Bergnatur: Respektieren statt konsumieren
Reinhold Messner war nie um Rekorde, Eroberungen und bergsteigerische Sensationen bemüht. Vielmehr ging es ihm immer um das Ausgesetztsein in möglichst unberührten Naturlandschaften. „Die Zukunft ist weit weg, die Vergangenheit vorbei, das Dasein ein Fest.“ So beschreibt er das Gefühl nach einem erfolgreichen Aufstieg. Dabei kommt es nicht darauf an, die höchsten Berge der Welt als Erster oder Schnellster zu erklimmen, sondern auf das In-Sich-Hineinhorchen, das Verschmelzen mit der Bergnatur, der er immer achtsam und ungefiltert begegnen wollte. Dem Fern-Sein des Kommunikationszeitalters setzte er sein Da-Sein als Fußgänger gegenüber und verzichtete auf Bohrhaken, Sauerstoffmasken und Satellitentelefon. Sein Motto: "Ausgetretene Pfade meiden!" Denn wo Spuren sind, ist auch die große Masse, die ihm immer fremd und höchst fragwürdig war.
Inzwischen sind die Alpen vollständig erschlossen, und kein Gipfel ist mehr unberührt geblieben. Bereits vor fünfzig Jahren stellte sich der Bergsteiger, Bergbauer, Autor und Filmemacher erstmals mit diesen Themen, die den Blick auf das Wesentliche freimachen. Seine aktualisierte Neuauflage „Zurück in die Berge“ legt davon Zeugnis ab. Geboren 1944 in Südtirol, wuchs Reinhold Messner als zweites von neun Lehrerkindern im Dolomitental Villnöss unter Bauern auf. Mit fünf Jahren bestieg er das erste Mal einen Dreitausender, mit 15 wurde er ein besessener Felskletterer, bald auch Eisgeher. Als er zwanzig Jahre alt war, hatte er bereits 500 Bergtouren hinter sich. Messner studierte Hoch- und Tiefbau, unterrichtete Mathematik. Es folgten die ersten Expeditionen. 1986 konnte er für sich in Anspruch nehmen, als erster Mensch alle 14 Achttausender bestiegen zu haben. In dem 90er-Jahren durchquerte er zu Fuß die Arktis, Grönland, Tibet und die Takla Makan. Nach einer Pakistan-Expedition behauptete er, dem legendären Schneewesen Yeti begegnet zu sein. Heute kämpft er für einen ökologisch nachhaltigen Umgang mit der Natur, bewirtschaftet Bergbauernhöfe und gestaltet an sechs Standorten das Messner Mountain Museum. Zudem widmet er sich nun als Autor, Regisseur und Produzent dem Bergfilm.
"Dieses Zurückerinnern in die Kindheit ist verbunden mit den Eltern, mit der größer werdenden Familie, mit Enge, mit Tieren und mit Wald. [...] Diese Enge war eine räumliche Enge, viel Emotionen auf engem Raum und wenig Platz für das Ego." Zur Enge gehörten neben dem Tal auch die vielen Hühner im Garten und der kleinen Wohnung, wo die Familie zu elft, manchmal zu zwölft, Platz finden musste. Messner fühlte sich zu Berglandschaften hingezogen, weil er der häuslichen und geographischen Enge entkommen wollte. Sie bildeten eine Gegenwelt zur gesellschaftlichen Realität. Der tiefe Eindruck, den Reinhold Messner als Kind unter den Geisler-Spitzen erlebte, hat ihn lebenslänglich geprägt: „Es war ein so überwältigender Eindruck, daß ich erschrocken und glücklich zugleich war. Da kann man nie hinaufsteigen, dachte ich."
Beim Anblick der Geisler-Spitzen erlebte Reinhold Messner so etwas wie die Unendlichkeit, die er damals weder als Begriff noch als mathematische Vorstellung kannte. Endlichkeit stand vor dem Tor seines Lebens und der Romantik. Daraus entsprang die unerfüllbare Sehnsucht einer ganzen Epoche, das Höhere, Unbekannte und Unendliche zu suchen. Damit hängt auch das ständige Hin- und Hergerissensein zwischen Aufbruch und Heimkehr, zwischen Nomadendasein und Sesshaftigkeit zusammen. Der romantische Geist ist keineswegs eine historische Angelegenheit, sondern noch immer höchst aktuell. So hat sich Reinhold Messner in seinem Buch „Nie zurück“ zum "Krankheitsbild" des romantischen Menschen bekannt: "Das 'Nie zurück' ist mein ewiger Konflikt. Das Gestern füllt mich nicht aus, und die Neugierde wächst dorthin, wo ich noch nicht war. Obwohl ich Angst habe vor dem nächsten Grenzgang, komme ich nicht davon los. Als gäbe es kein Zurück mehr."
Reinhold Messners Unterwegssein spiegelt seine Zerrissenheit zwischen draußen und drinnen, zwischen dem Leben und der "großen Arbeit". Er betrachtet die Natur wie die Romantiker, die auf Spinoza und seinen Pantheismus zurückgreifen, als Einheit. Auch er weigert sich, eine scharfe Trennung zwischen Gott, Natur und dem erkennenden Subjekt vorzunehmen. Messner ist davon überzeugt, dass die göttlichen Fähigkeiten im Detail und im Ganzen stecken. Beim Unterwegssein hat er häufig das Gefühl, alles zu wissen, Alles und Nichts zu sein, den Gott in sich zu finden. Er kann nur an etwas glauben, das er real nicht fassen kann. Alles, was sicht- und wahrnehmbar ist, hat für ihn mit Glauben nichts zu tun. Was unsere Seele befriedigt, nennt Messner "erhaben". Es kann - wie die Geisler-Spitzen und die gesamte Bergwelt - bewundert und bestaunt werden und ist eine Art Anerkennung des Jenseitigen, Nichterkannten und Nichtdurchschauten: Ehrfurcht vor dem Unaussprechlichen. Da wir aber ständig abgelenkt und sehr schnelllebig sind, ist uns das Erhabene, das wir respektieren müssen, abhandengekommen. In einem Gespräch mit Otto Schily zum Thema „Sind die Alpen noch zu retten?“ am 7. August 2002 bemerkte er dazu: "Gewiss können wir den Mount Everest per Hubschrauber besteigen - doch die Chance zur Begegnung mit dem Jenseitigen, dem Grenzwertigen, die wäre vertan."
Im Erhabenen hören Ordnung und Chaos auf, Gegensätze zu sein. Deshalb wird es von Reinhold Messner auch mit dem Motiv der Regeneration in Verbindung gesetzt. Die Hybris, die Grenze zum Erhabenen zu überschreiten, ist ein lebensgefährlicher Akt, der Tod bedeutet: "Es gibt Grenzen, die wir zu respektieren haben. Wer diese Grenzen überspringen will, spielt als Industrieller unter Umständen mit der Zerstörung der Umwelt, als Sportler nicht selten mit Drogen, als Grenzgänger mit dem Tod." Der Grenzgänger im Messnerschen Sinne ist jemand, der die Natur und das Erhabene in ihr weder bekämpfen, erobern oder dominieren will. "Abenteurer ist ein Wort, was ich nicht mehr so gern gebrauche. Heute wird das Abenteuer im Reisebüro verkauft. Mit Rückversicherung, Animation und Hotelzimmer inklusive. Abenteuer, das man organisiert, ist kein Abenteuer, deshalb nenne ich mich lieber einen Grenzgänger. Jemand, der versucht, an der Grenze des machbaren noch ein Stück weiter hinauszukommen und lebendig zurückzukehren."
Stößt er selbst an seine Grenzen, bekommt er Angst. Sie ist dabei ein Regulativ, ein Zaun, der ihm sagt: "Bis hier her und nicht weiter." In seiner "Passion für Limits" zeigt sich das Verhaltensmuster eines besessenen Menschen: "In der Freiheit, aufzubrechen, wie und wohin ich will, liegen Ohnmacht und Zwang gleichermaßen." Immer wieder startete er große Expeditionen in den Himalaya. So auch 1970. Mit dabei war auch sein Bruder Günther. Die Herrligkoffer-Expedition war gewissermaßen ihre Eintrittskarte in den Himalaya. Vermutlich hätten sie sich ohne diese Unterstützung eine solche Bergtour niemals leisten können. Die gemeinsame Expedition ohne Wärmeschutz, Seil und künstlichen Sauerstoff hatte zwar nach 40 Tagen "Erfolg", doch um welchen Preis: „Mein Bruder Günther starb, ich erlitt schwere Erfrierungen. Nach der Amputation von Zehen und Fingerkuppen war ich Invalide. Ich mußte erst wieder gehen lernen." Als eingeladene Teilnehmer der Expedition hatten die Brüder Messner ihren Anteil zu bezahlen und einen Vertrag zu unterschreiben. Der Organisator und Expeditionsleiter Herrligkoffer, der darin Rechte und Pflichten festgelegt hatte, erwies sich als führungsschwach.
Beide planten den Gipfelgang auf eigene Faust. Das schicksalhaft Unausweichliche geschah nicht im Augenblick der Erfüllung, dem Erreichen des Gipfels, sondern beim dreitägigen Abstieg über die unbekannte Diamir-Seite: Der höhenkranke Günther wurde vermutlich am Wandfuß von einer Eislawine erschlagen. Mit seinen Träumen hat er immer wieder versucht, seinen Bruder festzuhalten, "und ihn gleichzeitig Stück für Stück loszulassen." Reinhold Messners Tagebuchaufzeichnungen belegen, dass er häufig das Gefühl hatte, am Fuße des Nanga Parbat gestorben zu sein und sein zweites Leben begann: "Das Wissen, daß mein Leben begrenzt ist, gibt ihm eine eindeutige Richtung. Der Tod ist nicht Ziel, aber Angelpunkt des Lebens." Die schicksalhaften Ereignisse am Nanga Parbat gleichen deshalb einer Initiation, denn sie zwingen dazu, von früheren Lebensphasen radikal Abschied zu nehmen.
Reinhold und Günther Messner verstanden das Alpensteigen als eine "Möglichkeit zur Selbstäußerung außerhalb des Dschungels der Städte, wo wachsende Bürokratie, lähmende Versicherung und bürgerliche Intoleranz mehr und mehr zu einer Art Knast" (Tagebuch, Weihnachten 1969) wurden. Die Neuauflage des Buches „Zurück in die Berge“ enthält Beobachtungen, Aufzeichnungen und Gedichte aus dieser Zeit. Die Publikation ist aber auch ein eindringliches Plädoyer für Alpinismus und Nachhaltigkeit: „Keine Generation hatte die Berge notwendiger als die unsere. Und die nach uns kommen, ohne sie nicht leben können. Deshalb müssen wir sie ihnen erhalten.“
Reinhold Messer: Zurück in die Berge. Mit Fotografien von Andre Schönherr. Bergwelten Verlag. Salzburg, München 2021.
Reinhold Messner: Die Grenzen der Seele wirst du nicht finden. Michael Albus im Gespräch mit einem modernen Abenteurer. Freiburg i. Br. 1996 (Bd. 4503).
Reinhold Messner: Reinhold Messners Philosophie. Sinn machen in einer Welt ohne Sinn. Hg. von Volker Caysa und Wilhelm Schmid. Frankfurt a. M. 2002 (edition suhrkamp 2242).
Reinhold Messner: Berge versetzen. Das Credo eines Grenzgängers. München 2001.