Dr. Alexandra Hildebrandt

Dr. Alexandra Hildebrandt

für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Bleiben ist nirgends

© Nicole Simon

Der Dichter Rainer Maria Rilke, dessen Werk Robert Musil zu den "Jahrhundertzusammenhängen der deutschen Dichtung, nicht zu denen des Tages" zählte, lebte ständig wie einer, der aus den Räumen der Welt hinausgeworfen wurde: Mal wohnte er bei Freunden, dann wieder in Hotels und Pensionen. Er hatte nie eine Adresse, nie ein festes Einkommen und war oft in finanziellen Nöten. 

„Wen die Musen lieben, / dem gibt das Leben nicht zuviel“, schreibt in seiner frühen Gedichtsammlung „Larenopfer“ (1896). Doch hatte er keine Skrupel, kulturaffine Mäzene und Gönnerinnen, darunter hochadlige Damen, um Geld und Aufenthalte auf ihren Schlössern zu bitten. Rilke hat „bewusst an seinen Bekanntenkreisen gearbeitet“. 2004 erschien Deckers Buch „Rilkes Frauen oder die Erfindung der Liebe“, wo er bereits darauf verwies, wie oft der Dichter seinen Lebensunterhalt durch ihn bewundernde Frauen finanzieren ließ. Sie bezahlten seine produktive Einsamkeit, aber auch üppige Hotelrechnungen. 

Seinen Alltag delegierte er an dienstbare Geister“, schreibt Gunnar Decker in seiner aktuellen Biografie „Der ferne Magier“, in der er auf über 600 Seiten Rilkes unlebbares Leben mit all seinen Wendepunkten und Widersprüchen zeigt: Anfänge und Aufbrüche – Krisen und Verwandlungen – Absturz und Flucht - Isolation und Sterben. Beim Lesen kommt er uns immer näher, aber doch nie so nah, dass sein Werk entzaubert wird. Es ist „nur“ der Mensch, der davon abgetrennt ist. Geistwesen sind dem wahren Leben oft nicht gewachsen. So zeigt sich auch in Rilkes Werken oft nur seine „lichtdurstige Seele“ - und sein Körper als Gefängnis.

Anfänge und Aufbrüche

René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke wird am 4. Dezember 1875 in Prag geboren. Im Herbst 1897, während seines Studiums in München, ändert Rilke auf Anraten seiner Geliebten Lou Andreas-Salomé seinen Namen in Rainer Maria Rilke („schön, „schlicht und deutsch“). Damit einher geht eine Änderung seiner Handschrift und seiner Lebensweise: Er lebt im Sinne der Reformbewegungen der Jahrhundertwende, wozu vegetarische Kost, Barfußgehen und eine asketische Lebensweise gehören. Der Vater Josef Rilke, ein ruheloser Gekränkter, ist von Beruf und Gesinnung Soldat. Er beendet 1865 seine militärische Laufbahn aus Enttäuschung über die ihm versagte Beförderung zum Offizier und wird ein kleiner Bahnbeamter. Die aus einer angesehenen und wohlhabenden Prager Familie stammende Mutter Sophia, genannt Phia, Tochter des Kaiserlichen Rates Entz, kann es nur schwer verkraften, unter ihrem Stand verheiratet zu sein. Sie ist eine schwierige Frau, die sich in der Haltung einer Unverstandenen gefällt und ihren Jungen zunächst als Mädchen erzieht. Sie okkupiert ihn mit übertriebener Fürsorge und krampfhafter Zuneigung. Ihre mit einem Orkan vergleichbare zerstörerische Kraft dringt über alle Lebenszeiten ihn:

"Sie reißt mich ein, indem sie kommt und schaut.

Sie sieht es nicht, daß einer baut.

Sie geht mir mitten durch die Wand von Stein.

Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.“

Mit seiner Mutter verbindet Rilke eine Hassliebe. Brieflich bleibt er immer auf Distanz zu ihr. Dabei haben sie einiges mit ihm gemeinsam - die Unrast und den Drang zum Höheren: „Rilke weiß, für Begegnungen mit Berühmtheiten, die die eigene Geltung vergrößern, hat seine Mutter einen sicheren Instinkt. Und er weiß, dass er diesen von ihr geerbt hat“, so Gunnar Decker. Im September 1886 wird Rilke Zögling der Militärunterrealschule St. Pölten. Er ist ein stiller, ernster und stark nervöser Junge, der sich gern abseits hält. Die Mitschüler halten ihn für einen Sonderling. Sie lachen über ihn, weil er in glühender Traumsicherheit Gedichte schreibt. Nach dem vierten Jahr rückt er in die Militäroberrealschule in Mährisch-Weißkirchen vor. 1890 erfolgt der Übergang in die Militärrealschule in Mährisch-Weißkirchen. Sie endet 1891 mit "dauernder Kränklichkeit". Für seine empfindliche Seele ist jedes Planen, jede schablonenhafte Einwirkung von außen schon eine Beschwerung. Rilkes Gemütszustand will das Vergangene, Geheimnisvolle, Individuelle und Weite. Rilke besteht 1895 "Mit Auszeichnung" das Abitur. Er studiert am Prager Karolinum zunächst Kunstgeschichte, Literatur und Philosophie, im Sommersemester 1896 auf Drängen der Familie Jura. Im September 1896 siedelt Rilke nach München um und studiert an der Ludwig-Maximilians-Universität Kunstgeschichte, gibt nach zwei Semestern das Studium aber auf.

In München lernt er 1897 die 14 Jahre ältere Schriftstellerin Lou (Louise) Andreas-Salomé kennen und verliebt sich in sie: "Du allein bist wirklich" lautet sein Liebesbekenntnis. Lou ist zum damaligen Zeitpunkt mit dem in Berlin lehrenden Orientalisten Friedrich Carl Andreas verheiratet. Der Übersetzer und Sammler Friedrich F. Fiedler, der seine Petersburger Wohnung zu einem berühmt gewordenen literarischen Museum machte, hielt in seinem Tagebuch Gespräche mit dem Schriftsteller Potapenko sowie dessen Frau über Lou Andreas-Salomé fest. Marja A. Potapenko, die ihr 1894 in Paris begegnet war, berichtete: „Ihren Mann (Andreas) habe sie ohne Liebe geheiratet, nur weil er gedroht habe sich zu erschießen, wenn sie nicht seine Frau wird. Ein paar Monate im Jahr lebt sie mit ihm, dann verläßt sie ihn plötzlich und erscheint bald in Wien, Paris oder der Schweiz an der Seite irgend eines Mannes, mit dem sie in Ideenehe lebt [...].“ 

Rilkes Nähe zu Lou öffnet ihm neue Räume und bislang verschlossene Türen. Für sie geht er zu dieser Zeit noch unverkürzt und unbesorgt im Künstler und der Künstler im Menschlichen auf. In Schmargendorf bei Berlin assistiert Rilke Lou beim Kochen, hilft in seinem blauen Russenhemd beim Geschirr trocknen und Holz zerkleinern, während beide ihren verschiedenen Studien nachgehen. Die Tochter eines baltischen Generals in russischen Diensten ist zu dieser Zeit schon längst berühmt. Sie lebt "emanzipiert" und führt Rilke in das geistige und künstlerische Leben Berlins ein. Er arbeitet unter anderem an die "Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke". Das Werk wurde ein Welterfolg, auf den Rilke später mit Skepsis zurückblickte. Im Frühjahr 1899 reist Rilke zusammen mit Lou und ihrem Mann nach Russland. Eine ebenfalls mehrmonatige Reise, die ihm die "Wendung ins eigentlich Eigene" brachte, folgt im Frühjahr 1900. Aus den Begegnungen und Bildern entsteht der erste Zyklus des "Stunden-Buchs", "Das Buch vom mönchischen Leben". Das lyrische Ich imaginiert einen Mönch in der Klosterzelle, der Gebete verrichtet und Gespräche mit "Gott" führt. Für Lou wurde er auf die Dauer zu anstrengend, so dass sie ihn fallen ließ (dennoch blieben beide bis zu seinem Tod verbunden). Sie erkannte schon früh, dass Einsamkeit und Wahnsinn Leben und Werk ins Wanken bringen können.

Krisen und Verwandlungen

Anfang 1899 begegnet Rilke dem Maler Heinrich Vogeler - der Anfang seiner Bekanntschaft mit dem Künstlerkreis Worpswede bei Bremen, wo Paula Becker, Fritz Mackensen, Otto Modersohn leben und arbeiten. Im August 1900 kehrt er von der zweiten Russlandreise zurück. Rilke hält sich für einige Zeit in der Worpsweder Künstlerkolonie auf. In Worpswede lernt er die Bildhauerin Clara Westhoff kennen. Die drei Jahre jüngere Bremerin und spätere Rodin-Schülerin, die gerade beim Maler Fritz Mackensen in die Lehre ging, fasziniert ihn. Beide heiraten am 28. April 1901. Die Trauung verzögert sich, weil Rilke, der von seiner Entscheidung nicht ganz überzeugt zu sein scheint, an Scharlach erkrankt. Vier Wochen später beziehen sie ein kleines Bauernhaus in Westerwede (die Ehe hält nur ein Jahr). Im Dezember wird Rilkes einziges Kind, die Tochter Ruth geboren. Clara und Rainer Maria Rilke fahren 1902 nach Paris, dann nach Rom. Ruth bleibt bei den Großeltern Westhoff (Claras Eltern) in Bremens ländlichem Stadtteil Oberneuland. Nach Claras Rückkehr bestand die Ehe nur noch auf dem Papier. Dass Ruth von Rilke ungeliebt ist, belegen zahlreiche Quellen, die Gunnar Decker aufführt – bis zur finanziellen „Verhandlung“ ihrer Hochzeit (1922 heiratet Ruth den Juristen Carl Sieber), der Rilke fernbleibt und nur eine große Torte nach Fischerhude schickt.

Als Nachlassverwalterin sorgte Ruth seit seinem Tod für die Herausgabe der Rilke-Werke im Insel-Verlag und ordnete seine Schriften und Notizen. Hinzu kam die Korrespondenz mit den vielen Rilke-Verehrerinnen. Schon zu Lebzeiten wurde um ihren Vater ein Kult betrieben. Vieles war „nur Schau“, sagte sie später. Ruth Sieber-Rilke starb 1972. 10.000 handschriftliche Seiten ihres Vaters, 2.500 Briefentwürfe, 6.500 Briefe an ihn und 86 Notizbücher sind neben Büchern mit Notationen vor einiger Zeit an das Deutsche Literaturarchiv Marbach gegangen. Nach dem Tod der Tochter Ruth fand das Archiv, das nach Marburg ging, im Privathaus der Enkelin Hella Sieber-Rilke in Gernsbach seine Heimat. Ein Leben in Briefen.

Absturz und Flucht

Der Künstler soll nach Rilke Dinge bauen, sie mit anderen Mitteln neu hervorbringen und dabei ihr Wesen freilegen, geduldig Formen vervollkommnen. Rilke im "Florenzer Tagebuch": „Deshalb muß des Künstlers Weg dieser sein: Hindernis um Hindernis überbrücken und Stufe um Stufe bauen, bis er endlich hineinblicken kann in sich selbst.“ Das Muster eines solchen Künstlers ist für ihn der französische Bildhauer Auguste Rodin, dessen Kunst sich "nicht auf eine große Idee aufbaut, sondern auf eine kleine gewissenhafte Verwirklichung, auf das Erreichbare, auf ein Können". Er sieht in ihm den ernsten, gesammelten Arbeiter, der "tief wie ein Knecht" seinen Weg geht und sein tägliches Handwerk ausübt. Im Sommer 1902 nimmt Rilke das Angebot des Breslauer Kunsthistorikers Richard Muther an, für dessen "Sammlung illustrierter Monographien" den Band über Auguste Rodin zu schreiben und zu diesem Zweck nach Paris zu gehen. Von diesem Ortswechsel erhofft sich Rilke nicht nur eine künstlerische Weiterentwicklung, sondern sieht darin auch eine Chance, sein Privatleben neu zu ordnen. Er zieht zu Rodin, dessen künstlerisches Credo lautet: "[...] man muss arbeiten, nichts als arbeiten. Und man muss Geduld haben".

Paris, Spätsommer 1905. Die Beziehung zwischen Rilke und Rodin erhält eine neue Qualität, als ihm Rodin das Angebot macht, als "eine Art Privat-Sekretär" für ihn ein paar Stunden am Vormittag zu arbeiten. Seiner Frau gegenüber stellt Rilke seine Tätigkeit allerdings als eine Art Freundschaftsdienst dar. Dennoch kommt er in dieser Zeit kaum zum Schreiben. Frühjahr 1906. Mit der Konzentration auf das eigene Werk beginnt auch der Ablösungsprozess von Rodin, dessen Einfluss auf sein Werk er als sehr groß einschätzt. Rodin schenkt Rilke die gesamte Objektwelt: So wendet er sich während seiner Tätigkeit als "Sekretär" in den Jahren 1905 und 1906 bewusst von seiner frühen Erlebnislyrik ab. Wie der Bildhauer formt er plastische Dinge, stellt sprachlich-zeitlose "Kunst-Dinge" her, die mehr der Zukunft als der Vergangenheit angehören, und in denen alle Subjektivität "aufgehoben" ist. Dabei werden die Gesetzmäßigkeiten der plastischen Kunst auf die Literatur übertragen. Zu Beginn seines unermüdlichen Arbeitsprozesses steht dabei das Anschauen, das Rilke als wesentlich für Rodins Schaffen empfindet. Es ist ein Anschauen des Objekts, bei dem der Künstler das Modell gleichsam aus dessen innerstem Wesen heraus zu erfahren trachtet. Dabei gelangt der Betrachter unbewusst zu einer sich im Objekt offenbarenden Erkenntnis des "Dings" - das zum zentralen Begriff seiner neuen Dichtung wird - und zugleich seiner selbst. Die im "Schauen" gemachte innere Erfahrung ist jedoch von diesem Gegenstand nicht ablösbar:

„Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,

ein jedes Werden stand still.“

Der Vers gibt zugleich Auskunft über Rilkes Schaffensprozess. Nie gibt er etwas aus der Hand, was nicht vollendet ist. Und ist es vollendet, braucht er den abgewandten Blick, um es mit anderen Worten an fremdem Ort wieder neu aufzubauen. Das Symbol des Schöpfers geistiger und künstlerischer Werte für die kommende Zeit ist für Rilke Michelangelo. Der Meister steht ununterbrochen in Verbindung mit Gott, dem aufbauenden, dem konstruierenden Geist, der sich den Menschen nur durch seine Werke zeigt:

„Wir bauen Bilder vor dir auf wie Wände;

so daß schon tausend Mauern um dich stehn.

Denn dich verhüllen unsre frommen Hände,

sooft dich unsre Herzen offen sehn.“

Da Gott für das menschliche Auge nicht sichtbar ist, weil es seine Unermesslichkeit, seinen Glanz, nicht ertragen würde, bemühen sich die Menschen seit je, ihn zu konstruieren und zu bauen. Bei Rilke spielt die zentrale Tatsache eine Rolle, dass der Mensch nicht passiv hoffen darf, sondern an Gott und sich selbst arbeiten soll: "Sieh, Gott, es kommt ein Neuer an dir bauen", heißt es im "Stunden-Buch". Die Suche nach sich selbst und die Suche nach Gott sind bei Rilke nahezu identisch. Gott ist für Rilke, der sich ihm ständig in Unruhe nähert, das einzig Seiende, das niemals vollendet werden kann, da er in seiner Ganzheit doch vollendet ist. Durch Beten, das für Rilke die gleiche Bedeutung hat wie "Erbauen", erhält der Mensch eine Ahnung von Gott, der wiederum an der Vollendung des Menschen baut. Wie in der platonischen Schrift "Timaeus" erscheint Gott in Rilkes Dichtung auch als Werkmeister und Baumeister des Kosmos. Er spricht von "Gottes große[m] Brücken-Bau".

In den Jahren zwischen 1902 und 1908 werden seine Gedichtsammlungen "Das Buch der Bilder", das "Stunden-Buch" und die "Neuen Gedichte" veröffentlicht. 1906 erscheint die vom Jugendstil beeinflusste lyrische Prosaballadeske "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" - berühmt geworden als Bestseller und "Band I" der Insel-Bücherei. Das Bauen von Hand ist ein wiederkehrendes Thema bei Rilke. Die Hand bedarf, um sinnvoll zu funktionieren, der konkreten Dingwelt. Hände verkörpern für ihn Reinheit und Nähe. Sie vollziehen Handlungen, die auf die Welt zugreifen. Ihr erstes Merkmal ist ihre Offenheit gegenüber der Welt. Augen lassen sich täuschen, Hände nicht. Am 18. Juli 1904 teilt Rilke aus Parios Lou Andreas-Salomé mit, dass "tausend Hände" an seiner Angst "gebaut" haben. Paris sei ihm eine große Stadt geworden, "in der Unsägliches geschieht." Seine hier mitgeteilten Erfahrungen übernimmt er fast wortgetreu in seinen Tagebuchroman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". Zu Beginn des ersten Weltkriegs schreibt Rilke fünf "Kriegsgesänge". Seine anfängliche Kriegsbegeisterung weicht bald der Erschütterung. Die Einberufung zum Kriegsdienst trifft ihn mitten in einer Schaffensphase und reißt ihn für Jahre aus der Arbeit heraus. In Soglio in der Schweiz findet er zwar nicht zur Arbeit zurück, doch weiß er, dass der Ort, an dem er die im Januar 1912 auf Schloss Duino begonnenen Elegien vollenden könnte, so sein müsste wie der Palazzo Salis.

Isolation und Sterben

Um seine auf Schloss Duino begonnenen Elegien zu vollenden, möchte er im Sommer 1921 die Suche nach einer dauerhaften Bleibe nicht mehr dem Zufall überlassen. In Lausanne beauftragt er einen Immobilienmakler, nach geeigneten Objekten zu suchen. Doch der Zufall führt ihn schließlich an seinen Elegien-Ort: Im Juli 1921 besucht Rilke zusammen mit seiner "Genfer Liebe", der Malerin Baladine Klossowska, das Wallis (nach der Trennung lebt Baladine mit ihren Söhnen Pierre und Baltusz in der Schweiz), wo er das "Château de Muzot" (sprich: Müsott) aus dem 13. Jahrhundert entdeckt. Die Eigentümerin fordert 250 Franken Monatsmiete. Durch Vermittlung von Nanny Wunderly-Volkart (1878-1962) mietet ihr Vetter, der Wintherthurer Mäzen Dr. Werner Reinhart, den er später liebevoll "Lehens-Herr" nennt, den mittelalterlichen Schlossturm. Bevor Rilke das alte Gemäuer beziehen kann, müssen die Decken abgestützt, die Wände geweißt und Rattenlöcher vermauert werden. Auch elektrisches Licht gibt es nicht. Wasser muss von einem Ziehbrunnen im Garten geholt werden. Zusammen mit Baladine Klossowska zieht er am 26. Juli 1921 ein.

Der Garten um das Schloss und die nähere Umgebung stimmen Rilke in die Gegend, die er für den "schönsten Flecken der Erde" hält. Fotos aus dieser Zeit zeigen den Dichter leicht gebückt an einem Spazierstock gehend. Das Aufwärtsgehen bereitet ihm Mühe. So erscheint ihm schon die kurze Wegstrecke von Sierre nach Muzot steil. Die Berge des Wallis und die Regionen des drohend kalten Schnees bleiben Rilke, der lieber im Tal ist, unbekannt und verschlossen. Kalte Gebirge ohne "gewohntes Wachstum" sind ihm "wider die Natur". Muzot, ein Stückchen den Hang hinauf, in die Weinberge hinein, ist ihm genug. In den folgenden drei Jahren vollendet Rilke in Muzot seine bedeutendsten Werke: die „Duineser Elegien“ und „Die Sonette an Orpheus“. In ihnen formuliert er, dass sich der einzelne im Wissen um seine Sterblichkeit vorbehaltlos auf ein Leben einlassen kann, das aus inneren und äußeren Verwandlungen besteht:

„Geh in der Verwandlung aus und ein.

Was ist deine leidendste Erfahrung?

Ist dir Trinken bitter, werde Wein.“

1923 entstehen hier seine SIEBEN ENTWÜRFE AUS DEM WALLIS oder DAS KLEINE WEINJAHR. Anfang Oktober 1925 hindert ein quälendes und beschämendes Mundleiden, eine schmerzhafte Bläschenbildung an den Schleimhäuten, Rilke am Sprechen und weckt in ihm die Angst, er könne an Krebs leiden. Es ist die Zeit, da von Amerika "leere, gleichgültige Dinge" herüberdringen, "Schein-Dinge, Lebens-Attrappen". Ende des Monats schreibt er sein Testament, um vorzusorgen „für den Fall einer mich mir mehr oder weniger enteignenden Krankheit“. Er sendet es zu Händen von Nanny Wunderly-Volkart. Am 30. November 1926 sucht Rilke schwer erkrankt zum letzten Mal Zuflucht in Val-Mont. Die sofort vorgenommene Blutuntersuchung zerstört jede Hoffnung auf Heilung. Rilkes Todeskrankheit haftet etwas Mystisch-Verklärendes an: Im Herbst 1926 verletzte er sich beim Rosenschneiden in seinem Garten so heftig an den Dornen, dass er bald an einer Infektion erkrankte. Anfang Dezember wird sein Leiden als eine äußerst seltene, besonders bösartige Leukämie diagnostiziert. Mitte des Monats schreibt er das Entwurf gebliebene „Gedicht Komm du, du letzter, den ich anerkenne“:

„Komm du, du letzter, den ich anerkenne,

heilloser Schmerz im leiblichen Geweb:

wie ich im Geiste brannte, sieh, ich brenne

in dir; das Holz hat lange widerstrebt,

der Flamme, die du loderst, zuzustimmen,

nun aber nähr' ich dich und brenn in dir.“

Rilke stirbt, kaum noch 50 Kilogramm wiegend, am 29. Dezember 1926 im Sanatorium Val-Mont bei Montreux. Seine Beerdigung findet am 2. Januar 1927 an der Außenmauer der kleinen Burgkirche von Raron statt. Auf seinem Grabstein stehen die Zeilen eingemeißelt:

„Rose, oh reiner Widerspruch. Lust,

Niemandes Schlaf zu sein unter soviel

Lidern.“

Die Herkunft der Zeile scheint aber nun geklärt: Auf dem Dachboden des Schlosses derer von Thurn und Taxis im italienischen Duino fanden sich Tagebücher der Rilke-Freundin und -gönnerin Fürstin Marie von Thurn und Taxis, in denen diese von tiefgreifenden Kontroversen berichtet, die sie auf Duino mit ihrem dichtenden Gast ausgefochten habe, wobei sie an Rilkes Gedichten vor allem deren blumige Sprache bemängelt habe: „Ständig kommen Blumen in deinen Gedichten vor“, habe sie Rilke vorgehalten. „Oh Rainer! Widerspruch lege ich dagegen ein!“

Das Buch:

  • Gunnar Decker: Rilke. Der ferne Magier. Eine Biographie. Siedler Verlag, München 2023

Weiterführende Informationen:

  • Alexandra Hildebrandt: Rainer Maria Rilke: Von einem, der die Steine belauscht: Bausteine einer Biografie Kindle Ausgabe 2021.

Wer schreibt hier?

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Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

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Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
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