Freiheit des Geistes: Warum die Ernte der Lebenskünstler so wertvoll ist
Im November 2017 verstarb der tunesisch-französische Designer Azzedine Alaïa im Alter von 77 Jahren. Die Angaben variieren, da er sein Geburtsjahr mit „zirka 1940“ angab. Er wusste es selbst nicht so genau – und es ist auch nicht wichtig, weil er ohnehin zu den Menschen gehörte, die schon zu ihren Lebzeiten aus der Zeit gefallen sind. Das zeigte sich auch in dem, was der Couturier hervorbrachte. Termine und die Hysterie des Modebusiness kümmerten ihn nicht - seine Kollektionen mussten „reif“ sein „wie eine gute Ernte. Aber das erfordert nun mal: Zeit.“ Mit dieser nachhaltigen Einstellung verstieß er gegen alle Regeln des Modebetriebs, denen er sich stets widersetzte.
Ein ähnliches Bild benutzte schon der Naturforscher und Dichter Adelbert von Chamisso (1781 - 1838) für seinen Schaffensprozess: Die Zeit, Kunstwerke zu schaffen, muss erst ausgesät werden, auf dass sie reife, so seine Grundanschauung. Denn alles bleibt ohne Farbe und Bedeutung, wenn es nicht aus dem Leben begründbar und in ihm verhaftet ist. Allerdings bemerkte und betonte er immer wieder, dass er seine literarischen Texte nicht gemacht habe, sondern die Zeit. An Karl Bernhard von Trinius schreibt er am 11. April 1829: "Wenn ich selber eine Absicht gehabt habe, glaube ich es dem Dinge nachher anzusehen. Es wird dürr, es wird nicht Leben.“ Seine berühmte Geld- und Schattennovelle „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1814) ist auch nicht anders entstanden. So erklärt sich auch, dass ihm die Klugheit verboten hatte, diese Dichtung "mit einem neuen Machwerk tot und zu zudecken", denn was das Leben erzeugt hat, und was ins Leben eingegangen ist, sollte künstlich nicht wiederholt (!) werden.
Wer Azzedine Alaïa kannte, bezeichnet ihn als Freigeist, der sich zeitweise sogar eine Eule – die Eule der Minerva ist ein Symbol von Klugheit und Weisheit - als Gefährten in der Nacht hielt. Für Menschen wie ihn, den die Süddeutsche Zeitung als einen der letzten „Zauberer“ der Modewelt betrauerte, war Freiheit nicht nur ein Recht, sondern eine Fertigkeit (Können), die man sich immer wieder neu erwerben muss. Es ist die Fähigkeit, die Welt durch verschiedene Brillen zu sehen und sich etwas vorzustellen, was sich niemand zuvor ausgemalt hat. Die Freiheit des Geistes ist ständige Arbeit. Einige Gedanken gedeihen nicht, weil dem Verstand der Ansporn fehlt, sie vollständig auszubilden. Und manchmal sind die Niederungen des Alltags so ausgeprägt, dass vieles nicht vordringen kann in die Welt des Geistes. Auch wenn Gedanken sich selbst überlassen sind, bleiben sie oft einsam und kraftlos. Bedeutung erlangen sie erst, wenn sie durch einen Dialog „befruchtet“ werden.
Lebenskünstler verknüpfen unablässig neue Ideen, verbinden sich mit wesensverwandten Menschen und „verwandeln“ sich alles an: Erlebtes und Erlesenes, das durch sie hindurch geht und sich zu etwas Neuem fügt. Scheint die Quelle durch einige Stellen hindurch, ist das die größte Wertschätzung an den Urheber. Dass noch heute besonders der französische Lyriker, Philosoph und Essayist Paul Valéry (1871 – 1945) bleibende Eindrücke hinterlässt, hat mit der Zeitlosigkeit seines fragmentarischen Werkes zu tun, aber auch mit seiner Anschlussfähigkeit, die verwandte Geister heute schätzen.
Valéry interessierte alles - und er vernetzte alles. Ein Künstler der Wahrnehmung, der mit hochfeinen Antennen nach dem suchte, was ihn persönlich vitalisiert und fasziniert hat. Auch behielt er sich die Freiheit, mehrere zu sein. Er reagiere stark auf Ideen und auf Typen, er gab sich der Arbeit des Verstehens hin. Wie die Hochkreativen, zu denen auch Karl Lagerfeld gehörte, mied alles, was sich wiederholt oder wiederholen konnte („ob Gewohnheit oder Routine, Alltag oder Denkschablonen“). Wie Lagerfeld (in dessen „Taubenschlag“ die Ideen ein- und ausflogen) hatte auch Valéry eine ganz eigene Art zu sprechen: schnell und zuweilen undeutlich, ohne sich darum zu kümmern, ob es der andere wirklich verstanden hat. Sein Denken bestimmte den Rhythmus. Das Werk solcher Menschen hat Vorrang vor ihrer Lebensgeschichte – das Leben ist immer „nur“ der Anlass, um etwas hervorzubringen – als Chronologie der Ereignisse verblasst es.
Silke Wichert: Aus der Zeit gefallen. In: Süddeutsche Zeitung (25./26.11.2017), S. 57.
Alexandra Hildebrandt: Adelbert von Chamissos Leben in Text und Bild. Kindle Edition 2022.
Alexandra Hildebrandt und Nicole Simon: KARL. Reflections, Kindle Edition 2020.
Alfons Schweiggert & Alexandra Hildebrandt: Dich gibt’s nicht! Short Stories, um sich selbst zu erschaffen. Kindle Edition 2022.