Die Stärken der Stillen
Zurückgezogenheit ist für viele Kreative, die nicht für die Gemeinschaft geboren sind, die Bedingung des schöpferischen Arbeitens.
Schon Goethe wollte sich nicht durch den Zufluss der Realität innerlich überschwemmen lassen. Innerer Zusammenhalt war bei ihm mit dem „unentbehrlichen, scharfen, selbstischen Prinzip“ verbunden, das einem Menschen etwas Kompaktes und Undurchdringliches gibt. Franz Kafka erklärte seiner Geliebten Felice, dass Schreiben etwas Einsames ist, das jeden anderen Menschen ausschließt: „Schreiben heißt ja sich öffnen bis zum Übermaß... Deshalb kann man nicht genug allein sein, wenn man schreibt, deshalb kann es nicht still genug um einen sein, wenn man schreibt, die Nacht ist noch zu wenig Nacht.“ Auch Rilke war das Alleinsein „inmitten sehr fremder Verhältnisse Halt und Heimat“, aus der heraus werden er alle Wege fand. Der Dichter brauchte tiefste Entbehrung und seine Klause, um den Geist seiner Worte zur Vollendung zu bringen. Apple-Gründer Steve Jobs musste sich ebenfalls „abschließen“, bevor er etwas hervorbringen konnte. Richtige Entscheidungen brauchen Zeit. Wie Goethe verbannte er alles andere aus seinem Blickfeld und Geist, bis er die notwendige Ent-Scheidung im Sinne einer Scheidekunst getroffen hat. In seiner Autobiografie „iWoz“ schreibt er: Ich erwarb eine zentrale Fähigkeit, die mir meine ganze Karriere helfen sollte: Geduld. Ich meine es ernst. Geduld wird gewöhnlich völlig unterschätzt.“ (Auch schon Albert Einstein, der sich nicht für besonders intelligent hielt, sagte: „It’s not that I’m so smart. I just stay with problems longer.“) Allen, die die Welt verändern möchten, gab Steve Jobs außerdem den Rat: „Arbeite allein. Nicht in einem Gremium. Nicht in einem Team.“
Der Prozess des langsamen, analytischen, konzentrierten und stillen Denkens, das Brüten über Details, führte dazu, dass sie Herausragendes schaffen konnten. „Die Rede ist von introvertierten Menschen, die anders als Extravertierte nicht in Gesellschaft aufblühen, sondern – im Gegenteil – ihre kreative Kraft aus Momenten der Ruhe schöpfen“, schreibt Kerstin Bund in der SZ. Und sie fragt, ob all diese Kreativen und Introvertierten in der lauten und vernetzten Welt, die oft von Gruppenzwang und Teamarbeit, Großraumbüros, Meetings, Brainstormings) geprägt ist, noch eine Chance hätten. Im Vorteil seien vor allem jene, die die beste Show um sich machen und sich am besten „verkaufen“ können. Social Media ist „wie gemacht für Hier-Schreier und Trommler“. Doch Deutschland konnte nur zum „Land der Dichter und Denker, der Tüftler und Techniker werden, weil der feinsinnige Geist jener in sich gekehrten Menschen hierzulande gedeihen konnte.“
Sie sind durch das, was sie leise von innen heraus taten, etwas „geworden“ und wurden nicht von außen „gemacht“.
Auch fehlte ihnen als Eigenbrötler dazu die Biegsamkeit, die sich nicht mit einem ausgeprägten Eigensinn verträgt. Die Autorin plädiert dafür, den ausgeruhten Gedanken wieder mehr Beachtung zu schenken. Dafür braucht es Stille. Denn hier „in der Klarheit des inneren Sehens“, geschehen „die großen Dinge“ (Romano Guardini). Auch der Psychologe und Schlafforscher Jürgen Zulley rät dazu, sich dem Alleinsein auszusetzen, um sich als eigenständige Person zu begreifen. Allerdings sind wir ständig Lärmquellen oder „Angeboten“ ausgesetzt, die hörbar nebenher „laufen“. Lärm ist nicht nur ein Stressfaktor, sondern kann auch schädliche Folgen auf unsere Gesundheit haben. Immer mehr Menschen wünschen sich mehr Selbstbestimmung über ihre Zeit. Auszeiten sind Gelegenheiten für „Stille“. Allerdings hat die westliche Kultur die Muße (skolé, otium) an den Rand gestellt und gegen das Ideal der unabsehbaren Entwicklung und des Fortschritts eingetauscht. Dabei hat Muße hat nichts mit Faulenzen zu tun. Das Nichts-Tun ist die höchste Form von Frei-Sein. Für Aristoteles war sie der Kernpunkt, um den sich alles dreht: Wer sich ihr hingibt, zieht sich von der alltäglichen Welt beobachtend zurück, um dann mit erneuter Kraft wirksam und produktiv zu sein.
Zu den kritischen Beobachtern, die ihr Unbehagen an der Rastlosigkeit des Menschen äußerten, gehörte auch Goethe. Die Lebhaftigkeit des Handelns, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anwachsen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, die „rätselhafte Mobilität“ – das war die Welt, die ihn umgetrieben hat und nicht zur Ruhe kommen ließ. Nur in der Natur glaubte er Ruhe zu finden. Er war misstrauisch, wenn es darum ging, nur in sich selbst hinabzusteigen, weil man hier in der Gestaltlosigkeit schnell den Halt verlieren kann und es nichts Festes gibt. Aber draußen, im Erdreich, war das „Grundfeste“ für ihn ein stabiles Fundament. Goethe war hin und her gerissen zwischen dem Verlangen nach Ruhe und Abschirmung, nach einem Ort, wo er sein Haus zuschließen konnte, und einer Neugier, bei großen Ereignissen unbedingt dabei zu sein. Er wollte sich der Welt entziehen und gleichzeitig an ihr teilhaben. So ähnlich ist es auch mit der Stille: Umgebungslärm kann auch mit dem Gefühl verbunden sein, sich in der Gemeinschaft geborgen zu fühlen. Absolute Stille kann nicht nur als störend empfunden werden, sondern sogar krank machen. Wer immer dem Lärm ausgesetzt ist, wird stumpf - und wer sich immer der Stille hingibt, auch. Es braucht deshalb Ausgewogenheit zwischen Lärm und Stille, die heute besonders selten und kostbar ist.
Die Tage der meisten Menschen sind durchgetaktet, und die Pausen zur Gewöhnung an die Stille werden immer kürzer.
Doch sie sind unentbehrlich für unser körperliches und seelisches Wohlbefinden. Auch ist die Stille der Auszeiten die Tür zu Gedanken, die wir sonst nicht hätten, weil uns die Zeit dazu fehlen würde. Ein richtiger Umgang mit Stille und Zeit kann gelingen, wenn man nur so viel Welt in sich aufnimmt, wie auch verarbeitet werden kann. Auch sollte auf Dauerablenkung in fokussierten und konzentrierten Phasen verzichtet werden. Nur aus der der eigenen Tiefe lässt sich Substanzielles schöpfen. Deshalb ist es wichtig, beim Denken auch immer wieder auf sich allein gestellt zu sein. Das Flanieren, Allein-Herumwandern, ist für kluge Denker auch eine Übung in Sachen Aufmerksamkeit, die sich auch bei Paul Valéry findet: „Allein. Ganz für sich – / Man muß zugeben, daß das ich – nur ein – Echo ist.“ Er war einer der reflektiertesten Menschen seiner Zeit - nicht aufgrund eines regelmäßigen „geistigen Austauschs“, sondern wegen der Isolation seines Denkens. Ohne Innensteuerung sind wir reizgegängelt und „außer uns“.
Viele Menschen versuchen heute allerdings, sich selbst aus dem Weg zu gehen und vermeiden, sich allein anzutreffen. Der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin schlug vor diesem Hintergrund diese Definition von Glück vor: „Glück ist zu sich selbst zurückkommen und nicht zu erschrecken.“ Auch das Glück der Griechen (Eudaimonie) beruht auf In-sich-Gehen. Ein guter Daimon (Geist) ist deshalb auch bei jenen „am Werk“, die Außergewöhnliches durch langsames Denken in der Stille vollbringen (dem griechischen Daimon entspricht weitgehend der römische Genius). Der Ökonomienobelpreisträger und Mitbegründer der Verhaltensökonomie Daniel Kahneman unterschiedet zwischen dem schnellen, instinktiven und emotionalen Denken und dem langsameren Durchdenken. Gute Urteile hängen davon ab, wie gut man denken kann und wie man denkt. Die zentrale These seines Buches „Noise“ lautet, dass uns unsere Intuition viel häufiger fehlleitet, als uns bewusst ist. Auf sie können wir uns nur dann verlassen, wenn uns das Ergebnis einer Entscheidung nicht besonders wichtig ist. Bei Schwierigkeiten sollte möglichst rational entscheiden werden. Der Bauch ist klug, wenn vorher langsam nachgedacht wurde.
Weiterführende Informationen:
- Allein und trotzdem erfolgreich: Was das Kleinunternehmertum ausmacht
- Die Welt der Hochkreativen
- Spezialisten im Denken: Wie sie uns helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen
- Gut beraten: Wie wir bessere Entscheidungen treffen
- Zivilisation im Lärmprozess
- Kerstin Bund: Einfach mal still sein. In: Süddeutsche Zeitung (5./6./.1.2024), 45.
- Daniel Kahneman: Schnelles Denken, Langsames Denken. Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag, München 2012.
- Daniel Kahneman, Olivier Sibony, Cass R. Sustein: Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag, München 2021.
- Werner Neumüller: Die Grenzen der Rationalität. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
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