Gezeichnete Vernunft: Interview mit der Illustratorin Ulrike Möltgen
„Emil und die Detektive“ oder «Das doppelte Lottchen“ - Erich Kästners Bücher sind auch heute noch in vielen Kinderzimmern zu finden. Die von ihm gezeigten Kinderfiguren haben oft mehr Vernunft und Verstand als manche Erwachsene, weil sie noch unverfälschte und gute Eigenschaften haben: „Nur die Kinder sind für unsere Ideale reif“, sagte er einmal. Sie sollen Vorbild sein. Damit verbunden ist auch sein Zukunftsglaube. In diesem Jahr werden gleich zwei Jubiläen begangen: Erich Kästners 125. Geburtstag und sein 50. Todestag. Seine Publikationen und Reden orientieren sich zwar hauptsächlich an damaligen Ereignissen, doch haben viele eine bedrückende Aktualität. Gerade ist im Atrium Verlag, der die Weltrechte an sämtlichen Büchern des Schriftstellers hat, sein „Märchen von der Vernunft“ (1948) erschienen. Darin appelliert er an die Menschlichkeit. Es geht um einen „vernünftigen“, aber teuren Vorschlag, den Krieg zu beenden und das Geld in den Frieden zu investieren. Doch den Herrschenden, die in Hohngelächter ausbrechen, steht der Krieg näher als die Vernunft. Dieses Buch sollte zweimal (oder gleich mehrfach) gelesen werden: Einmal der Text und dann die Illustrationen von Ulrike Möltgen. Sie sind nicht nur Bilder für eine Bücherwelt, vielmehr schaffen sie eine eigene, die mit unserer Gegenwart zu tun hat. Dabei verschwimmen Realität und Fantasie. Der kollagenartige Stil erinnert zugleich daran, wie zerrissen unsere Welt ist (und Kästner war). Ihre Bilder sind wie Räume, die einzeln durchschritten werden müssen, um die vielen Details wahrzunehmen, um am Ende ein vernetztes Gesamtbild zu erhalten. Dafür müssen wir bewandert statt erfahren sein – und das gelingt nur, wenn auch die Seele als Begleiterin des Verstandes mitreist.
Interview mit Ulrike Möltgen
Sie haben mehrere Bücher von Erich Kästner illustriert, darunter auch das „Märchen von der Vernunft“. Was fasziniert Sie als Künstlerin an ihm? Und wann kamen Sie mit seinem Werk erstmals in Berührung?
Ich hatte zunächst gar keinen Bezug zu Kästner, bis ich vom Verlag gefragt wurde, ob ich das „Märchen vom Glück“ illustrieren möchte - und auch nach der Arbeit an dem Buch war es nicht so, dass ich Kästner-Fan geworden wäre. Er war nach der Arbeit an dem ersten Buch wieder aus meinem Leben verschwunden. Dann kam erneut eine Anfrage vom Verlag - diesmal für das „Märchen von der Vernunft“. Auch hier - wie übrigens auch beim ersten Text - habe ich mich erst einmal über den Text (aus Illustratorinnensicht) geärgert.
Warum?
Es gibt nur einen Ort des Geschehens und dazu einen langen Monolog eines nicht näher definierten älteren Herrn. Zum Glück ist es so wie es ist, denn mit zu viel Ehrfurcht und Respekt hätte ich es nicht gewagt, derart weitläufig zu interpretieren und ihn selbst als Protagonisten einzusetzen. Ich bin auch für den Mangel an Szenenwechsel dankbar, denn dadurch war ich zusätzlich gezwungen, eine eigene Welt zu kreieren.
Welches Bild ist für Sie von besonderer Bedeutung?
Für mich gibt es kein Bild, das mir besonders wichtig ist. Es ist eher so, als hätte ich das Buch geträumt und würde lediglich die Bilder des Traumes wiedergeben und den Zuschauern zeigen. Doch ganz so fatalistisch, wie es hier klingen mag, war die Arbeit an den Texten aber auch nicht. Natürlich ist das mahnende, pazifistische, genau jetzt angebracht, richtig und wichtig.
Vielen Dank für das Gespräch.
Dass Kästners Publikationen und Reden hochaktuell sind, zeigt auch eine Ansprache auf dem Königsplatz in München anlässlich des Ostermarsches 1961, bei der Erich Kästner den Teilnehmenden der Demonstration zurief: „Unser friedlicher Streit für den Frieden geht weiter. Im Namen des gesunden Menschenverstands und der menschlichen Phantasie. Resignation ist kein Gesichtspunkt!“
Zur Person:
Ulrike Möltgen, Jahrgang 1973, studierte in ihrer Heimatstadt an der Gesamthochschule Wuppertal Kommunikationsdesign und machte ihr Diplom bei dem Illustrator und Kinderbuchautor Wolf Erlbruch. An der Folkwang Universität der Künste in Essen lehrte sie als Dozentin. Bekanntheit erlangte sie 1997 mit ihrer Bilderbuchserie „Der Mondbär“, die in Zusammenarbeit mit Rolf Fänger entstanden und zuletzt bei Coppenrath als Bilderbuch sowie im Kino und TV erschienen ist. Ihre Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und in Ausstellungen gezeigt. Ulrike Möltgen lebt als Designerin und Illustratorin in Wuppertal.
Weiterführende Informationen:
- Über Ulrike Möltgen
- „Ihr sollt nicht gut sein, sondern vernünftig“: Was Politik und Wirtschaft von Erich Kästner lernen können
- Erich Kästner: Das Märchen von der Vernunft. Mit Bildern von Ulrike Möltgen. Atrium Verlag, Zürich 2024.
- Erich Kästner: Das Märchen vom Glück. Mit Bildern von Ulrike Möltgen. 4. Aufl. Atrium Verlag, Zürich 2024.
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