Einsamkeit als Herausforderung für die gesamte Gesellschaft
Der Neurowissenschaftler und Psychiater Prof. Manfred Spitzer verwies bereits vor Jahren auf den Zusammenhang zwischen dem Erleben von Einsamkeit und der Nutzung von sozialen Online-Netzwerken. Die Covid-19-Pandemie hat junge Menschen noch tiefer "in die Abhängigkeit der virtuellen Welt gedrängt", sagt die Personalexpertin Dr. Doris Dull, Gründerin des Unternehmens Convalori, die vor ihrer Selbständigkeit im Jahr 2018 viele Jahre als Director Human Resources in großen internationalen Firmen der Automobilzulieferindustrie arbeitete. Das Interview thematisiert aktuelle Entwicklungen und zeigt, wie eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung aussehen kann.
Interview mit Dr. Doris Dull
Frau Dr. Dull, Einsamkeit betrifft nicht ausschließlich ältere Menschen. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass auch junge Menschen zunehmend von Einsamkeit betroffen sind: Eine Bertelsmann-Umfrage mit 2.532 jungen Menschen vom März 2024 zeigt, dass sich 46 Prozent der 16- bis 30-Jährigen einsam fühlen. Das Einsamkeitsbarometer der Bundesregierung belegt anhand von Zahlen aus dem Jahr 2021, dass während der Covid-19-Pandemie waren junge Menschen am stärksten von Einsamkeit betroffen waren. Wie erklären sie sich, dass diese Belastung nach wie vor sehr hoch ist?
Einsamkeit war bei der jüngeren Generation bereits ein Thema schon lange vor der Covid-19-Pandemie, die lediglich ein Brandbeschleuniger war, der das Problem verdeutlichte. Die Generationsforscherin Dr. Jean M. Twenge hat in ihrem Buch „Me, My Selfie“ and I dieses Phänomen eingehend beschrieben und viele Jugendliche - sie nennt sie Generation-Selfie - zu ihrem Freizeitverhalten befragt. Diese Generation bevorzugt es, lieber zu Hause zu streamen, anstatt sich mit Freunden zu verabreden und ins Kino zu gehen. Zudem ziehen sie es vor, soziale Medien zu nutzen, um mit Freunden zu kommunizieren, außerdem seien sie oft auch zu faul, um sich persönlich zu treffen. Eine der Befragten sagte, dass sie ihren Sommer mit Netflix, Textnachrichten und sozialen Medien verbracht habe und ihr Bett einen richtigen Körperabdruck von ihr hat. Sie verbringt mehr Freizeit allein. Dr. Twenge hat ebenso herausgefunden: Je mehr die Generation Selfie online ist, desto einsamer fühlen sie sich.
Fazit: Die Covid-19-Pandemie hat die jungen Menschen noch tiefer in die Abhängigkeit der virtuellen Welt gedrängt. Ich denke, die sozialen Medien sind das neue Kiffen.
Momentan kommen regelmäßig neue Einsamkeitsstatistiken heraus. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung? Sollten Menschen zunächst erst einmal lernen, sich selbst auszuhalten?
Ein aktueller Beitrag im ntv trägt die Überschrift: „Wie Einsamkeit in Deutschland zur "Volkskrankheit" wurde“ https://www.n-tv.de/panorama/Wie-Einsamkeit-in-Deutschland-zur-Volkskrankheit-wurde-article25076998.html. Diese Headline sagt doch alles. Um sich selbst auszuhalten, muss man erstmal das Bewusstsein entwickeln, dass man einsam ist und, dass man aus diesem Zustand herauswill.
Was ist der Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein? Häufig werden die Begriffe verwischt ...
Einsamkeit ist für mich negativ belegt und verbunden mit einer gewissen Trostlosigkeit, Verlassenheit, Vergessenheit, Nichtdazuzugehören, Ausgestoßen sein. Dieser Zustand macht die Psyche und die Seele krank. Alleinsein dagegen kann ein Genuss-Moment sein: Man genießt die Stille, das Ungestörtsein, die Me-Time, denn ich kann machen, was ich will. Alleinsein hilft, Kraft zu tanken, macht selbstbewusst, allerdings auch egoistisch und schrullig - vor allem dann, wenn man zu viel allein ist.
Welche Auswirkungen hat ein starkes Einsamkeitsempfinden auf Körper und Psyche?
Einsamkeit ist Gift für die Psyche und dem seelischen Wohlbefinden. Sie ist der Verursacher vieler mentaler Krankheiten wie Depressionen, Angstzustände, chronischer Stress und Schlaflosigkeit, wie viele wissenschaftliche Studien herausgefunden haben. Die Untersuchungen wurden im Zusammenhang mit der sozialen Isolation während des Lockdowns durchgeführt wurden. Auch wenn dieser Umstand als einmalig angesehen werden kann, verändert es nichts an der Tatsache, dass Einsamkeit negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Menschen hat. Einsamkeit löst auch das Gefühl aus, nicht gebraucht zu werden, nutzlos zu sein, nirgends dazuzugehören.
Warum ist Einsamkeit eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft?
Wenn sich zunehmende Einsamkeit zu einem gesellschaftlichen Problem entwickelt, können wir alle nicht einfach die Augen davor verschließen und das Problem auf staatliche Institutionen abwälzen. Es fängt in der Familie an, die Kinder aus der Einsamkeitsfalle herauszuholen, was verdammt schwierig sein wird. Hier hilft es nur, nur gemeinsam Regeln zu entwickeln im Sinne von Smartphone-Nutzung, Streamen, Online-Zocken etc. Gemeinsam Zeit zu verbringen. Noch heikler wird es, Freunde oder Bekannte aus der Einsamkeit herauszuholen. Es ist davon auszugehen, dass aus Scham das Thema vermieden wird. Mir gefällt die Idee, Zeitgeschenke an die Betroffenen zu vergeben.
Wie kann Ihrer Meinung nach eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung aussehen?
Das Problem immer wieder thematisieren. Speziell in Schulen und Arztpraxen. Zweitens, sein eigenes Umfeld bewusster wahrnehmen. Einsame Menschen tendieren zu Radikalisierung, sich zu ritzen, zu Spielsucht, oder zu Drogen- und Alkoholsucht und schotten sich bewusst von der Umwelt und sein Umfeld ab. Vor kurzem habe ich eine interessante Initiative auf LinkedIn gelesen, wo eine Dame in München jeden Sonntag zu einer bestimmten Uhrzeit alleinstehende Damen zu einem Spaziergang einlädt. Ich denke, solche Aktivitäten müssen in den Gemeinden oder Städten beginnen. Allerdings behutsam, unaufdringlich und unauffällig. Ich hätte da ganz viele Ideen.
Was können wir von anderen Ländern lernen, die sich schon viel länger mit dem Thema beschäftigen? Japan und Großbritannien haben Ministerien für Einsamkeit eingeführt ...
Interessant ist zu vergleichen, was haben andere Länder bereits initiiert und mit welchem Erfolg. Man muss das Rad nicht immer neu erfinden. Lernen von den Besten.
Die Bundesregierung hat eine Strategie gegen Einsamkeit beschlossen ("Gemeinsam aus der Einsamkeit"). Wie nachhaltig sind Ihrer Meinung nach solche "Strategien"? Warum helfen keine Appelle, Kampagnen und Konferenzen nicht wirklich?
Einsamkeit ist etwas sehr Individuelles und Persönliches. Jeder Mensch, ob arm oder reich, berühmt oder nicht, der Metzger, der Nachbar, der Partner, ob krank oder gesund, alt oder jung kann auf verschiedene Art einsam sein. Hier kann kein Ministerium ein allgemeingültiges Konzept ausarbeiten. Was diese tun können, ist lediglich für das Thema sensibilisieren, öffentlich (sensibel) darüber zu berichten und den Kommunen und Städten Mittel für gezielte Initiativen zur Verfügung stellen. Ganz wichtig sind Schulungen anzubieten für alle, die mit Menschen arbeiten wie beispielsweise, Lehrer, Ärzte, soziale Dienste, Nachbarschaftshilfen damit diese einen Blick dafür bekommen, wer in einer Einsamkeitsfalle sitzt und wie diese Personen angesprochen werden können, ohne dass sie sich „erwischt“ fühlen.
Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass der Staat nur dann eingreifen solle, wenn der Einzelne oder kleinere Gemeinschaften nicht in der Lage sind, eine Aufgabe selbst zu erfüllen. Es betont zunächst die Eigenverantwortung des Einzelnen – warum dann solche Maßnahmen?
Der Staat kann und darf nur Brückenbauer sein. Er kann aufzeigen, dass er Brücken gebaut hat. Über die Brücke gehen, müssen die Menschen schon selbst.
Welche Auswirkungen hat Einsamkeit auf das Arbeitsleben?
Menschen, die in einer Einsamkeitsfalle stecken, zeigen eine geringe Arbeitszufriedenheit, was sich wiederum negativ auf die Leistungserbringung auswirkt. Zweitens zeigen einsame Menschen wenig Interesse, soziale Kontakte aufzubauen, d.h. hier kommt eine besondere Herausforderung auf die Führungskräfte zu - speziell wenn es darum geht, ein funktionierendes Team zu formen.
Tragen Großraumbüros, in denen Menschen verstöpselt arbeiten, nicht auch zur Verstärkung der Einsamkeit bei?
Sie denken bei dieser Frage sicherlich an die Arbeit in einem Call-Center, wo Mitarbeitende wie Kaninchen in einem Stall eingepfercht sind, und keinerlei soziale Kontakte haben? Bei dieser Art von Arbeit bleibt den Mitarbeitenden gar keine Zeit über Einsamkeit nachdenken. Es sind andere Faktoren, die ihre psychische Gesundheit beeinträchtigen. Der Leistungsdruck, die zeitlichen Vorgaben oder die emotionalen Stresssituationen. Ansonsten bin ich nicht der Meinung, dass Großraumbüros, in denen Menschen verstöpselt arbeiten, sich verstärkt einsam fühlen. Die heutigen modernen Bürokonzepte stellen ein hybrides Arbeitsumfeld dar und sind flexible Office Spaces. Zweitens fallen mir im Moment keine Arbeiten ein, bei denen Menschen gezwungen sind, permanent verstöpselt zu arbeiten. Also, Großraumbüros per se sind meiner Meinung nach kein Verstärker der Einsamkeit.
Die Stärken des Alleinseins zu erkennen und zu nutzen ist eine wichtige Voraussetzung für die eigene Selbstständigkeit. So rät der Psychologe und Schlafforscher Jürgen Zulley dazu, sich dem Alleinsein auszusetzen, um sich als eigenständige Person zu begreifen. Weshalb sollte dieses Thema mit berücksichtigt werden – auch im Arbeitskontext?
Menschen, die ihr Leben allein meistern müssen und auch können, weil sie aus den verschiedensten Gründen dazu gezwungen sind, entwickeln eine gewissen Härte und Resilienz. Sie können zupacken, arbeiten effizient und zielorientiert und sie sind flexibel. Im englischen würde man diese Menschen als straight forward und tough bezeichnen. Das ist jedenfalls meine Meinung. Natürlich zeigen diese Leute auch gewisse Macken.
Wie für viele andere Kreative ist Einsamkeit für ihn der „Aggregatzustand“, in dem sie sich am besten auskennen. So sagte der Publizist Roger Willemsen: „Ich bin sehr gern allein, lebe allein, es ist nicht nötig, jemanden einzulassen.“ Auch Karl Lagerfeld brauchte Zeit für sich selbst. Gerade aus der Einsamkeit schöpften sie Inspiration für ihre Arbeit. Braucht es nicht eine differenzierte Betrachtung des Themas?
Ja ich denke schon, dass man diese zwei Fälle von Alleinsein unterschiedlich betrachten sollte. Den einen würde ich als Eigenbrötler bezeichnen, der andere Menschen eher meidet. So war Karl Lagerfeld nicht. Er liebte Menschen um sich herum, allerdings war er sehr wählerisch und egozentrisch. Lagerfeld entschied, wann und wer in seine Nähe durfte. Lagerfeld war meines Erachtens gern allein, aber niemals einsam.
Diese Szene aus dem Werbespot einer Supermarktkette ist sicher noch vielen Menschen vertraut: Ein alter Mann sitzt zu Weihnachten allein am Esstisch, dazu läuft traurige Musik. Es folgen Szenen von den erwachsenen Kindern, die weltweit verstreut sind. Als sie lesen, dass ihr Vater gestorben ist, reisen sie nach Hause, wo der Totgeglaubte am gedeckten Tisch auf sie wartet. Sogar die Diakonie Deutschland teilte das Video, weil die Einsamkeit von vielen alten Menschen hier treffend dargestellt war. Was kann Einsamkeit im Alter Ihrer Meinung nach entgegengewirkt werden?
Gefragt sind hier der Wohnungs- und Städtebau. Bei uns auf dem Land entwickeln sich mehr und mehr Konzepte vom Mehrgenerationenhaus oder von Alters-WGs, in denen die Senioren und Seniorinnen neben Gemeinschaftsräumen, in denen zusammen gekocht, Fernsehen geschaut oder einfach nur gequatscht werden kann, sie ihre eigenen Vierwände haben, in denen sie sich zurückziehen können. Alles ist auf freiwilliger Basis und weit entfernt von den menschenunwürdigen Altersheimen. Ja und dann sind die Städteplaner gefragt, die dafür zu sorgen haben, dass die Innenstädte zu autofreien Zonen werden, wo Menschen mit Gehilfen sich gefahrlos bewegen können, wo Cafés oder Restaurants die Straßen beleben und Jung und Alt sich auf einen Schwatz treffen können. Die Anzahl von Grünanlagen muss erhöht werden, wo organisierte Themen-Veranstaltungen wie Vorträge, Konzerte, Lesungen, Fernsehübertragungen etc. stattfinden, zu denen die Stadt speziell Senioren und Seniorinnen einlädt mit dem Angebot eines Fahrdienstes. Ich nenne es einfach mal: Sozialarbeit in Zeiten von Individualismus und Egoismus.
Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Armut im Alter in den Medien häufiger thematisiert wird als Einsamkeit?
Ich denke, Einsamkeit ist schwerer zu greifen als Armut. Armut ist sichtbar. Zweitens kann man sehr schnell mit Geld, Sach- oder Kleiderspenden Bedürftigen helfen und Armut wenigstens teilweise lindern. Wussten Sie, dass Menschen in Dienstleistungsberufen wie beispielsweise Friseure an der Armutsgrenze leben, obwohl Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nachgehen. Dafür schäme ich mich fremd.
Weiterführende Informationen:
- Einsamkeit im Alter geht uns alle an
- „Auf dem Boden bleiben“: New Work und die neue Leistungskultur von A bis Z. Interview mit der Personalexpertin Dr. Doris Dull
- New Work und Nachhaltigkeit: Welche Rolle spielt die neue Leistungskultur?
- Doris Dull: New Work, Leistungskultur und Performance-Messung. Wie sich Unternehmen in der neuen Arbeitswelt verändern müssen. Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart 2024.
- Doris Dull: New Work – die Illusion von der großen Freiheit. Ausprägungen der neuen Arbeitswelt. Springer Gabler Verlag, Berlin, Heidelberg 2023.
- Manfred Spitzer: Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit. Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München 2018.
- Manfred Spitzer: Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert. Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München 2015.
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