Dr. Alexandra Hildebrandt

Dr. Alexandra Hildebrandt

für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Dekarbonisierung und Digitalisierung: Wie digitale Technologien zu deutschen Klimaschutzzielen beitragen

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Die Digitalisierung als Bindeglied zwischen ökonomischem Wachstum und Klimaschutz

Das Bundesklimaschutzgesetz sieht bis 2030 eine Reduktion der Treibhausgasemissionen von 65 Prozent und Klimaneutralität bis 2045 vor. Wenn Deutschland sein eigenes Klimaschutzgesetz einhalten will, müssen 308 Millionen Tonnen CO2 im Vergleich zu 2022 eingespart werden. Das bedeutet konkret, dass Deutschland 39 Millionen Tonnen CO2 jährlich von 2022 bis 2030 einsparen muss, um seine Klimaziele zu erreichen. Das kann allerdings nur gelingen, wenn die nachhaltige Transformation der Wirtschaft schneller vorangebracht wird. Der „SEED-Index 2023“ (Sustainable Economic Efficiency through Digitalization) ist ein Pulsmesser für die Digitalisierung der deutschen Wirtschaft. Die Studie „SEED-Index 2023“ , die Accenture Strategy & Consulting Sustainability Practice im Auftrag des Vodafone Instituts für Gesellschaft und Kommunikation durchgeführt hat ermittelt, wie die beiden zentrale Effekte der Digitalisierung, Dekarbonisierung und Profitabilität, miteinander verknüpft sind. Dafür wurden von Juni bis September 2023 über 200 Unternehmen befragt und über 3.000 Datenpunkte recherchiert. Der Index zeigt, wie weit die Unternehmen bei der Twin Transformation (doppelte Transformation) sind und verknüpft Dekarbonisierung und Profitabilität. Ermittelt wurde, in welchem Maße Unternehmen heute schon digitale Technologien nutzen, um ihre CO₂-Emissionen zu senken und ihre Profitabilität zu steigern.

Die zentralen Ergebnisse im Überblick:

  • Die von Unternehmen erwartete Adaptionsrate digitaler Technologien im Jahr 2030 liegt bei nur 45 Prozent (16 Prozentpunkte mehr als heute). Mit der aktuellen Adaptionsrate von 29 Prozent haben digitale Technologien den deutschen Unternehmen 2023 eine CO2-Einsparung von rund 31 Megatonnen ermöglicht.
  • Unternehmensverantwortliche haben die Aufgabe, passende Anwendungsfälle zu identifizieren und umzusetzen.
  • Deutsche Unternehmen müssten die Digitalisierung um den Faktor von 1,5 beschleunigen, um gegenüber globalen Benchmarks gleichzuziehen. Je schneller die Digitalisierung voranschreitet, desto größer sind die positiven Effekte auf das Klima.
  • Um den digitalen Wandel voranzutreiben und Nachhaltigkeit als festen Bestandteil eines digitalen Geschäftsmodells zu etablieren, ist es dringlich, dass Unternehmen jetzt umdenken.
  • Partnerschaften mit Software- und Cloud-Unternehmen spielen für Unternehmen künftig eine immer größere Rolle: Gemeinsam können digitale Plattformen entwickelt werden, die Nachhaltigkeit in alle Geschäftsprozesse integrieren.
  • Die Politik muss digitalisierungsfreundliche Anreize schaffen.
  • Deutsche Unternehmen nutzen die Potenziale für mehr Profitabilität und Digitalisierung nur zur Hälfte.
  • Durch den Einsatz digitaler Technologien können Unternehmen 2030 rund 10 Prozent zum CO2-Emissionsziel der Bundesregierung beisteuern.

Die Wirtschaftssektoren Gebäude, Industrie, Landwirtschaft, Logistik und Strom emittieren zusammen mehr als 99 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen in Deutschland. Die Studie zeigt für jeden dieser Sektoren die wichtigsten Technologien, deren Einsparpotenziale und qualitativen Nutzen sowie 17 Anwendungsfälle.

Gebäudesektor

Als der größten Emittenten spielt der Gebäudesektor eine Schlüsselrolle für das Erreichen der Klimaziele. Allein bei Nichtwohngebäuden lassen sich 11 % der CO2-Emissionen im Jahr 2030 durch Gebäudemanagementsysteme (BMS) reduzieren. Sie sind zudem Profitabilitätstreiber und führen im Jahr 2030 zu einer absoluten Steigerung von über 2,3 Mrd. EUR. So können in Nichtwohngebäuden Building Management Systeme wie Sensortechnologie und dem Internet of Things (IoT) Echtzeitdaten zu Raumtemperatur, Luftqualität, Lichtniveau und anderen Umweltbedingungen erfassen, um den Energieverbrauch zu optimieren. Auch können beispielsweise Smart Homes und intelligente, vernetzte Gebäude viel Energie einsparen. Bei einer Standard-Verbreitung smarter Gebäudetechnologien im privaten und gewerblichen Umfeld können 2030 rund 12,4 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Smarte Stromzähler und Thermostate optimieren Verbräuche energieeffizient, intelligente Beleuchtung reduziert Stromverbräuche. Künstliche Intelligenz (KI) und Data Analytics unterstützen darin, Muster im Gebäudeverhalten zu erkennen, Wartungsbedarf vorherzusagen und operative Abläufe zu optimieren. Objektive Daten für die Umweltwirkungen der Produkte liefern Umweltproduktdeklarationen (EPDs). Das sind Typ III Umweltkennzeichen nach ISO 14025, die auf alle Produkte im Bauwerkkontext anwendbar sind. Sie machen transparent, welche Grundstoffe mit welchem Energieaufwand in ein Bauprodukt einfließen und welche Umweltwirkungen dadurch entstehen.

Industriesektor

In der Zementindustrie wird das höchste prozentuale CO2-Reduktionspotenzial (7 %) 2030 erwartet. Durch die sehr energieintensive Kalzinierung von Kalkstein (Hauptbestandteil von Zement) gilt die CO2-Reduktion hier als besonders herausfordernd. Der Digital Twin zur digitalen Modellierung des Kalzinierungsprozesses ist hier ein Use Case. Die höchsten absoluten CO2-Einsparungen sind in der Chemie- und Stahlindustrie bis 2030 mit einer Reduktion von jeweils deutlich über 2 Megatonnen CO2 zu erwarten. Auch hier kann der Digital Twin (z.B. zur Optimierung des Schmelzprozesses oder zur digitalen Modellierung für die Reformulierung chemischer Produkte) genutzt werden. Zudem kann der sogenannte Digitale Zwilling für CO2-Einsparungen sorgen: Das virtuelle Abbild von Produktions- und Betriebszyklen macht es möglich, Verfahren erst am digitalen Objekt durchzuführen, um später massiv Material, Energie und Ressourcen sparen zu können.

Auch die Chemieindustrie spielt beim CO2-Ausstoß eine besondere Rolle, denn die Branche verbraucht bei der Produktion sehr viel Energie, die zu Großteil aus fossilen Energieträgern wie Erdgas stammt. Nach Angaben des Verbands der chemischen Industrie (VCI) ist sie mit einem Anteil von 15 Prozent der größte Verbraucher von Erdgas in Deutschland. In der grünen Transformation Deutschlands kommt ihr deshalb eine Schlüsselrolle zu. Für eine nachhaltige und klimafreundliche Chemieindustrie braucht es: eine nachhaltige Energieversorgung, pragmatische und verantwortungsvolle Richtungsentscheidungen (z.B. Ermöglichung von CCS und CCU in Deutschland). weniger Ressourcenverbrauch, mehr Recycling, bessere Materialeffizienz, nachhaltige Rohstoffbasis (weg von Grundchemikalien, die auf Öl oder Gas beruhen, Einsatz von CO2, Biomasse oder Abfallstoffe – insbesondere Plastik – als Quelle für Kohlenstoff nutzen). Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat dazu auch eine „Carbon Management Strategie“ und einen darauf basierenden Gesetzentwurf erarbeitet. Beides wurde Ende Februar 2024 vorgelegt und soll die Abscheidung und Speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS) oder Nutzung (Carbon Capture and Usage, CCU) von CO2 in Deutschland ermöglichen. 

Landwirtschaft

Im Ackerbau gehören die zwei Use Cases „intelligente Boden- und Ernteüberwachung“ und „intelligente landwirtschaftliche Maschinen“ zu den großen Kostentreibern der Unternehmen (Ausgaben für Düngemittel und für Personal, zu den Technologien gehören u. a. GPS- und Geodatenmanagement, Sensortechnologie). Die Tierhaltung ist der größte Emittent von Methan in Deutschland. Sensoren am Tier oder Sensoren im Stall können Körpertemperatur, Bewegung oder Stallklima erfassen. KI kann Muster erkennen und Vorhersagen treffen (z.B. zur Pflanzen- oder Tiergesundheit).

Logistik

Hier wächst der CO2-intensive Lkw-Verkehr analog zur steigenden Nachfrage nach Gütern und Transportkapazitäten. Die intelligente Routen- und Frachtoptimierung führt durch Effizienzgewinne zu Kraftstoffeinsparungen, die mit direkten CO2-Einsparungen und EBIT-Effekten einhergehen (der Use Case Digital Twin & Advanced Planning optimiert mit Technologien wie Echtzeitdatenanalyse, Geodatenmanagement oder IoT Geschwindigkeiten und Routen oder ermöglicht die strategische Planung bei der Dimensionierung von Flotten und Personalkapazitäten). Eine smarte Logistik vermeidet Leerfahrten auf Frachtrouten.

Stromsektor

Das höchste relative Einsparpotenzial hat der Energiesektor. Die Digitalisierung weist bei Stromnetzbetreibern bis 2030 mit bis zu 4,4 Prozent das höchste CO2-Reduktionspotenzial auf und ist ein wichtiger Hebel für die Energiewende. Eine 3D-Standortmodellierung kann in Bezug auf Solarenergie zu einer optimalen Standortpositionierung beitragen. Der Digital Twin ermöglicht eine frühzeitige Wartung. KI im Stromnetz sorgt für Netzzustandsschätzungen und Szenarioanalysen. Prozesse können effizienter gestaltet werden. Im Energiesektor sind Smart Grids (intelligente Stromnetze) ausschlaggebend, in denen Stromerzeugung und -verbrauch präzise gesteuert werden können.

In der Bitkom-Studie „Klimaeffekte der Digitalisierung 2.0“, die wie der SEED-Index bei ihren Berechnungen auch den CO2-Fußabdruck der digitalen Technologien berücksichtigt, zeigt in den fünf Wirtschaftssektoren ähnliche Ergebnisse. Je nach Digitalisierungsgeschwindigkeit können digitale Technologien insgesamt fast ein Viertel zum deutschen Klimaziel 2030 beitragen. Je nach Digitalisierungsgeschwindigkeit kann der jährliche CO2-Ausstoß in Deutschland 2030 um rund 50 bis 73 Millionen Tonnen reduziert werden. Doch die Digitalisierungslücke, vor der Deutschland steht, ist noch sehr groß. Das bestätigt auch der Digitalisierungsindex 2023 des Bundesministeriums für Wirtschaft. 95 Prozent der deutschen Führungskräfte sehen laut Digitalreport 2024 des European Center for Digital Competitiveness Deutschland bei der Digitalisierung im Rückstand. 58 Prozent sind zudem der Meinung, dass es an einer klaren Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung mangelt. Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) übt ebenfalls Kritik und fordert von politischen Entscheidungsträgern eine engere Verzahnung von Digitalisierung und Nachhaltigkeit sowie Anreize für die flächendeckende Anwendung digitaler Technologien. Die EU hat das Jahrzehnt bis 2030 zur digitalen Dekade ausgerufen. Die Ziele sind für alle EU-Länder verbindlich. 

Weiterführende Informationen:

  • Das Potenzial von KI zum Erreichen der 17 SDGs wird von Unternehmen noch nicht ausgeschöpft 
  • CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. 2. Auflage. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2021.
  • Klimaneutralität in der Industrie. Aktuelle Entwicklungen – Praxisberichte – Handlungsempfehlungen. Hg. von Ulrike Böhm, Alexandra Hildebrandt, Stefanie Kästle. Springer Gabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2023.

Wer schreibt hier?

Dr. Alexandra Hildebrandt
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Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
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