E-Commerce und Digitalisierung im Mittelstand: Interview mit Dr. Daniel Münter
Dr. Daniel Münter, Jahrgang 1974, ist Digitalisierungsexperte, Sparringspartner, Visionär und Lösungsspezialist. Seit 2016 arbeitet er als freiberuflicher Berater und Software-Entwickler (vornehmlich Digitalisierung von Geschäftsprozessen im Bereich eCommerce). Von 1993 bis 2001 arbeitete er als Polizeibeamter in Berlin. Sein Abitur holte er von 2002 bis 2004 im 2. Bildungsweg am Niederrhein-Kolleg in Oberhausen nach. 2004 bis 2009 Studium der Angewandten Informatik an der Universität Duisburg-Essen, parallel Software-Entwickler u. a. bei HSBC Trinkaus & Burkhardt in Düsseldorf. 2010 bis 2013 Promotion an der Universität Duisburg-Essen mit dem Thema „Fahrer- und situationsgerechte Navigationsunterstützung im Fahrzeug“. Während dieser Zeit arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Lehrstuhl für Interaktive Systeme und Interaktionsdesign. Von 2013 bis 2016 Aufbau und Leitung der Abteilung eServices im Bereich Produktmanagement bei einem internationalen Konzern (Schwerpunkt: Digitalisierung von Geschäftsprozessen, Entwicklung neuer digitaler Geschäftsmodelle).
Herr Dr. Münter, weshalb ist automatisierte Softwareentwicklung neben kulturellen und strukturellen Unternehmensfaktoren der Schlüssel zum Digitalisierungserfolg?
Die wachsenden Anforderungen an Unternehmen und die damit verbundene zunehmende Komplexität ihrer IT-Strukturen lassen sich mittelfristig nur beherrschen, wenn automatisierte Softwareentwicklung zum Standard wird. Kunden (Anwender) wollen zunehmend in die Lage versetzt werden, durch immer schnellere und fortlaufende Bereitstellung neuer Softwarefunktionen ihre eigenen Prozesse und damit ihre Wertschöpfung zu verbessern. Das erfordert von Unternehmen immer kürzere Entwicklungszyklen bei gleichzeitig steigenden Qualitätsanforderungen. Agile Ansätze wie Scrum ermöglichen eine effizientere Softwareentwicklung, indem sie in sogenannten Sprints Ergebnisse schneller verfügbar machen. Vollautomatisierte Prozesse für Test, Integration und Auslieferung der entwickelten Software unterstützen dabei die Qualitätssicherung.
Was bedeutet digitale Transformation, wie und wo äußert sie sich? Wie wirken sich bereits heute Hardware, Software und digitale Services auf uns, unser privates, geschäftliches und gesellschaftliches, kulturelles und politisches Umfeld aus?
Die digitale Transformation wird gemeinhin als fortlaufender Veränderungsprozess beschrieben, der im Wesentlichen durch digitale Technologien getrieben wird. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich ermöglichen die neuen Technologien zwar Lösungen für teils sehr alte Problemstellungen, die Suche nach derartigen Lösungen hat jedoch nicht erst mit der Entwicklung neuer digitaler Technologien begonnen, sondern sie zum Großteil selbst ausgelöst. Es handelt sich also um eine Wechselwirkung von Bedarf und Möglichkeiten. Ebenso ist die digitale Transformation keineswegs eine rein unternehmerische Herausforderung.
Vielmehr betrifft sie sämtliche Bereiche der Gesellschaft und greift zum Teil sogar tief ins Privatleben der Menschen durch. So ermöglicht etwa die zunehmende Vernetzung neuartige flexiblere Beschäftigungsmodelle, bei denen Mitarbeiter bei freier Zeiteinteilung zu Hause aus arbeiten können. Das private Heim wird so (zumindest teilweise) zum Arbeitsplatz, was wiederum weitreichende Konsequenzen für die Art hat, wie Menschen zusammenleben. Häufig empfinden Menschen die neuen Technologien noch als Bedrohung. So wird etwa befürchtet, dass Arbeitsplätze überflüssig oder sensible Informationen ausgespäht würden. Wir Menschen müssen jedoch lernen, mit dieser neuen Transparenz umzugehen. Wir müssen eine völlig neue Denkweise entwickeln, um uns den großartigen Potenzialen der Digitalisierung zu öffnen. Es handelt sich also vor allem um einen kulturellen Wandel.
Wie lässt sich Software in Richtung nachhaltige Entwicklung steuern?
Energie- und Ressourceneffizienz, Wiederverwendbarkeit oder allgemeine Verfügbarkeit sind nur einige Aspekte, die eine nachhaltige Softwareentwicklung kennzeichnen. Durch effizientere Algorithmen lässt sich bspw. der Stromverbrauch von Computern senken, was sich wiederum nachhaltig auf das Klima auswirken kann. Modular entwickelte und gut dokumentierte Software kann wiederverwendet werden. Das verbessert ihre Wartbarkeit und damit den Ressourcenaufwand. Der Zugang zu Software sollte grundsätzlich allen Menschen ermöglicht werden, andernfalls werden sie von dem digitalen Wandel ausgeschlossen.
Vor welche Aufgaben stellt die Digitalisierung den Bereich E-Commerce?
Dieser Bereich ist - wie der Name schon andeutet - bereits Teil des digitalen Wandels, da viele Aspekte bereits elektronisch ablaufen. Wie in nahezu allen anderen Bereichen gibt es aber auch hier noch sehr viele Prozesse, die heute noch den manuellen Eingriff von Menschen erfordern und damit immer auch eine potenzielle Fehlerquelle darstellen. Während große Unternehmen wie Amazon ihre Prozesse bereits seit Jahren weitestgehend automatisiert haben, werden gerade bei kleineren Unternehmen Bestellungen in der Regel noch vollständig manuell bearbeitet. Auch die Buchhaltung wird zumeist von derselben Person in mehrstündigem Einsatz manuell durchgeführt.
Die Herausforderung liegt hier üblicherweise in der Überzeugung des Unternehmers, dass er/sie durch eine Digitalisierung der Geschäftsprozesse viel Zeit und damit auch Geld sparen kann. Das Beispiel Buchhaltung eignet sich hier hervorragend zur Veranschaulichung. Verbringt ein Unternehmer monatlich etwa zwei Tage damit, seine Ein- und Ausgangsrechnungen zu sortieren und in die Bücher einzutragen, lässt sich dieser zeitliche Aufwand durch Integration einer Buchhaltungssoftware in den Onlineshop und gleichzeitiger Entwicklung automatischer Buchungsprozesse auf etwa eine Stunde pro Monat reduzieren. Die so eingesparten ca. fünfzehn Monatsstunden können dann für andere Tätigkeiten genutzt werden oder stehen sogar als zusätzliche Freizeit zur Verfügung. Selbst in Fällen, in denen bereits ein Steuerberater den sprichwörtlichen "Schuhkarton" bearbeitet, lässt sich durch die Automatisierung bares Geld sparen, da sich der Aufwand und damit die Kosten für den Steuerberater minimieren. Vielen Unternehmern ist allerdings noch gar nicht bewusst, welch enormes Einsparpotenzial ihr Unternehmen birgt. Ebenso fehlt häufig noch die Bereitschaft, sich von traditionellen Methoden zu lösen und neuen Möglichkeiten zu öffnen.
Welchen Einfluss haben die sozialen Medien im E-Commerce?
Die sozialen Medien haben sich in den vergangenen Jahren zu einem sehr wichtigen Vertriebskanal entwickelt. Ohne Online-Marketing kommt heute kein Unternehmen mehr aus. Neben dem einfachen Auffinden eines Shops lassen sich Waren inzwischen direkt über Amazon, eBay oder Google vertreiben. Auch soziale Netzwerke wie Facebook und Instagram haben das enorme Potenzial erkannt und entwickeln sich zunehmend zu richtigen Marktplätzen. Damit treten sie in direkten Wettbewerb mit etablierten Plattformen wie Google und Amazon. Nahezu alle Plattformen bieten entsprechende Schnittstellen an, durch deren Integration Produkte eines Onlineshops unmittelbar in den jeweiligen Kanal publiziert und damit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. Dies sorgt gleichzeitig für immer stärkeren (auch internationalen) Wettbewerb - nicht nur für den Shopbetreiber, sondern auch für die Plattformen untereinander. Gerade soziale Netze erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Ihr Ziel ist es, den Benutzern möglichst viele Bedürfnisse aus einer Hand zu erfüllen, um sie solange wie möglich auf ihrer Plattform zu halten.
Künftig wird es möglich sein, allein aus dem Chatverlauf eines Benutzers in Echtzeit zu ermitteln, welche Bedürfnisse er gerade hat. Erkennt eine Software bspw., dass ein Benutzer gerade hungrig ist, kann sie ihm sofort und direkt in der Anwendung entsprechende Vorschläge zum Konsum anbieten. Je umfangreicher und je genauer respektive besser diese Bedürfnisbefriedigung erfolgt, desto länger wird der Benutzer die jeweilige Anwendung nutzen. Durch fortlaufende Bereitstellung immer neuer Funktionen innerhalb einer Anwendung können so irgendwann nahezu alle Lebensbereiche der Nutzer abgedeckt werden. Es wird künftig also darum gehen, welche Anwendung die Bedürfnisse ihrer Benutzer am besten erkennt und befriedigt. Aus sozialen Netzwerken werden so zunehmend richtige Dienstleistungsplattformen.
Welche Trends werden künftig den Onlinehandel bestimmen?
Es wird darum gehen, den Kunden (Benutzer) zu erkennen, seine Bedürfnisse zu ermitteln und schließlich zu befriedigen. Vermutlich werden in absehbarer Zukunft kleinere Onlineshops zumindest als direkte Anlaufstellen für Konsumenten an Bedeutung verlieren, weil deren Waren von den großen Anbietern zu wesentlich günstigeren Konditionen angeboten werden. Zudem investieren die großen Plattformen enorm viele Ressourcen in die Weiterentwicklung und insbesondere in künstliche Intelligenz. Da werden kleine Unternehmen abgehängt, ihnen fehlt es an Know-how und finanziellen Mitteln. Stattdessen müssen sie sich so gut wie möglich auf den großen Plattformen präsentieren, um darüber ihre Produkte und Dienstleistungen verkaufen zu können. Aus den heutigen Onlineshops werden dann eher Managementsysteme, über die die verschiedenen Vertriebskanäle verwaltet werden können. Der Kundenkontakt fällt möglicherweise vollständig weg, während der Schwerpunkt auf Logistik und Buchhaltung liegen wird.
Stationärer und webbasierter Handel werden zudem immer stärker verschmelzen. Lokale Geschäfte werden mehr zu Showrooms, weil Waren schnell über digitale Kanäle geordert werden können und nicht mehr vor Ort vorgehalten werden müssen. Eine "Echtzeit"-Lieferkette mit ausgeklügeltem Zuliefer-Management sorgt dennoch für schnelle Verfügbarkeit und Auslieferung an den Kunden.
Warum gilt Deutschland als schwieriger Markt für den Online-Lebensmittelhandel?
Dafür gibt es meines Erachtens zwei Ursachen: erstens fehlt es den Konsumenten noch an Vertrauen. Während Lieferdienste für Getränke sich bereits einer wachsenden Beliebtheit erfreuen, sind die Konsumenten bei Frischware noch skeptisch, ob sie von einem Lieferservice dieselbe Qualität erhalten, als würden sie selbst die Produkte auswählen. Hinzu kommen die verschiedenen rechtlichen Rahmenbedingungen (z.B. Hygienevorschriften), die es Unternehmen erschweren, in diesem Bereich Fuß zu fassen. Aktuellen Erhebungen zufolge sind auch die Kosten derzeit noch zu hoch, um in diesen Markt konsequent einzusteigen. So geben die großen Lebensmittelketten beinahe übereinstimmend an, in diesem Segment bislang nur Verluste einzufahren. Gleichzeitig befürchte man eine sinkende Nachfrage im Bereich des stationären Handels. Aus diesen Gründen wird das Segment bislang nur unzureichend bedient.
Wie weit ist die Digitalisierung im Mittelstand angekommen, und wo besteht Nachholbedarf?
Seit Jahren bringen Umfragen immer das gleiche Ergebnis zu Tage: KMUs befassen sich noch immer nicht oder nur unzureichend mit diesem Thema. Viele wissen inzwischen zwar, dass sie hier aktiv werden sollten, häufig jedoch noch nicht, was genau sie tun oder wie und wo sie starten sollen. Hier sind Digitalisierungsberater gefragt, die neben der Initialen Überzeugungsarbeit zur grundsätzlichen Veränderungsbereitschaft auch Hilfestellung geben und die Unternehmen auf dem Weg ins digitale Zeitalter begleiten.
Was sind die Gründe für das teilweise zögerliche Verhalten des Mittelstands, dem die Digitalisierung nicht nur Chancen, sondern auch zahlreiche Herausforderungen bringt?
Der Hauptgrund ist leider oft ein falsches Mindset. Ein Unternehmen, das heute stabile Gewinne mit seinen Produkten erzielt, sieht sich nicht in der Situation, etwas an seinem Geschäftsmodell zu ändern. Digitalisierung bedeutet für viele Unternehmen aber gerade eine neue und vor allem ungewisse Zukunft. Geschäftsmodelle müssen hinterfragt und etablierte Prozesse neu gestaltet werden. Es genügt heute auch nicht mehr, im Kleinen zu optimieren. Vielmehr müssen die Dinge als großes Ganzes betrachtet werden. Bedauerlicherweise bremsen in vielen Unternehmen die starren Hierarchien Innovationen, im schlechtesten Fall verhindern sie sie sogar vollständig.
Indem digitale Systeme miteinander vernetzt und Daten elektronisch ausgetauscht werden, lassen sich Informationen deutlich schneller teilen und miteinander verknüpfen. Inwiefern können mittelständische Unternehmen davon profitieren?
Häufig können aus den verknüpften Informationen neue Erkenntnisse gewonnen werden, die sich dann zur Verbesserung bestimmter Prozesse nutzen oder sogar eigenständig vermarkten lassen. So können bspw. aus Sensordaten Informationen zu Beanspruchung und Verschleiß von Maschinen oder Fahrzeugen gewonnen werden. Wird auf dieser Basis die Dauer von Wartungsintervallen oder die Verwendung bestimmter Schmierstoffe dynamisch angepasst, kann die Lebensdauer von Maschinen verlängert und damit der Kostenaufwand gesenkt werden. Ergeben sich durch Aggregation von Daten neue wertvolle Informationen, so können diese vermarktet werden, selbst, wenn sie für das jeweilige Unternehmen selbst von Interesse sind. So entstehen unter Umständen völlig neue Geschäftsfelder.
Durch Nutzung sogenannter Microservices lassen sich zudem teure Eigenentwicklungen vermeiden. Richtig orchestriert können solche Services (SaaS) Teile von Prozessen oder sogar ganze Prozesse ersetzen und dabei Kosten verringern. Bereits heute werden Bewegungsdaten aus Fahrzeugen verwendet, um Ankunftszeiten bei der Tourenplanung zu ermitteln und die entsprechenden Slots beim Logistikzentrum zu buchen. Das reduziert unnötige Wartezeiten, weil die Abwicklung viel effizienter erfolgen kann. Ebenso lassen sich Frachtenbörsen nutzen, um die Auslastung von Fahrzeugen zu verbessern und teure Leerfahrten zu reduzieren.
Wie können vor allem KMUs gegenüber der digitalen Transformation offener werden?
Durch Aufklärung und Beratung. Potenziale sind nicht immer sofort erkennbar. Digitalisierung darf nicht als teure Spielerei wahrgenommen werden, sondern muss als notwendige Veränderung gesehen werden, die einem Unternehmen die Existenz sichert. Jedes Geschäftsmodell ist nur solange erfolgreich, bis ein neues Geschäftsmodell entwickelt wird, das das Bestehende obsolet macht. Den Unternehmen muss klar werden, dass kein Geschäftsmodell dauerhaft sicher ist. So, wie CDs von den Streamingdiensten verdrängt wurden, werden künftig auch viele andere Geschäftsmodelle durch neue ersetzt. Statt sich also auf alten Verdiensten auszuruhen, muss Raum für Innovationen geschaffen werden.
Vielen Dank für das Gespräch.