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Gesunder Menschenverstand und nachhaltiges Verhalten

Mit ihm wird einerseits ein gemeinsames Wissen bezeichnet, eine Vielzahl an Überzeugungen. Andererseits ist damit eine gemeinsame Fähigkeit gemeint, zu Wissen zu gelangen (ein urteilender Verstand). Bei der Urteilsbildung nimmt der gesunde Menschenverstand einen allgemeinen Standpunkt ein. Im Ergebnis kann sein Urteil ein eigenes, am Urteil der anderen geprüftes sein oder ein übernommenes sein. Diese Zweideutigkeit ist charakteristisch für den heutigen Gebrauch von „gesundem Menschenverstand“, sagt Dr. Robert Nehring, der ihn als Normal-, Erfahrungs- und Jedermannsverstand zugleich bezeichnet. Er ist ein Sinn für das Verhältnismäßige und das Verallgemeinerbare, das sich einfach merken lässt („Lügen haben kurze Beine“). Obwohl die bloße Wiedergabe allgemeiner Standpunkte hilfreich sein kann, birgt die fehlende Reflexion allerdings auch das Risiko des Irrtums. Meinungen, Fantasien und Ängste werden heute oft vermischt – das schadet der Wissenschaft und Debattenkultur. Die Grenze zwischen Fakten und Meinungen verschwimmt heute immer mehr. Gesunder Menschenverstand in diesem Sinne kann sich schnell zu ungerechtfertigten Vorurteilen verfestigen.

„Nachhaltigkeitsirrtümer entstehen vor allem, weil wir eine vorgefasste Meinung von Materialien oder Produkten haben. So denken viele etwa, dass Glas generell umweltfreundlicher ist als Plastik, weil sie mit Kunststoffverpackungen das Thema Umweltverschmutzung in Verbindung bringen“, sagt Marten Stock vom ifu Hamburg, Member of iPoint Group, in einem Interview mit UmweltDialog. Er ist Experte auf dem Gebiet der Ökobilanzierung. Ökobilanzen analysieren kontextbezogen die Umweltauswirkungen von Produkten und Services entlang des gesamten Lebenswegs (Herkunft der Rohmaterialien, Weiterverarbeitung, Umweltauswirkungen bei Transport und Nutzung, Kreislauf- bzw. Recyclingfähigkeit). Er verweist darauf, dass eine Ökobilanz von Plastikverpackungen zuweilen sogar besser sein kann, weil Glas zwar pro Kilogramm eine bessere Umweltwirkung hat, in den meisten Fällen im Vergleich zu Plastik für die gleiche Flaschengröße aber ein Vielfaches der Menge benötigt wird.

Auch räumt er auf mit gängigen Meinungen von Verbraucher:innen, die davon ausgehen, dass Dinge, die sie häufiger verwenden, immer nachhaltiger sind als Einmalprodukte, weil sie nur die Abfallvermeidung beziehungsweise Entsorgung im Blick haben und andere Umweltauswirkungen außer Acht lassen. Dabei wird vernachlässigt, dass zum Lebenszyklus eines Produktes auch Rohstoffgewinnung, Beschaffung und Nutzung gehören. So erstellte er eine Ökobilanz dazu, welchen Einfluss Menstruationstassen, Bio-Tampons und herkömmliche Tampons auf die Umwelt haben: Für Menstruationstassen wird viel mehr Wasser und Energie verbraucht als erwartet, denn sie müssen nach jeder Verwendung sorgfältig gereinigt und regelmäßig abgekocht werden.

Am Anfang galten E-Autos zunächst als nachhaltig, da sie lokal während des Gebrauchs keine Emissionen erzeugen. Vernachlässigt wurden Umwelt- und Sozialrisiken, die beim Rohstoffabbau für die Batterien entstehen: Es gibt seiner Meinung nach objektiv keine richtige Antwort, was wichtiger ist: die Arbeitsbedingungen in den Ländern, in denen der Rohstoff abgebaut wird, oder die Klimawirkungen bedingt durch den CO2-Ausstoß der Motoren? Erst wenn man sich dieser Komplexität bewusst wird, merkt man, welche Fehlentscheidungen getroffen werden können. Auch Siegel schützen Verbraucher:innen nicht davor, unökologische Entscheidungen zu treffen: So ist es beispielsweise nicht nachhaltig, im Winter biozertifizierte Erdbeeren aus Chile zu kaufen. Marten Stock verweist darauf, dass man dennoch bewusst einkaufen kann, „indem man einfach seinen gesunden Menschenverstand“ einsetzt. Auch im Nachhaltigkeitsmanagement ist er eine Art zweites Auge, mit dem man besser sieht. Erfolgreiches Unternehmertum ist ohne ihn kaum denkbar. „Spezialwissen – etwa Fach- und Finanzkenntnis – und logisches Denken auf der einen und gesunder Menschenverstand auf der anderen Seite sind Korrektive füreinander“, so Nehring

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Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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