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Bewegte Geschichte: das Glück unserer Zeit

Das gilt ebenso für das „richtige“ Leben, wo Menschen mit ihrem Chancenblick nicht nur sich selbst, sondern auch die Welt voranbringen. Sie packen an und sehen Lösungen, wo andere reden und Probleme sehen. Sie bringen die Dinge ins Laufen – der Anfang verschafft ihnen den entscheidenden Vorsprung. Und schließlich nehmen sich selbst nicht zu wichtig, sondern die Sache, um die es ihnen geht. Das zeigt auch die Hamburger Autorin Heike Koschyk, die unter dem Pseudonym Sophie Bonnet Kriminalromane schreibt, in ihrem neuen zweibändigen Romanprojekt über die Geschichte einer hanseatischen Kaufmannsfamilie. „Das Glück unserer Zeit. Der Weg der Familie Lagerfeld“ ist der Titel des ersten Bandes. Band zwei soll Ende August 2022 erscheinen. Im Fokus steht Otto Lagerfeld (1881–1967), Vater des späteren Modeschöpfers Karl und Gründer des Kondensmilch-Unternehmens „Glücksklee“.

Nach einer kaufmännischen Lehre in einem Hamburger Kaffee-Handelsunternehmen und Militärdienst ging er Ende 1902 für die Hamburger Firma Van Dissel, Rode & Co. nach Maracaibo (Venezuela). Er kündigte jedoch vorzeitig und ging in die USA zu einem in San Francisco lebenden Bruder. Hier knüpfte er Kontakte zur Carnation Company, einem führenden Hersteller von Dosenmilch. Für dieses Unternehmen unternahm er Reisen in mehrere Erdteile, um vor allem in Ländern mit unzureichender Frischmilchproduktion die Vorzüge der Dosenmilch zu propagieren. Seit 1908 war Lagerfeld erfolgreich in Wladiwostok (Ostsibirien) tätig, wo er Carnation-Dosenmilch unter der Marke „Gwosdika“ (Nelke) einführte. Seit 1913 war er in Werchojansk an der Lena interniert. 1918 kehrte er nach Deutschland zurück, war in verschiedenen Stellungen als Einkäufer tätig und gründete 1919 die Firma Lagerfeld & Co zum Import von Carnation Dosenmilch. Damals wurde ungezuckerte, evaporierte Dosenmilch in Deutschland populär.

Seit 1922 war er in erster Ehe mit Theresia (1896–1922) verheiratet. Aus dieser Ehe stammte die Tochter Thea (1922–1997). Nach ihrem Tod heiratete er 1930 Elisabeth (1897–1978). Aus der zweiten Ehe gingen eine Tochter (1931–2015) und der Modeschöpfer Karl Lagerfeld (1933-2019) hervor. Otto Lagerfeld führte 1923 eine eigene Marke unter dem Namen „Glücksklee“ ein und entwarf selbst das charakteristische rotweiße Etikett mit dem grünen Kleeblatt. Seine 1925 gegründete „Glücksklee Milchgesellschaft mbH“ mit Sitz in Hamburg war das erste deutsche Spezialunternehmen seiner Art. Milch wurde zunächst importiert, jedoch seit 1926 in einer eigenen Fabrik in Neustadt (Ostholstein) hergestelllt. Otto und Elisabeth kauften 1934 das fast 500 Hektar große Gut Bissenmoor bei Bad Bramstedt und zogen dorthin, kehrten allerdings 1939 wieder nach Hamburg zurück. Als die Alliierten die Hansestadt bombardierten, ließ sich die Familie erneut auf dem Gut nieder (1949 folgte der nächste Umzug nach Hamburg). Karl Lagerfeld ist nie wieder nach Bad Bramstedt zurückgekehrt.

Von 1933 bis 1945 war Otto Lagerfeld Mitglied der NSDAP sowie der Organisationen Nationalsozialistische Volkswohlfahrt und Deutsche Arbeitsfront. Dennoch war er kein Nazi, wie auch Heike Koschyk nachweist: Die NSDAP versuchte mehrmals, das Unternehmen „Glücksklee“ zu diskreditieren und zu zerschlagen. In ihrem Buch zeichnet sie das Bild eines liberalen und weltoffenen Mannes, der sich politisch zurückgehalten und sogar Kontakt zu einem englischen Banker gesucht hat, der ihn mit einem Gegner des Nationalsozialismus zusammenbrachte. „Als Geschäftsführer einer amerikanischen Firma musste er sich zudem durchlavieren, und dass das ohne Parteizugehörigkeit nicht ging, dürfte ihm klar gewesen sein“, so die Autorin. Während des 2. Weltkriegs musste die Herstellung von Dosenmilch wegen des Mangels an Weißblech eingestellt werden. Lagerfeld leitete noch bis zu seinem Ausscheiden 1957 als Geschäftsführer den raschen Wiederaufstieg der Glücksklee Milchgesellschaft mbH.

Das Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns, das auch die Basis der heutigen IHKs ist, die in seinem Sinne für Wahrung von Anstand zu wirken haben, wird in diesem Buch mit Leben gefüllt und durch den Personen- und Ortsbezug Hamburg greifbar gemacht, wo die Versammlung eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg e.V. (VEEK) noch immer tätig ist: In dem 1517 gegründeten Verein verpflichten sich die Mitglieder, die Grundsätze der Hanse zu stützen, sich an geltende Gesetze zu halten und sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Es entstand das Kaufmannsrecht von „Treu und Glauben“ - der Grundstein für die Entwicklung von Handelsreisenden hin zu ehrbaren Kaufmännern. Tugenden wie Integrität, Aufrichtigkeit, Integrität und Fairness, die auch Otto Lagerfeld auszeichneten, ließen den Kaufmann ehrbar werden. Im Buch von Heike Koschyk heißt es über Otto Lagerfeld: „Auch würde er niemals, nie im Leben, einer dieser Speichellecker werden, die den hohen Herren schmeichelten, nur, weil sie sich davon ein Fortkommen erhofften.“

Günter Lagerfeld, der Enkel von Ottos Bruder Paul, und seine Frau Ute haben Heike Koschyk einen exklusiven Einblick in ihr Familienarchiv gegeben, das bislang unveröffentlichte Dokumente enthält - darunter auch Ottos Lebenserinnerungen (Ende 1941 bis Juli/August 1942), die diesem Roman zugrunde liegen. Leider sind sämtliche Todesbescheinigungen der Jahre 1876 bis 1953 sind vernichtet. „Die Leitung des Hamburger Staatsarchivs hat dies 2018 ohne vorherige Digitalisierung angeordnet, um Platz im Archiv zu schaffen“, so die Autorin. Die Lücken in den Aufzeichnungen von Otto hat sie mit Informationen aus Gesprächen mit der Familie und fiktiven Einschüben gefüllt, beispielsweise bei Personen, von denen wenig überliefert ist. Das ist zum Beispiel bei seiner späteren Frau Theresia der Fall. Ihr wurde sich über ihre Familiengeschichte genähert sowie über ihren Bruder Johann, der die Brücke von Theresia zu Otto bildet. Auch wenn es ein Kunstgriff sein mag, dass Theresia im Jahr 1914 ein Kleeblatt, das sie beim letzten gemeinsamen Nachmittag gefunden hat, an Otto schickt (und das später die Dosenmilch zieren wird), so hat dies eine starke symbolische Bedeutung. Nach dem Geheimnis des Glücks befragt, soll der Psychoanalytiker Sigmund Freud geantwortet haben: „Arbeit und Liebe.“ Beides ist hier nachhaltig verschmolzen. Als Theresia bei der Geburt des Kindes stirbt, bleibt nur noch das Kleeblatt als Erinnerung:

Auch wenn es hier stark in die Fiktion geht, bleibt der Roman sehr dicht an der Realität. Dieser literarische Kunstgriff macht Biografien erst lesbar – würden sie nur chronologisch als Sachbuch erscheinen, bliebe vieles farblos. Heike Koschyk gelingt es in bemerkenswerter Weise, die wichtigsten Konturen unterschiedlicher Leben zu kolorieren. Dadurch haucht sie ihnen auch eine Seele ein, die uns Lesende teilhaben lässt – als wär’s zugleich ein „Stück“ aus unserer Zeit. Etwa wenn es um die von deutschen Truppen gesicherte Ukraine geht, in die Otto geschickt wurde, wo er im 1. Weltkrieg Getreide beschaffen sollte, „das dem Deutschen Reich seit dem sogenannten Brotfrieden zugesichert worden war und dessen Lieferung bisher nur schleppend erfolgte.“ Mit der Abdankung Kaiser Wilhelms II. und der Unterzeichnung des Waffenstillstands von Compiègne im November 1918 schien der Krieg plötzlich vorbei. Die deutschen Truppen mussten aus der Ukraine abziehen. Otto gelangte schließlich nach Kiew, wo er für sich und andere Zivilbeamte einen Waggon organisierte, der sie nach Brest-Litowsk brachte, bevor es nach Königsberg und Hamburg weiterging. Das Bild, das Heike Koschyk von den in die Hansestadt heimkehrende Soldaten und Flüchtlinge und der schlechten Versorgungslage zeichnet, erinnert wie die „neue Grippe“ an die Gegenwart: „Die Behörden wollen von der Tödlichkeit dieser Krankheit nichts wissen, und die Zeitungen schreiben lieber von einer Seuche in Galizien, obwohl sie längst die Stadt erreicht hat.“

Wer nicht von den Wechselfällen des Lebens aus der Bahn geworfen werden möchte, muss sich zuerst einmal selbst finden und Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen. Damit verbunden ist ein gelungenes Leben, das in der Philosophie „glücklich“ heißt. Höheres Einkommen und ein stetig wachsendes Bruttoinlandsprodukt allein machen uns auf Dauer kaum glücklich. Ziel muss es deshalb sein, dass nicht der Mensch dem Geld dient, sondern die Wirtschaft dem Menschen. Erst wenn dieses Verhältnis wieder stimmt, haben wir die Chance, glücklich zu sein.

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Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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