Gesunder Menschenverstand statt Purpose-Debatte
Unternehmen müssen agiler werden und sich grundlegend wandeln, aber es passiert wenig bis nichts, schreibt Gunter Dueck, ehemaliger Mathematikprofessor und bis 2011 Cheftechnologe beim US-amerikanischen IT- und Beratungsunternehmen IBM, in seinem neuen Buch "Keine Sinnfragen, bitte!" Er kritisiert, dass der Ausreichende nicht versteht, „was der Gute für selbstverständlich hält.“ Unserer Ausreichend-Wirtschaft, die viel schlechter performt „als das einstige stolze Wirtschaftswunder“, und den hier hervorgebrachten Ausreichend-Managern sei der „gesunde Menschenverstand“ verloren gegangen. Aber was ist konkret damit gemeint?
Dr. Robert Nehring hat darüber promoviert und nachgewiesen, dass er bildliche Vorstellungen und konkrete Situationen benötigt, immer einen Schritt nach dem anderen macht und sich kein X für ein U vormachen lässt. All das trägt zur Urteilssicherheit bei: „Von der Existenz der Zentrifugalkraft ist er erst überzeugt, wenn man ihn z. B. an das Karussellfahren denken lässt. Aufgrund dessen sind auch die Urteile des gesunden Menschenverstandes stets anschaulich.“ Der Begriff steht im Wesentlichen für den einfachen, erfahrungsgestützten und allgemein geteilten Verstand des Menschen. Ihm entspricht, was leicht zu verstehen ist und durch Erfahrung bestätigt werden kann: „Statt sich in schwierige Theorien zu versteigen, zählt er eins und eins zusammen.“ Durch seine Erfahrungsnähe erweist er sich als „sehr kompetent“ in der konkreten Anwendung von Regeln. Sein Urteil ist zielorientiert, aufs Nützliche, Angemessene und Zweckmäßige bedacht. Deshalb eignet er sich hervorragend, den Alltag pragmatisch zu meistern. In Österreich wird in diesem Zusammenhang auch von der Domäne des „Hausverstandes“ gesprochen. Sein „Gebrauch“ ist einfach und bedarf keiner großen Anstrengung, zu der beispielsweise tiefe Reflektion gehört. Deshalb lassen sich seine Urteile auch nicht streng rational begründen. Der gesunde Menschenverstand ist Normal-, Erfahrungs- und Jedermannsverstand zugleich. Wer ihn meidet, dem geht auch die Fähigkeit verloren, in ausreichendem Maße selbst zu denken und sein Leben selbst zu gestalten.
Er sagte, dass wir jetzt an die Arbeit gehen müssen, und er rief zu mehr Selbstverantwortung auf: „Ich setze auf erneuerten Mut. Und ich vertraue auf unsere Gestaltungskraft. Glauben wir wieder an uns selber.“ Ruck bedeutet damals heute: sofort etwas machen, weil es nicht wichtig, sondern dringlich ist. Doch wo der gesunde Menschenverstand fehlt, versinkt ein Land und seine Wirtschaft schnell im Mittelmaß und in der Gleichmacherei: Das Grundsätzliche wird nicht angepackt, weil es an Zeit fehlt. Es wird geschaut, wie es die anderen machen, und orientiert sich daran. Ein aktuelles Beispiel ist der Corporate Purpose (CP, „inneres Anliegen“, "innere Haltung"), den mittlerweile fast jedes Unternehmen haben muss. Der Begriff „Purpose“ ist in den letzten Jahren zu einem der beliebtesten Schlagworte. Unternehmen wollen damit nicht nur zeigen, dass sie gute Geschäfte machen, sondern die Geschäfte gut machen. Und dann wird häufig alles gut vermischt im Purpose-Eintopf: Eine Prise Nachhaltigkeit, ein Löffel Diversity, ein paar Klimazertifikate – und fertig ist der Purpose. Der Trend kommt aus den USA. Geprägt hat den Begriff maßgeblich der US-Werbeexperte Joey Reiman, der das Buch „Die Geschichte des Zwecks: Der Weg zur Schaffung einer strahlenderen Marke, einer größeren Firma und eines dauerhaften Vermächtnisses“ geschrieben hat.
Dafür wurden über ein unabhängiges Meinungsforschungsinstitut mehr als 4.300 deutsche Konsumenten zwischen 18 und 65 Jahren befragen lassen, inwiefern jeweils 15 Purpose-relevante Attribute in fünf Imagedimensionen zu den Marken passen.
Mit Indexwerten von mehr als 70 erreichen zwölf Marken das höchste Level an Glaubwürdigkeit mit Blick auf ihren Unternehmensweck. Sie gelten als voll „Purpose ready“.
Fast drei Viertel der branchenübergreifend untersuchten Unternehmen verfügten über eine gute Ausgangsbasis für eine glaubwürdige Kommunikation.
Weitere 95 Marken (72 Prozent der untersuchten Marken) sind „teilweise Purpose ready“, „kritische Purpose-Lücken“ weisen 24 Marken und damit rund ein Sechstel der abgefragten Unternehmen und Institutionen auf. Drei Organisationen zeigen eine sehr schwache Basis für eine glaubwürdige Purpose-Vermittlung.
Einige Unternehmen aus den Branchen Telekommunikation, Finanzen und Verkehr weisen dagegen „kritische Purpose-Lücken“ auf. Die Schlusslichter im Ranking bilden die beiden Wohnungskonzerne Deutsche Wohnen und Vonovia sowie die Medienmarke Bild.
Energieunternehmen wie RWE oder Eon schneiden eher schlecht ab, Rüstungsunternehmen profitieren dagegen vom Krieg in der Ukraine, der Panzern wieder einen Purpose gibt.
Die Bereitschaft von CEOs, einen Unternehmenssinn zu verkörpern, konsequent vorzuleben sowie aktiv nach innen und außen zu kommunizieren, ist aber bei vielen Unternehmen nach wie vor nur schwach ausgeprägt.
Sineks Modell des Golden Circle besteht aus drei konzentrischen Kreisen mit WHY im Innersten, HOW in der Mitte und WHAT außen. Die Antwort auf die Frage, „Warum man tut, was man tut?“ ergibt nichts anderes als den Sinn, den man in einer Sache sieht. Wer sein Warum kennt, ist nachweislich glücklicher und kann andere dazu bewegen, ein Teil seines Handelns zu sein. Für Unternehmen bedeutet das zu formulieren, woran es glaubt, und damit beurteilen zu können, welche Marktteilnehmer dasselbe glauben. In dieser Gemeinsamkeit liegt laut Sinek der Schlüssel zum nachhaltigen Geschäftserfolg ("People don't buy WHAT you do, but WHY you do it"). Dabei werden von ihm auch biologische Erklärungsversuche herangezogen, indem er die Struktur des Gehirns mit seinem Golden Circle in Beziehung setzt: Das WHY ist deshalb so schwer zu artikulieren, weil die emotionalen und intrinsischen Prozesse in einem Teil des Gehirns kontrolliert werden, der nicht für die Sprachsteuerung verantwortlich ist.
Das WHAT dagegen ist einfach zu kommunizieren, weil es in der Regel rational gesteuert wird. Die meisten Unternehmen versuchen, ihre potentiellen Kunden mit ihrem WHAT zu überzeugen (Qualität, Preis und Service). Doch das Produkt (WHAT) ist nur das Ergebnis einer Aktion (HOW) - diese wiederum kann nur aus dem Antrieb des Unternehmens resultieren (WHY). Mit „Warum“ mein Sinek nicht Profit, denn dieser kann immer nur ein (wünschenswertes) Ergebnis einer Handlung sein. Im Unternehmenskontext geht es um die Frage: Worauf beziehen sich Geschäftszweck, Anliegen und Glaubensgrundsätze der Organisation? Warum sollten sich andere dafür interessieren? Ein verwandter Geist ist auch der 2005 verstorbene Managementtheoretiker Peter Drucker, der das Konzept des „purpose-driven business" etabliert hat. Demnach benötigen Unternehmen einen Daseinszweck, ein höheres Ziel, um im Wettbewerb bestehen zu können. Heute wird von der gesellschaftlichen Akzeptanz von Unternehmen gesprochen. Wo sie fehlt, manifestiert sich dies in einem schleichenden Verlust der unternehmerischen Kooperationsfähigkeit, infolgedessen die unternehmerische Wertschöpfung erschwert wird (Wirtschaftslexikon Gabler). Sie kann damit auch als die Basis der unternehmerischen Wertschöpfung bezeichnet werden.
„Wenn ich nicht weiß, warum ich bei A oder B oder C arbeite und das tue, was ich tue, aber erwarte, dass in einem gemeinschaftlichen Prozess Sinn und Zweck nachgeliefert werden, damit mein Sinn-Defizit kompensiert wird, habe ich ein echtes Problem. Menschen, die das von Organisationen erwarten, rufe ich zu ‚Reißt Euch zusammen!‘.“ Selbständigkeit und selbstbestimmte Arbeit sind für ihn kein Wohlfühlprogramm, sondern bedeuten, dass sich alle anstrengen müssen, „die eigene Kontur zu schärfen, klarzumachen, was man kann, eben dies anderen anzubieten und diese anderen auch glücklich zu machen. Damit man selbst glücklich ist.“ Darin liegt die Antwort nach Sinn und Zweck des eigenen Tuns.
„Teamgeist ist der Schlüssel für eine starke Kultur“ oder „Wir verbinden unsere tägliche Arbeit mit einem größeren, gemeinsamen Ziel“, zitiert Gunter Dueck aus Unternehmenspublikationen. Auch der Baudienstleister und Projektentwickler Krieger + Schramm (K+S) schreibt in seinem Kundenmagazin: „Viele erfolgreiche Unternehmen mit einem stabilen Wertesystem haben sich seit ihrer Gründung bereits einem höheren Zweck verschrieben, die Welt abseits ökonomischer Gewinnmaximierung positiv zu beeinflussen.“ Der Gewinn ist für das Unternehmen „die Luft zum Atmen“, und der Zweck die „Lebensader“ des Unternehmens. Vieles wirkt im Purpose-Unternehmenskontext allerdings unverbindlich und austauschbar. Das kritisiert auch Gunter Dueck, für den das Thema vor allem Whitewashing ist, ein aufgeklebtes Etikett, das in der Öffentlichkeit zum Hype aufgebauscht wird.
Gesunder Menschenverstand ist heute weitaus wichtiger als eine weichgespülte Purpose-Debatte, an der vor allem Werbe- und Kommunikationsagenturen sowie Bezahlplattformen für Nachhaltigkeit verdienen. „Als Einzelne sind wir klug und stark, aber als Team spinnen wir. Wir agieren als Unternehmen, als Team, als Gremium oder als Partei gemeinschaftlich so, wie wir es einzeln als Mensch ohne Fesseln und Zwänge nie täten. Wir sind aktiver Teil eines Ganzen, das gegen all das handelt, was unsere persönliche Intelligenz und unser eigenes Herz uns raten“, schreibt Gunter Dueck schon in seinem Buch "schwarmdumm. So blöd sind wir nur gemeinsam“
Gunter Dueck: Keine Sinnfragen, bitte! Wir arbeiten leidenschaftlich - für die Tonne. Campus Verlag. Frankfurt a M. 2022.
Warum stehen wir morgens auf? Ein Weckruf für nachhaltiges Handeln
Nachhaltigkeit und Selbstverantwortung: Zum richtigen Umgang mit der eigenen Lebensenergie
150 Köpfe. In: K+S magazin. Ausgabe 22/02 (Oktober 2022), S. 7-9.
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Gunter Dueck: schwarmdumm. So blöd sind wir nur gemeinsam. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015.
Robert Nehring: Kritik des Common Sense. Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn – der Sensus communis bei Kant. Duncker & Humblot GmbH, Berlin 2010.
Nachhaltig führen – mit gesundem Menschenverstand. Hg. Sebastian Gradinger und Robert Rösch. Hardcover, Goldegg Verlag 2015.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.