. Moleskine-Notizbücher sind für ihn demokratische Vehikel der Selbstdarstellung und zugleich handgefertigte Objekte, die als konkrete, schlichte Gefäße unseres komplexen Lebens dienen. Aber auch ein narrativer Kompass „voller Kontext (in jedem Buch steckt ein Zettel, der Moleskines Geschichte in Erinnerung ruft) und doch völlig offen für etwas Neues.“

Die studierte Soziologin und Endsechzigerin segelte 1995 mit Freunden vor der tunesischen Küste. Einer handelte mit T-Shirts und Geschenkartikeln in Mailand, träumte vom geschäftlichen Erfolg und bat sie um eine Idee. An Deck las Maria Bruce Chatwins "Traumpfade". Sie blieb immer wieder an jener Stelle hängen, an der er klagt, dass ihm seine Kladden fehlen. Er kaufte sie in der Pariser Rue de l'Ancienne Comédie, doch dann starb der einzige Lieferant aus Tours. Dann las sie: "Meinen Pass zu verlieren war das Geringste aller Übel - ein Notizbuch zu verlieren eine Katastrophe". Seine Geschichten sind phantastisch, dachte sie sich, denn sie klingen nach Fernweh und Sehnsucht. Um ihre eigene Geschichte daraus zu machen, passte dieses Notizheft. Sie betrachtete alte Skizzenbücher von Matisse und Picasso und Fotos, auf denen Ernest Hemingways Notizbücher abgebildet waren. Alle sahen sehr ähnlich aus: klein und schwarz. Damals verfasste sie das Faltblatt, das heute jedem „Moleskine“ (Maulwurfsfell) beiliegt: Es erzählt von großen Künstlern, die alle das legendäre Notizbuch benutzten. 1997 wurde das Unternehmen Moleskine gegründet, das seit April 2013 auch an der Mailänder Börse ist. Das Notizbuch wird seitdem als „ein dinghaftes Reservoir des Kunstvollen und Verspielten“ (Tim Leberecht) vermarktet.

Wenn es darum geht, sich ein Notizbuch zuzulegen, sind die Moleskine-Varianten (hergestellt in China) heute für viele Menschen Standard. Doch immer mehr legen Wert darauf, dass eine Geschichte nicht nur gut und entsprechend vermarket ist, sondern auch Aspekte der Nachhaltigkeit berücksichtigt, die ästhetischen Ansprüchen und Qualitätsmerkmalen gleichermaßen entsprechen. Ein paar Beispiele: Die Mitglieder der AG Zukunft produzieren ausschließlich und umweltbewusst in Deutschland und Italien. Brunnen & Eilers Promotion setzt als FSC-zertifiziertes Unternehmen verstärkt auf die Nachhaltigkeitskarte und bietet auf Wunsch des Kunden auch via CO2-Kompensation eine klimaneutrale Herstellung an. Auch die Smart Sized Papers werden nachhaltig in regionalen Buchbindereien gefertigt und bestehen aus Recyclingpapier. Die Idee entstand, als das iPad des Entwicklers zwischen DIN A4 Blöcken herausrutschte und auf den Boden fiel. So wurden Notizbücher entwickelt, die genau die Größe von Smartphones, Tablets und Laptops haben.

Erhältlich sind nachhaltige Notizbücher in verschiedenen Ausstattungen, Größen und Farben auch in Öko-Onlineshops wie memolife. Viele tragen das Umweltzeichen Blauer Engel. Die "Ursus Green"-Serie wurde klimaneutral produziert: Durch den Einsatz von umweltschonenden Rohstoffen wie CO2-neutralem Schreibpapier wurden die CO2-Emissionen deutlich reduziert. Die verbleibenden Emissionen werden vom Hersteller durch Investitionen in anerkannte Klimaschutzprojekte ausgeglichen. Immer beliebter werden auch Notizbücher aus Graspapier, das nur ein Zehntel der Energie im Vergleich zu holzbasiertem Papier benötigt. Das junge Medienunternehmen Matabooks stellt Printprodukte, darunter auch Notizbücher, auf besonders nachhaltige, faire und innovative Weise her. Der Firmenname ist vom Wort "Mutter" aus der indischen Ursprache Sanskrit abgeleitet und vermittelt den Respekt gegenüber "Mutter Natur". Alle Produkte sind frei von tierischen Bestandteilen wie Knochenmehl im Buchbinderleim oder tierische Farbstoffe in der Druckfarbe. Die Veredelungsverfahren werden ebenfalls unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit ausgewählt. Die Umschläge werden von jungen Künstlern gestaltet, und ein Teil der Erlöse wird in soziale Projekte investiert.

An einem kleinen, für viele nebensächlichen Thema wie dem Notizbuch zeigen sich vor diesem Hintergrund die vielen Seiten der Nachhaltigkeit, die wir einzeln lesen sollten, um ganzheitlich zu verstehen.

  • Merkwürdig! Über das Bloggen und wie Notizbücher im Onlinezeitalter unser Handeln beeinflussen

  • Nachhaltige Alternativen zur Welt der Massenprodukte

  • Erschöpfte Zukunft: Darum boomt Nostalgie in Krisenzeiten

  • Nachhaltigkeit begreifen: Was wir gegen die dummen Dinge im Zeitalter der Digitalisierung tun können. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. 2. Auflage. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2021.

  • Tim Leberecht: Business-Romantiker. Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben. Droemer Verlag München 2015.

  • Christian Mähler: Stift und Papier – analoge Multitalente. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. 2. Auflage. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2021.

  • Paul Valéry: Ich grase meine Gehirnwiese ab. Ausgewählt und mit einem Essay von Thomas Stölzel. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.

  • Insa Wilke (Hg.): Der leidenschaftliche Zeitgenosse. Zum Werk von Roger Willemsen. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015.

Kommentare

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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