„Einmischung erwünscht“: Wo sind die Intellektuellen geblieben?
Das Verschwinden der Intellektuellen
„Wir Autoren sind die geborenen Einmischer, wir mischen uns ein […]. Das klingt idealistisch, ist es aber nicht. Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.“ Heinrich Böll
Wo sind jene klugen Köpfe geblieben, die auch in einer aus den Fugen geratenen Welt noch klar denken können und deren Wort persönliches und gesellschaftliches Gewicht hat? Vielfach wird ihre gesellschaftliche Rolle heute von Social-Media-Stars und „Kreativen“ in den Medien übernommen. Plattitüden ersetzen dann Argumente und Programme.
Gewiss brauchen wir Kreative, weil sie eine nachhaltige Kraft des kulturellen Lebens sind, aber nur hier und da eine Initiative und ein paar Statements, die häufig austauschbar sind, reichen nicht, um heute Orientierung zu bieten, zu informieren (statt zu unterhalten) und aufzuklären über das, was richtig und gerecht ist. Was es heute braucht, ist ein nachhaltiger Effekt, der viele Menschen unterschiedlichster Gesellschaftsschichten gleichermaßen berührt, der Kopf und Herz, Verstehbarkeit und Gestaltbarkeit verbindet.
Doch die ökonomischen, institutionellen und kulturellen Angelegenheiten werden inzwischen „von den politischen und administrativen Kräften und den Lobbygruppen entschieden“, unter denen die Intellektuellen „durch Abwesenheit“ glänzen, konstatierte der peruanische Schriftsteller, Politiker und Journalisten Mario Vargas Llosa schon vor einigen Jahren. In seinem Buch „Alles Boulevard“ zeichnet er den Weg des Intellektuellen, dessen Bezeichnung erst im neunzehnten Jahrhundert aufkam: im Frankreich der Dreyfus-Affäre und der Polemiken, die Émile Zola mit seinem berühmten „J’accuse“ entfachte.
Die Teilnahme denkender und schöpferischer Geister am öffentlichen Leben, an politischen, philosophischen und religiösen Debatten reicht allerdings schon bis ins Abendland zurück: Es gab sie bereits zu Zeiten Platons und Ciceros, in der Renaissance und in allen Zeiten danach. Der Mediologe Régis Debray sah die Aufgabe des Intellektuellen nicht darin, Liebenswürdigkeiten zu verteilen, „sondern zu sagen, was ist“. Der Intellektuelle muss aufdecken, was nicht in der „Selbsthervorbringung der Gesellschaft auftaucht" (Jean Ziegler).
Das ist eine enorme Herausforderung, denn das Verborgene (die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Interessen sowie die ideologischen und sozialen Strategien der gesellschaftlichen Akteure) wurde und wird vielfach absichtlich versteckt. In der Vergangenheit suchten Politiker immer wieder die Nähe zu Intellektuellen wie Heinrich Böll, Günter Grass oder Vaclav Havel. Heute sieht man Politiker Arm in Arm höchstens mit Schauspielern, Fußballstars oder Rocksängern.
Ein wirkungsloser Schein-Ersatz, der nicht davor schützt, im Chaos der Welt zu versinken.
Die Sprache einiger Politiker ist auch der Ausdruck ihrer Welt. Wie banal sie ist, beschrieb Roger Willemsen, einer der letzten großen Intellektuellen, die wir in Deutschland hatten, in seinem Buch „Das Hohe Haus“. Um zu den Intellektuellen vorzudringen, die uns heute Orientierung bieten und auch jungen Menschen ein Vorbild sein können, müssen wir das Hohe Haus verlassen und hinabsteigen in den kulturellen Nährboden des wahren Denkens. Die ihn bereitet haben und pflegen, zeigen uns nicht nur die Fülle des Lebens, sondern auch die Fülle der Möglichkeiten unseres Handelns in schwierigen Zeiten. Sie tätscheln keine Schauspieler und Sportler und biedern sich nicht an, sondern halten ihre Hand schützend über alles, was auf dieser Erde lebt.
Kluge und lebenspraktische Intellektuelle sind daran zu erkennen, dass sie ihre Aufgabe in den Mittelpunkt stellen und nicht sich selbst. Sie denken, fühlen und handeln über ihr Fachgebiet hinaus und schaffen interessante Querverbindungen zwischen allen Bereichen des Lebens. Vor allem aber lassen sie Menschen an der Unmittelbarkeit ihrer Erfahrungen teilhaben. Sinn, Verstehbarkeit und Gestaltbarkeit sind ihnen wichtiger als eine komplizierte Sprache und Spezialisierung. Sie sind Menschen der sachlichen Urteile und nicht der Vor-Urteile.
An sich ist ein Intellektueller, der Bewusstseinsinhalte produziert, nichts. Vielmehr gewinnt er historische Existenz erst dann, wenn er sich konkreten sozialen Handlungen anschließt, sagt der Soziologe Jean Ziegler. In dem Maße, wie seine Begriffe, Theorien und Analysen ihm dienen, schafft er etwas Nützliches. Es geht um Dringlichkeit und Tun. Dazu führt er das Beispiel von Hoederer an, eine der Hauptfiguren in Jean-Paul Sartres Stück „Die schmutzigen Hände“. Dieser sagt zu einem von Zweifeln geplagten Humanisten in Bezug auf dessen Haltung: „Nichts zu tun, euch nicht von der Stelle zu rühren, die Arme hängen zu lassen und Handschuhe zu tragen. Ich habe schmutzige Hände.“ Die Alternative dazu ist Untätigkeit, die für die passive Betrachtung der Geschichte steht, die vor unseren Augen stattfindet.
Weiterführende Informationen:
- Vom Verschwinden politisch intellektueller Vorbilder in Europa
- „Einmischung erwünscht“: Heinrich Böll und seine PEN-Präsidentschaft 1970 bis 1974
- Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
- Mario Vargas Llosa: Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst. Suhrkamp Verlag Berlin 2013
- Jean Ziegler: Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen. C. Bertelsmann Verlag, München 2015.
- Jean Ziegler: Der schmale Grat der Hoffnung. Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden. Aus dem Französischen von Hainer Kober. C. Bertelsmann Verlag, München 2017.
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