Die Grenzen des Wachstums: Wie viel ist genug?
Aus der Biologie ist bekannt, dass ein System einige Zeit ohne Schwierigkeiten wachsen kann. Doch es gibt eine kritische Grenze, deren Überschreitung ein System nicht überlebt. Der Biochemiker, Systemforscher und Umweltexperte Frederic Vester bemerkte dazu, dass es auch Krebszellen zunächst einmal prima geht: „Sie wachsen munter drauflos (nach dem Motto: Warum an morgen denken, Hauptsache, der Umsatz steigt!), bis sie den Wirtsorganismus so belasten, dass dessen Funktionen geschädigt werden und er zusammenbricht – und mit ihm die Krebszellen.“ Zunächst mag das unkontrollierte Wachstum aus der Sichtweise dieser Zellen „erfolgreich“ erscheinen – aber nur, bis das lebensfähige System zugrunde gerichtet wird. Es muss deshalb auch ausgleichende bzw. dämpfende oder „negative“ Rückkopplungen aufweisen, um nicht über das richtige Maß hinauszuwachsen und um Krisen abzufedern.
Die zunehmende Bedrohung unserer Lebensgrundlagen führt uns die Grenzen eines Wirtschaftssystems vor Augen, das auf unbegrenztes Wachstum und einen immer schnelleren Kreislauf von Geld, Gütern und Geist setzt. All dies hat eine wachsende Instabilität zur Folge, was insgesamt zu einer gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit und Verunsicherung führt. Das Unbehagen am Paradigma des endlosen Wirtschaftswachstums belegt nicht nur das Buch „Exit“ des Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel, sondern zeigen auch die Longseller von Ernst Ulrich von Weizsäcker („Faktor Fünf“), Harald Welzer („Selbst Denken“) und Ralf Fücks „Intelligent wachsen“). Eine bereichernde Lektüre bietet auch Buch des österreichischen Chocolatiers Josef Zotter „Kopfstand mit frischen Fischen“. Sein Erfolgsgeheimnis ist natürliches Wachstum: „Schon möglich, dass irgendwann auch der Tag kommt, an dem das Wachstum zum Stillstand kommt, der Prozess abbricht. Ist es nicht überall so? Für alles kommt irgendwann der Tag, an dem es aufhört, verschwindet, stirbt. Wie im Leben. Das ist der Zyklus.“
Logisch, sagt er, „weil alles auf Pump aufgebaut ist. Darauf, dass du dir mit geliehenem Geld Wachstum erkaufst. Mit der Folge, dass du immer weiter wachsen musst, damit du dir dein Wachstum leisten kannst ...“ Allerdings ist „Nullwachstum“ auch keine realistische und wünschenswerte Perspektive angesichts der Massenarmut in der Welt. Doch ein „Weiter so“ geht auch nicht. Für die dritte Option, nachhaltiges, sozial-inklusives Wachstum, plädiert das Buch von Ralf Fücks. Angela Merkel brachte vor einigen Jahren den Begriff „nachhaltiges Wachstum“ ins Gespräch. David Cameron sprach von „ausgewogenem Wachstum“, Barack Obama bevorzugte „langfristiges, dauerhaftes Wachstum“. Der frühere Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, setzte sich für „kluges, nachhaltiges, einschließendes und robustes Wachstum“ ein. Die Weltbank versprach „inklusives grünes Wachstum“. Der Schlüssel für nachhaltiges Wachstum liegt für Ralf Fücks in einer Entkopplung von Wertschöpfung und Naturverbrauch. Nur darf Ökologie nicht mit dem Gestus „Du darfst nicht“ daherkommen. Er verweist dabei auf Gunter Pauli, einen Vordenker der neuen Ökonomie, für den die Antwort auf die ökologische Krise in einer „zweiten grünen Revolution“ besteht. Sie beginnt im Kopf: vom Denken in linearen Produktionsketten zum Design von Stoffkreisläufen.
Endloses Wirtschaftswachstum, das vielen als Voraussetzung für Wohlstandsmehrung, Fortschritt und Wohlbefinden gilt, ist auch nach Ansicht des Sozialphilosophen Edward Skidelsky sinnlos. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf Schnecken, die nicht nur langsam wachsen, sondern ihr Wachstum in dem Moment einstellen, wenn sie zu groß werden könnten für ihr Schneckenhaus. Sie kennen im Gegensatz zu uns Menschen ihre Grenzen.
Mit seinem Sohn, dem britischen Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky schrieb er das Buch "Wie viel ist genug?“ Das überhitzte „Mehr, mehr, mehr!“ verdeckt die Frage nach einem guten Leben. Für beide ist das Leben im digitalen Zeitalter „gut“, wenn sieben Grundbedürfnisse befriedigt sind:
Gesundheit
Sicherheit
Respekt
Entfaltung der Persönlichkeit
Harmonie mit der Natur
Muße
Freundschaft.
Die grundlegenden Güter sind für sie universell und final und tragen ihren Wert in sich. Und stehen für sich, weshalb Familienbeziehungen nicht aufgeführt, sondern dem übergeordneten Gut der Freundschaft zugeordnet wurden. Wo klassische gesellschaftliche Bindungen heute nicht mehr greifen, wird sie zu einer Überlebensstrategie, die mit dem guten Gefühl verbunden ist, im Leben nicht allein zu sein und das Große und Komplexe auf ein einfaches menschliches Maß zurückführt.
Ralf Fücks: Intelligent wachsen. Die grüne Revolution. München 2013.
Katja Gentinetta und Niko Paech: WACHSTUM. Hg. von Lea Mara Eßer. Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. SpringerGabler Verlag. Heidelberg, Berlin 2020.
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Faktor Fünf. Die Formel für nachhaltiges Wachstum. Unter Mitarbeit von Cheryl Desha und Peter Stasinopoulos. München 2010.
Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt am Main 2013.
Josef Zotter: Kopfstand mit frischen Fischen. Mein Leben – meine Überzeugungen. Erw. und aktualisierte Neuausgabe. Wolfgang Wildner & Wolfgang Schober. Riegersburg 2015.