Die Welt im Krisenmodus – warum es uns hilft, dass die Komfortzone ungemütlich wird
An bestehenden Strukturen hängen Macht, Privilegien und Bequemlichkeit – es ist unwahrscheinlich, dass sie von den Profiteuren der heutigen Entscheidungs- und Führungsgeneration aufgebrochen werden. Unsere Gesellschaft ist blockiert. Um jetzt neue Lösungen zu entwickeln, brauchen wir Freiheit – wissenschaftliche, unternehmerische und gesellschaftliche.
Die Politik befindet sich weiterhin im permanenten Krisenmodus, die Wirtschaft in einer doppelten – digitalen und ökologischen – Transformation und die Gesellschaft im Dauerstress. Die allseits zitierte Zeitenwende bezeichnet den Zerfall von gleich mehreren Ordnungen, die in den vergangenen 30 Jahren prägend gewesen sind und nun an ihr Ende gelangen: ob multilaterale Globalisierung, fossile Energieversorgung, industrielle Arbeitswelt oder die lineare Mediengesellschaft.
Die Folge ist, dass wir im Widerspruch zwischen alter, noch existenter und neuer, noch nicht konturierter Welt leben. Ein Zurück aber gibt es nicht, der einzige Ausweg liegt in der Zukunft. Echter Wandel findet nicht statt – und wenn, dann zu langsam, wie beispielsweise in der Digitalisierung oder bei der Genehmigung von Windkraftanlagen. Das Problem ist, dass wir die Zukunft aus der Gegenwart denken, statt die Gegenwart aus der Zukunft.
Nichts ist der Sache abträglicher, als nur so zu tun „als ob“. Harry G. Frankfurt hat es in seinem Buch „Über Bullshit“ so beschrieben: „Bullshit ist unvermeidlich, wenn Umstände von uns verlangen, über etwas zu reden, wovon wir keine Ahnung haben.“ Es täuscht Wissen vor, wo keines ist, und gute Absicht, die es nicht gibt. Und so ist es mit dem Wandel: Wir imitieren ihn. New Work wird mit Homeoffice verwechselt, Klimaverantwortung wird mit Greenwashing vorgetäuscht, und digitale Transformation beginnt mit bunten Stühlen, deren Unbequemlichkeit uns lediglich aus der Komfortzone reißt. Auf allen Abendveranstaltungen wird Wandel gepredigt, doch schon am nächsten Tag verfallen wir in alte Verhaltensmuster. Warum tun wir uns so schwer mit dem Wandel?
Wir wollen den Wandel, aber nicht die Veränderung. Wir wollen die Freiräume, aber nicht die Verantwortung. Das klingt paradox? Ist es auch. Es geht um das Change- und das Agilitätsparadox. Das Change-Paradox besteht darin – frei nach Albert Einstein –, das Gleiche zu tun, aber ein anderes Ergebnis zu erwarten. Das Agilitätsparadox besteht darin, dass wir uns zuerst gegen die Risiken der Agilität absichern wollen, bevor wir sie zulassen können. Nun bedeutet Agilität aber gerade die Fähigkeit, mit unerwarteten Ereignissen besser umgehen zu können, und Change die Fähigkeit, in veränderten Situationen anders handeln zu können.
Wandel geschieht notwendig aus den alten Strukturen heraus, findet aber nie innerhalb dieser Strukturen statt. „Aufbrechen“ hat daher zwei Bedeutungen: Losgehen und Loslassen. Die wichtigste Voraussetzung für Wandel ist die Veränderung der Strukturen selbst. Bestehende Strukturen haben jedoch ein großes Beharrungsvermögen. An ihnen hängen Macht, Privilegien und Bequemlichkeit. Diese zu durchbrechen ist wohl die schwierigste Hürde, weil diejenigen, die sie haben, bereit sein müssen, sie aufzugeben. Systemtheoretisch und organisationspsychologisch spricht wenig dafür, dass diese Strukturen ausgerechnet von ihren Profiteuren, der heutigen Entscheidungs- und Führungsgeneration, aufgebrochen werden.
In einer komplexer und ungewisser werdenden Welt sehnen wir uns nach Einfachheit und Sicherheit. Doch die Antwort auf Komplexität ist nicht mehr Kontrolle, sondern die Fähigkeit zu Ergebnisoffenheit, und die Antwort auf Ungewissheit ist nicht mehr Sicherheit, sondern die Fähigkeit zur Imagination. Denn die Natur von Komplexität ist die prinzipielle Unkontrollierbarkeit und das Wesen von Ungewissheit die prinzipielle Unsicherheit. Doch die bestehenden Strukturen, in den Unternehmen, in der Verwaltung und auch – dort am fatalsten – in der Bildung, sind auf fehlerfreie, kreativlose Wiederholung ausgelegt, nicht aber auf Ergebnisoffenheit und Imagination.
Die Gesellschaft wirkt erschöpft, einerseits durch die vielen Krisen, andererseits durch die dauerhysterischen Debatten in den sozialen Medien. Wir lähmen uns durch Anfeindung, Verzagtheit und Verbote, wo Zusammenhalt, Zuversicht und Neugier vonnöten wären. Gerade nach Corona wirkt ein Teil der Gesellschaft resigniert, der andere phlegmatisch. Ohne Freude an kreativer Veränderung aber und ohne empathisches Verständnis für unterschiedliche Perspektiven wird es keinen gemeinsamen Wandel geben. Doch wenn wir heute in die Gesellschaft gucken, ist weder von Freude noch von Empathie viel zu sehen.
Der Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn hat untersucht, wie es zu Paradigmenwechseln kommt. Herrschende Paradigmen geraten in Widerspruch zu neuen Phänomenen. Die Inkommensurabilität von Erklärung und Beobachtung unter dem herrschenden Paradigma führt erst zur Infragestellung und schließlich zu dessen Verwerfung. Einer der bekanntesten und folgenreichsten Paradigmenwechsel war die Kopernikanische Wende, die sich dadurch vollzog, dass das herrschende geozentrische Weltbild unvereinbar wurde mit wissenschaftlicher Beobachtung und Erkenntnis. Die Autorität der Kirchen geriet gleich mit ins Wanken. Es ist eine wichtige Erkenntnis, dass Paradigmenwechsel eine Befreiung vom Alten und die Freiheit für Neues bedeuten.
„Wir können nicht mit derselben Denkweise die Probleme lösen, durch die sie entstanden sind“, sagte einst Albert Einstein, der sich wie kaum ein anderer die Freiheit herausnahm, sich über Konventionen und dogmatische Lehrmeinungen hinwegzusetzen, das Unmögliche zu denken. Dazu gehört neben der Freude und dem Mut zum Unkonventionellen auch die Freiheit. Andershandeln ist nur möglich, wenn wir die Freiheit dazu haben. Es ist richtig und notwendig, wenn Politik ambitionierte Ziele verkündet und regulatorische Vorgaben macht. Doch unser Wissen über die Zukunft ist unvollständig und vorläufig. Es braucht Freiheit – wissenschaftliche, unternehmerische und gesellschaftliche –, um neue Lösungen zu entwickeln. Freiheit braucht und schafft zugleich Optimismus. Schon Karl Popper, der mit dem Kritischen Rationalismus zeigte, dass alles Wissen vorläufig ist, und zugleich um die Kraft der Freiheit wusste, sah im Optimismus geradezu eine moralische Pflicht des Menschen.
Die Forderung nach mehr Leadership in der Zeitenwende ist vielleicht nur der Ruf nach mehr Freiheit für den Wandel. Fortschritt gibt es nicht durch Deformation der alten Welt, sondern durch Formation einer neuen.