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Fern der Wirklichkeit: Unser Glaube an Vorbilder und Helden

Unser Glaube an Vorbilder und Helden beruht auf dem naiven Wunsch nach einem fehlerlosen Menschen.

Er ist wirklichkeitsfern, auch wenn die Medien Vorbilder häufig auf einen Sockel stellen und als unfehlbar erscheinen lassen. Der Moralphilosoph Rainer Erlinger plädierte vor einigen Jahren zu Recht dafür, dass es stattdessen angebracht wäre, nicht mehr einen „ganzen Menschen“ zum Vorbild zu deklarieren, sondern allenfalls dessen vorbildliches Verhalten in bestimmten Situationen und Bereichen seines Wirkens. Dies gehört zu einem positiven „Heldenverständnis“ - auch, dass, wer von anderen dazu erkoren wird, dies mit Gleichmut aufnimmt und sich von der Zuschreibung nicht blenden lässt. Heute ist der vor dem Zweiten Weltkrieg allgegenwärtige Kriegsheld in Österreich nahezu verschwunden, während in den USA noch jeder gefallene Soldat als „Hero“ bezeichnet wird. Was die US-Amerikaner als einen solchen bezeichnen, heißt auf Deutsch „Lebensretter“.

Dass die Entwicklung eines positiven Heldenverständnisses Gesellschaften nachhaltig nützen kann, bemerkt der US-Psychologe Philipp Zimbardo, der in seinem Text „Die Banalität des Heldentums“ auf Hannah Arendts Eichmann-Buch „Die Banalität des Bösen“ anspielt. Arendt beschreibt darin das Potenzial der Menschen zum Bösen. Zimbardo nimmt an, dass in jedem von uns auch ein potenzieller Held steckt. Dies helfe, eine gefestigte Vorstellung der eigenen Werte und Ideale zu entwickeln und für sie einzustehen, Charakter zu haben, sich nicht gemein zu machen – weder nach unten noch und nach oben. In der eigenen Haltung reflektiert sich auch die Achtung und Empathie anderen gegenüber. Helden im Sinne Zimbardos hinterfragen immer wieder ihre gelernten Glaubenssätze und Überzeugungen, sie können reflektieren.

Da sie die Realität um sie herum mit bestechender Klarheit wahrnehmen, sind sie auch in der Lage, richtige Entscheidungen zu treffen und sich der Folgen ihrer Handlungen bewusst zu sein. Sie sind fähig, Denken und Fühlen, Inneres und Äußeres, Sein und Sollen in Einklang zu bringen. Das ist auch eine der fundamentalsten Aufgaben des Buches „Logbuch für Helden“ von Cristián Gálvez. Er belegt dies anhand neurowissenschaftlicher Studien und konkreter Beispiele aus der Lebenswirklichkeit moderner Männer. Gálvez versteht die Heldenreise als Bauplan für die eigene Lebensreise mit all ihren Herausforderungen und Prüfungen. Besonders interessant ist der Nachhaltigkeitsaspekt: „Was Helden heute denken und tun, gilt auch morgen und übermorgen.“ Sie haben die Fähigkeit, sich eine bessere Welt vorzustellen und in Konsequenzen zu denken.

Im Fokus stehen Heldengeschichten von Homers Odysseus bis Avatar, Menschen und Menschen, die ein Leben jenseits des Mittelmaßes führten. Es werden aber auch die Matrix der Hollywood-Blockbuster untersucht sowie die Lebenswege Prominenter wie Steve Jobs, Dirk Nowitzki oder Stefan Raab. (Allerdings nicht die Helden der 68er-Generation wie John Lennon und Willy Brandt, John F. Kennedy oder Rudi Dutschke.) Alle zeichnen sich überdies durch vier große K aus: Klarheit, Kompetenz, Kongruenz und Konsistenz. Ihren Lebensweg verdanken die meisten allerdings auch Mentoren, die ihnen an entscheidenden Weggabelungen begegnen. Sie belehren nicht, sondern eröffnen neue Perspektiven und schaffen Bewusstsein für das Detail und das große Ganze. Ursprünglich stammt der Begriff „Mentor“ aus der Odyssee, wo sich die gleichnamige Gestalt um die Erziehung von Odysseus‘ Sohn Telemach kümmert: ein weiser Lehrer, der den Jungen auf das Leben vorbereitet. Ein Prototyp des Mentors ist auch der Zentaur Chiron, ein Mischwesen aus Pferd und Mensch, das eine „Heldenarmee“ ausbildete. Aus Dankbarkeit schenkte Zeus ihm das Sternzeichen des Schützen.

Mentoren lehrten in den Heldengeschichten auch, was wirklich wichtig ist: das Ende. Damit relativiert sich häufig der Schritt über die Schwelle, denn Endlichkeit schafft Dringlichkeit, die zum Handeln bzw. Machen bewegt. Sofort. Damit beschäftigt sich auch der Sammelband „Visionäre von heute – Gestalter von morgen“, in dem es um normale, pragmatische, aus der Erfahrung gewonnene Erkenntnisse geht und weniger um den alten Heldenbegriff. Auch in der Literatur ist der ungebrochene Held seit langem verschwunden. In James Joyces „Ulysses“-Roman ist aus Odysseus ein gewöhnlicher Anzeigenakquisiteur geworden – das Gegenteil eines Helden. Die „Helden“ der neueren Literatur und des Kinos sehen immer „normaler“ aus. Sie führen nicht mehr vor, was Menschen idealerweise sein könnten, sondern was sie wirklich sind. Das gilt auch für das Management im Komplexitätszeitalter. Eine Kernfrage des im Buch enthaltenen Interviews mit dem Managementvordenker Prof. Fredmund Malik lautet, wie „gewöhnliche Menschen“ das Außergewöhnliche leisten können. Denn die Zeit der Helden ist vorbei - im Alpinismus und auch allmählich im Management, wenngleich die „Große Mann“-Theorie zuweilen noch nachbrennt.

Uwe Johänntgen, Leiter Business Development bei der memo AG, spricht sich wie Malik gegen eine Idealisierung von Helden und Vorbildern aus: „Jeder Mensch hat eine eigene Persönlichkeit, die ihn von anderen unterscheidet. Schön ist es, authentisch zu bleiben und nicht zu versuchen, sich zu verbiegen. Dann kann jeder Vorbild und Held sein - jeden Tag. Das zeigt sich beispielsweise durch Vorleben und sich trauen, auch mal gegen den Strom zu schwimmen, einer Sache Glauben zu schenken und sich dafür einzusetzen, Zivilcourage zu zeigen und anderen Menschen zu helfen. Dies kann auch die Einstellungen und Haltungen unserer Mitmenschen beeinflussen".

Malik plädiert dafür, dass wir die Chancen jetzt nutzen und uns auf jene Menschen konzentrieren sollten, die nicht nur über (vergangene) Funktionen und Status sprechen (und dem „Verlorenen“ hinterhertrauern), sondern sich heute auf echte Leistungen konzentrieren. Dazu braucht es aber auch Zeit und Raum, um allein mit sich selbst zu sein (Me-Time) – das ist in der Zwangsvergesellschaftung (Großraumbüros) und Dauerbeschallung oft kaum mehr möglich. Sara Maitland, Autorin des Buches „How tob e Alone“, schreibt, dass Menschen, die das Alleinsein lieben, schnell als „sad, mad or bad“ bewertet werden.

Dabei ist das zeitweilige Alleinsein-Müssen keine egozentrische Verpuppung, sondern eine Vorbereitung dafür, sozialer handeln zu können. Auch Superman hatte eine Festung der Einsamkeit („Fortress of Solitude“). Die Originalversion wurde 1958 eingeführt und befand sich eingeschoben in eine steile arktische Eisklippe. Sie konnte durch eine gigantische goldene Tür mit einem überdimensionierten Schlüsselloch, welche sich mit einem ebenfalls gigantischen Schlüssel öffnen ließ, betreten werden. Hier konnte Superman nachdenken und entspannen.

Ohne die Möglichkeit des Rückzugs und der Reflexion können sich Menschen nicht nachhaltig in die Gemeinschaft einbringen und sich etwas Größerem außerhalb ihrer selbst widmen: einer Aufgabe, die zu erfüllen ist und ein Ziel, für das es sich lohnt aufzubrechen. Menschen, die innerlich wissen, was gut und richtig ist, gehen integer ihren Weg. Für sie stehen Werte nicht nur im Schaufenster, sondern werden wirklich gelebt.

Das ist das Geheimnis der Kunst des miteinander und aneinander Wachsens. Erreichen lässt sich dies aber nur durch die Wertschätzung des jeweils anderen als einzigartige Persönlichkeit, als Quelle von Wissen und Erfahrungen. Nachhaltiges (inneres) Wachstum hat aber auch mit der Fähigkeit zu tun, selbstlos zu handeln und anderen Gutes zu tun, ohne eine Gegenleistung zu erhalten oder zu erwarten. Affen haben einen solchen Gemeinschaftssinn und können sich altruistisch verhalten – was auch bedeutet, dass sie anderen selbstlos helfen. Dafür ist der präfrontale Cortex maßgeblich verantwortlich, der die egoistischen Neigungen hemmt. Affen kooperieren nicht nur, wenn es notwendig ist - sie merken sich auch, wer der beste Kooperationspartner war. Sie teilen ihre Nahrung untereinander und haben ein starkes Gerechtigkeitsgefühl. So selbstverständlich ist es bei den Menschen leider nicht: Wer selbstlos handelt und anderen aus einem inneren Bedürfnis heraus Gutes tut, wird oft belächelt. Sogar für Zuwendung braucht es heute oft Gründe, Erwartungen, Nachweise und Zwecke – als ob das Gute für sich genommen nicht schon gut genug sei.

Weiterführende Informationen:

  • Ulrich Bröckling: Postheroische Helden. Ein Zeitbild. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.

  • Cristián Gálvez: Logbuch für Helden. Wie Männer neue Wege gehen. Knaur Verlag, München 2014.

  • Lisz Hirn: Wer braucht Superhelden. Was wirklich nötig ist, um unsere Welt zu retten. Molden/Styria, Wien 2020.

  • Dick Swaab: Unser kreatives Gehirn. Wie wir leben, lernen und arbeiten. Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München 2016.

  • Dieter Thomä: Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus. Ullstein Verlag, Berlin 2019.

  • Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.

Kommentare

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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