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Offener Brief an Greta Thunberg und die Fridays-for-Future-Aktivisten von Giselheid Schulz-Ëberlin. - Giselheid Schulz-Ëberlin

Digitalisierung und Nachhaltigkeit: Wer schreibt heute noch Briefe?

Der verlorene Brief

Briefe sind nicht nur ein freundlicher Schubs wie E-Mails oder SMS, sondern eine romantische „Liebkosung“, die stets auf eine Neuentdeckung wartet - auch und gerade im digitalen Zeitalter. Allerdings beklagte schon 1976 Jean Améry in seinem Essay „Der verlorene Brief“ den Niedergang der guten Sitten und der Briefkultur: „Nichts ist demütigender als das ins Leere gesprochene Brief-Wort.“ Die Trauer um das Verlorene findet sich auch im Buch „Der Alltag der Welt“ von Karl-Markus Gauß. Noch das freundlichste E-Mail würde uns diese Achtung verweigern: „Dass es schnell verfertigt wird, zum sofortigen Verschleiß bestimmt ist und aus seriellen Versatzstücken und Abkürzungen besteht, das macht ein E-Mail – mit all den praktischen Vorteilen, die es bietet – ja gerade aus.“

In Zukunft würden angeblich nur noch 2,5 Prozent aller Texte mit der Hand geschrieben, heißt es immer wieder. Die pessimistische Prophezeiung wird allerdings von der Gegenwart überstrahlt, denn viele Menschen möchten nicht auf das handschriftliche Briefeschreiben verzichten, weil sie mit der Begreifbarkeit der Dinge und des Lebens unmittelbar verbunden ist. „Ich liebe es, Briefe zu schreiben: an einen Menschen denken, zu ihm hindenken und dann die Worte fließen lassen, Worte sich setzen lassen, Worte setzen. Ich liebe es, von Hand zu schreiben und möchte das Gefühl und leise Geräusch, wenn sich der Füller mit feinen Schwüngen über das Papier bewegt, nicht missen“, sagt Giselheid Schulz-Ëberlin. Ihre Vorliebe für das geschriebene Wort nutzt sie auch in ihrer Tätigkeit als Coach entlang der Themen Sinn, Sein, Sehnsucht und Schreiben. Hier setzt sie auch auf die Techniken des „Schreibdenkens“ Der Begriff basiert auf dem gleichnamigen Buch von Ulrike Scheuermann (2016). Giselheid Schulz-Ëberlin lebt in Göttingen und ist Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft Autismus Spektrum und der Logosynthesis International Association. So bietet sie sowohl die Kontaktaufnahme als auch die Kontaktpflege zwischen den Coachingterminen mittels Briefpost an.

Das Internet: Freund der analogen Post

In Zeiten des digitalen Wandels wird der handgeschriebene Brief, die Liebe zum Papier, zum Handlettering, zum Schreiben und zum Lesen wieder sehr geschätzt. Es ist ausgerechnet das Internet, der einst erklärte Feind der „analogen Post“, das dazu beiträgt, dass sich immer mehr immer mehr Gleichgesinnte finden. In der virtuellen Welt wird diese Proustsche „Erinnerung an vergangene Dinge“ multipliziert und verstärkt: „Nichts ist nostalgischer als das Aufkommen der Handschriftlichkeit im Web.“ Dem Trend zur Onlinekommunikation zum Trotz steigt die Zahl der Menschen, die beim Schreiben buchstäblich Hand anlegen und die Briefkultur am Leben erhalten möchten.

Der amerikanische Blogger Shaun Usher sammelt seit Jahren schöne, traurige und skurrile Notizen und veröffentlicht sie auf seiner Website Lists of Note. Auf Deutsch erschien 2014 sein Buch „Letters of Note - Briefe, die die Welt bedeuten“. Die Sammlung enthält 125 unterhaltsame und ungewöhnlichste Briefe der Weltgeschichte. Etliche Beispiele finden sich auch im Buch über die Liebe in Worten: „Briefe“ von Simon Garfield. Geschichte und Geschichten aus 2000 Jahren sind hier auf schönste Weise miteinander verbunden. Auch das Beispiel von Charlie Brown darf hier nicht fehlen: Jeden Tag wartete er auf eine Karte oder einen Brief – aber umsonst. Als er es in seinem Comic nicht schaffte, auch nur eine einzige Karte zu erhalten, und als die Demütigung durch die Ausstrahlung des Zeichentrickfilms „Ich schwärme für Dich“ (Be My Valentine, Charlie Brown) im Fernsehen gezeigt wurde, schickten ihm mitfühlende ZuschauerInnen Hunderte von Karten: „so sehr zu Herzen geht die Post“.

Handgeschriebene Briefe

• machen unser Leben innerlich reicher, denn sie enthüllen Motive und vertiefen unser Weltverständnis.

• stärken unser ökonomisches und emotionales Wohlbefinden.

• schärfen den Blick für unsere Geschichte und ihre Feinheiten.

• wecken unsere Achtsamkeit und lassen uns Anteil am anderen nehmen.

• stehen für Individualität und Authentizität.

• haben eine Form von Integrität an, die anderen Arten der schriftlichen Kommunikation fehlt.

• sind wichtig für unser Selbstverständnis und Selbstwertgefühl.

• haben (bis auf einige Ausnahmen) ein unbegrenztes Haltbarkeitsdatum.

Mit Brief und Siegel

Briefe werden durch die Stimmung des Schreibenden bestimmt und stehen zwischen Einsamkeit und Geselligkeit. Eine Lesart aus der Antike legt nahe, dass Briefe halbierte Dialoge sind, die das Gespräch mit dem abwesenden Adressaten ersetzen. Briefe schaffen nicht nur eine nachhaltige Verbindung zwischen Menschen, sondern sind auch „Überlebensmittel“, weil sie Halt und Trost geben können in schweren Zeiten. Die Gladbacher Fußballlegende Rainer Bonhof hat Uli Hoeneß viele handgeschriebene Briefe ins Gefängnis geschickt. „Ich habe beim Lesen mit Tränen in den Augen in meinem Bett gesessen”, sagte Hoeneß nach seiner Haftentlassung zu Beginn seiner Laudatio (seine „Nicht-mehr-schlafen-können-Rede“) anlässlich der Verleihung des Ehrenrings der Stadt Mönchengladbach an seinen langjährigen Freund Jupp Heynckes.

Das Beispiel von Uli Hoeneß ist nichts anderes als das, was Virginia Woolf unter Briefeschreiben verstand - nämlich „die humane Kunst, die ihren Ursprung der Freundesliebe verdankt“. Nicholson, der Sohn von Harold Nicholson und Vita Sackville-West, sagte über Woolf: „Ein Brief war ein Weinglas, das ihre Wonnen fasste, oder auch ein Sumpf für ihre Verzweiflung.“ Die Welt der Freundschaft ist auch die Welt der Briefe: So erhielt Egon Bahr nach dem Tod von Willy Brandt einen Brief von einem seiner Söhne, in dem von seiner letzten Begegnung mit seinem Vater berichtet. Der Sohn habe den Vater gefragt: „Wer waren deine Freunde? Willy Brandt antwortete nur: Der Egon.“ Diesen Brief bezeichnet er als „die höchste Auszeichnung“, die er je im Leben erhalten hat.

Die Moderatorin Bettina Böttinger berichtet von einem berührenden Brief einer verstorbenen Freundin, den sie zum Abschied erhielt. Daraus las sie ihre Bedeutung für die Freundin heraus: „Man sucht sich nicht aus, ob man jemandem wichtig ist.“ – „Aber wenn man ausgesucht wird, dann liegt darin auch eine Verantwortung“, der sie versucht hat, gerecht zu werden. Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth berichtet, dass sie gerade zur Weihnachtszeit, wenn sie hunderte Briefe schreibt, sehr aufmerksam am Posteingang wahrnimmt, wer ihr wirklich zugewandt ist: „Manchmal ist sie überrascht von sehr persönlichen Schreiben und fühlt, „das hat etwas mit mir zu tun“. Aber sie erhält auch Karten, die nur mit einer Unterschrift versehen sind von Menschen, „von denen sie Innigeres erwartet hätte“.

Der Publizist Manfred Bissinger steckt seinen Lebensfreunden regelmäßig etwas in einen Briefumschlag, das sie interessieren könnte: Oft reißt er Zeitungsseiten aus und versieht sie mit einem postalischen Gruß. An jedem Wochenende kommt er so auf zehn bis zwanzig Karten und kleine Briefe. Mit solchen Zusendungen mag er am liebsten einen Dialog eröffnen, der alle Beteiligten gleichermaßen bereichert und erfüllt. Auch Katja Kraus, die Autorin des Buches „Freundschaft“, in dem sich diese Beispiele finden, mag den Weg zu ihrem Briefkasten nun noch ein bisschen lieber, weil sie dort regelmäßig ein Konvolut aus Zeitungsartikeln oder eine literarische Leseempfehlung erwartet. Am schönsten findet sie die dazugehörigen Briefe, die ihr in „bemerkenswerter Schönschrift erklären, warum diese Geschichte, jenes Buch lesenswert“ für sie sind.

Das Schreiben mit der Hand ist zugleich ein Training des Denkens. Ein guter Autor hört damit niemals auf, weil er den täglichen Akt des Schreibens braucht, um etwas aus sich herauszutreiben, von dem er vor dem Schreiben „vielleicht gar nichts wusste“ (Karl-Markus Gauß). Erst in diesem Prozess entdeckt er sich selbst und die Welt.

Wie Nachhaltigkeitsunternehmen die Briefkultur fördern

Nachhaltigkeitsorientierte Unternehmen, zu denen beispielsweise Manufaktum oder memo gehören, glauben noch an die Kraft der guten alten Dinge. Ihnen geht es nicht nur um das Bewahren einer Kulturtechnik, sondern auch um das, was ein nachhaltiges Briefprodukt ausmacht. „Direktrecycling“ heißt zum Beispiel ein innovatives Verfahren, bei dem der Rohstoff Altpapier sofort zu neuen Produkten verarbeitet wird. Claudia Silber, die beim Ökoversender in Greußenheim die Unternehmenskommunikation leitet, freut sich immer, wenn sie im Büro Post erhält und sieht, dass auch andere ihre Korrespondenz damit verschicken und Wert auf die Geschichte dahinter legen: Die Briefumschläge und Versandhüllen waren einmal Plakate, Kalender, Industriepapiere oder Landkarten. Im Gegensatz zum herkömmlichen Papierrecycling entfällt der Verbrauch von Wasser, Energie und weiteren Aufbereitungsstoffen. Eine Studie des Öko-Instituts e.V. belegt die hervorragende Umweltbilanz der Direktrecycling-Produkte:

• Recyclingpapier mit 100 % Altpapiereinsatz hergestellt und mit dem "Blauen Engel" ausgezeichnet

• Die Fenster sind aus Pergamin und zusammen mit dem Kuvert recycelbar.

• Das Papier für die Recyclingkuverts wird ohne Bleichung, Färbung oder Entfärbung (De-Inking) hergestellt.

• Für den Innendruck kommt die Ökofarbe „EcoRecyColor“ zum Einsatz. Sie lässt sich im Recyclingprozess vollständig von der Papierfaser trennen.

• Die verwendeten, wasserlöslichen Leime sind rückstandslos abbaubar.

• Die Fensterfolie ist auf Basis nachwachsender Rohstoffe hergestellt und von der Deutschen Post AG für die maschinelle Kuvertierbarkeit zertifiziert.

• Die bei der Papierherstellung selbst anfallenden CO2-Emissionen werden ebenso wie die Emissionen aus dem Produktionsprozess durch die Investition in ökologisch hochwertige Klimaschutzprojekte kompensiert.

Weiterführende Informationen:

Karl-Markus Gauß: Der Alltag der Welt. Zwei Jahre, und viele mehr Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015.

Simon Garfield: Briefe! Ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege und den Mann, der sich selbst verschickte. Konrad Theiss Verlag 2015.

Katja Kraus: Freundschaft. Geschichten von Nähe und Distanz. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2014.

Christian Mähler: Stift und Papier – analoge Multitalente. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2017.

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Dinge des Lebens im Zeitalter der Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2017.

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Kommentare

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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