Goethes Haus des Seins: Zur Einheit von Werk und Wohnung
Das „Goethehaus“ am Weimarer Frauenplan ist eines der bedeutendsten Baudenkmale Europas.
Goethe verbrachte hier fast fünf Jahrzehnte seines Lebens. Die Faszination, die von diesem Ort ausgeht, liegt nicht zuletzt an seinem besonderen Charakter, der untrennbar mit Goethes Werk verbunden ist. Wer sein Haus zu lesen versteht, dem erschließt sich auch seine literarische Welt. Dass es seit dem 22. März 1832 „halb Zwölf Uhr“ gleichsam eingefroren sei, trifft vor allem für das Arbeits- und im Sterbezimmer zu. In den meisten anderen Räumen allerdings nicht. Hier finden sich auch viele Objekte aus seinem Besitz, die neu arrangiert wurden, weil unbekannt ist, wo sie sich einst befanden. Erhalten sind auch die Bildprogramme der Repräsentationsräume, obwohl vor allem die wichtigen Supraporten im Juno- und im Urbinozimmer nach 1945 unsachgemäß erneuert wurden.
Nach dem Wiederaufbau des am 9. Februar 1945 beschädigten Gebäudes wurde das Haus wegen der anhaltenden Besucherströme immer wieder restauriert. „In immer kürzeren Abständen wurde in die Originalsubstanz eingegriffen“, schreibt der Kunsthistoriker Christian Hecht in seiner Monografie „Goethes Haus am Weimarer Frauenplan. Fassade und Bildprogramme“. Es ist ein gewichtiges Buch, das nicht zwischendurch gelesen werden kann – es erfordert die Kunst des Sehens und Fokussierung auf das Detail, das uns im Zeitalter der Digitalisierung immer mehr verloren geht. Es lädt uns nicht nur ein, Goethes Wohn- und Arbeitsräume zu betreten, sondern auch, wieder konzentriert zu lesen, sich einzulassen auf Unbekanntes und zu lernen. Architektur und Baugeschichte mag für viele Menschen trocken sein, und sie steigen zuweilen schnell wieder aus, weil ihnen Expertenthemen zu „speziell“ sind. Doch wer dranbleibt und sich auch auf sperrige Wissensstücke einlässt, wird erleben, wie auch ein Gebäude in seinem Inneren entsteht, von dem er gar nicht wusste, dass es da ist.
Auf Goethes Werke wird heute in Social Media vielfach verwiesen, aber fast nur noch als Zitatfetzen – direkt aus dem Internet, kaum aus seinen Büchern. Wer ihn so reduziert wahrnimmt, wird auch blind durch sein Wohnhaus gehen und nichts von seinem Charakter spüren, den man nur erkennt, wenn man auch „weiß“ und sich den Weg des Wissens erarbeitet hat. Das Buch von Christian Hecht erinnert daran und belohnt alle, die sich lesend und sehend mit ihm auf eine Bildungsreise der besonderen Art begeben:
Erbaut hat das Wohnhaus am Frauenplan 1709 der Weimarer Unternehmer Georg Caspar Helmershausen, der seine Gewinne in krisensichere Immobilien investierte.
Von ihnen war das spätere Goethehaus die bedeutendste. Helmershausens Baugedanke wurde zum Vorbild für weitere Weimarer Doppelhäuser des 18. und 19. Jahrhunderts. Nach dessen Tod war das Haus im Besitz seiner Nachkommen, die die östliche Hälfte selbst bewohnten und die westliche vermieteten (von 1782 bis 1789 auch an Goethe). 1792 gehörte das Haus dem Geheimen Rat und Garnisonsmedicus Dr. Paul Johann Friedrich Helmershausen, der dem allerhöchsten Kaufersuchen nicht standhielt. 1789 war der Mieter Johann Wolfgang von Goethe aus dem Haus ausgezogen und kehrte dann 1792 als neuer Besitzer zurück - auf Wunsch Herzog Carl Augusts, der in diesem Jahr zum wirklichen Eigentümer des Hauses wurde.
Goethe wäre mit seiner Wohnung im Kleinen Jägerhaus zufrieden gewesen, denn sie bot ihm, Christiane Vulpius und ihrem am 25. Dezember 1789 geborenen Sohn August ein gutes Umfeld am Stadtrand. 1792 benötigte der Herzog allerdings diese Wohnung, um hier den englischen Reisenden Charles Gore sowie dessen Töchter Eliza und Emily unterzubringen. Am 17. Juni 1794 stellte ihm Carl August eine eigenhändige kurze Schenkungsurkunde aus. Allerdings erst, als 1807 die Schenkung tatsächlich vollzogen wurde, wurde Goethe zum tatsächlichen Eigentümer seines Hauses.
In den Jahren ab 1792 hat Goethe die Architektur der Fassade nicht verändert, nahm aber innerhalb des Hauses zahlreiche Umbauten vor. Im Westteil wurden einige Repräsentationsräume eingerichtet, die Christian Hecht in seinem Buch durchschreitet: das Treppenhaus, heutiger Gelber Saal und „Junozimmer“ (nach dem Kolossalkopf der Juno Ludovisi benannt, der in der Ecke zwischen Fenster und Tür aufgestellt ist), „Urbinozimmer“ und das als Brückenraum fungierende „Büstenzimmer“.
Anstoß zu diesem Bildband gab bereits der 300. Jahrestag der Erbauung des Wohnhauses im Jahre 2009. Leiden fanden Architektur und Bildprogramm in der Vergangenheit kaum Beachtung. Das scheinbar Nebensächliche, das im Alltag so oft übersehen wird, erhält in diesem Buch die Bedeutung, die es verdient – so auch das Treppenhaus. Die Stufen werden mit Füßen getreten und in der Regel mit keinem Gedanken gewürdigt. In Erinnerung ist fast allen Besuchern der 1793 fertiggestellte Schriftzug SALVE im Boden vor der Eingangstür zum Gelben Saal, der das Treppenhaus mit der Raumflucht verbindet. Er ist mehr als nur eine geläufige Begrüßungsformel, sondern auch ein emblematischer Wunsch, dass man in ein Idealreich eintreten möge, dessen Anschauung den Gast „gesunden“ lässt. Am 28. August 1793 stellte der Tischler Johann Gottlob Johler die Rechnung über den für das Jupiterrelief bestimmten Rahmen (ein Reichstaler) sowie über das „SALVE“ (zwei Reichstaler). Diese belegen, dass das „SALVE“ anfänglich mit einem Ornament umgeben war. Heute weisen die fünf Buchstaben nicht einmal eine streng antike Form auf. Vermutlich wurden sie immer wieder in der Form erneuert, die ihnen Johler ursprünglich gegeben hat.
Christian Hecht zeigt auch, dass sich im Treppenhaus mehrere Aspekte verbinden. Das Jupiterrelief ist der Schlüssel zu deren Verständnis: das in Goethes Augen „jupiterhafte“ Wesen Carl Augusts; der Name „Augustus“, der den Gedanken an Kaiser Augustus wachruft, unter dessen Friedensherrschaft das römische Imperium eine Blüte der Dichtkunst erlebte, wie es nun unter der Herrschaft Carl Augusts auch in Weimar geschieht. Die Gestaltung des Hauses wurde durch Goethes Aufenthalt in Italien geprägt, wohin er im September 1786 aufgebrochen war. Zu Johann Peter Eckermann sagte Goethe 1830: „So brachte ich aus Italien den Begriff der schönen Treppen zurück, und ich habe dadurch offenbar mein Haus verdorben, indem dadurch die Zimmer alle kleiner ausgefallen sind als sie hätten sollen.“ Die von Goethe selbst entworfene Treppenanlage sollte die Erfahrung seiner Italienreise widerspiegeln. Sie hat den Bombenangriff von 1945 vergleichsweise glimpflich überstanden.
Die Repräsentationsräume wurden zwischen 1792 und 1795 mit neun eigens angefertigten wandfesten Bildwerken ausgestattet, die sich zu von ihm selbst verantworteten Bildprogrammen fügen. Sie vereinen sich zu einem Kosmos, dessen Bestandteil und dessen Hülle das Haus dem Frauenplan ist. Die Bildkünste haben sich allerdings schon damals nur wenigen Menschen erschlossen. Goethe beschreibt in seinem Gedicht „Künstlers Fug und Recht“ das Unverständnis: „Daß man dabei was denken sollt´“. Auch in „Dichtung und Wahrheit“ heißt es:
Es ist „nicht jedermanns Sache, Bedeutung in den Bildern zu suchen.“
Die Aufwendungen bezahlte stets aus dem Erlös seiner literarischen Werke. Ende des Jahres 1795, als der Umbau des Hauses so gut wie abgeschlossen war, schrieb er am 30. Dezember an Heinrich Meyer: „des Menschen Wohnung ist sein halbes Leben“. Insofern markiert das Relief den Zugang zu Goethes „halbem Leben“.
Spätestens seit dem Sommer des Jahres 1800 beabsichtige Goethe, die Hauptfassade seines Hauses umzugestalten. Wie der spätere Fassadenentwurf zeigt, wollte er die ungewollt entstandene Diskrepanz zwischen Innen und Außen aufzuheben. Die einzige realisierbare Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, bestand darin, dem Gebäude eine klassizistische Verblendung zu geben, mit durchgängig römisch–antikisierendem Mauerwerk, profilierten Fenstereinfassungen und Gesimsen sowie einer stärkeren Akzentuierung des Mittelportals. Das war nicht einfach, denn einerseits konnte die Bausubstanz nur unwesentlich verändert werden, andererseits mussten die Regeln der klassischen Architekturtheorie beachtet werden. Leider wurde Goethes Architektursprache nicht verstanden, weil er die gewohnten Bahnen der Antikenrezeption verlassen hatte und die üblichen dekorativen Formen höfischer und bürgerlicher Repräsentation durch eine Repräsentation des „Wesentlichen“ ersetzen wollte. Gebaut wurde seine selbst konzipierte Fassade nicht. Am 2. Januar 1801 erkrankte Goethe schwer, und der Fassadenentwurf blieb liegen – auch, als er sich bald wieder erholte.
Die auf dem Papier stimmige Planung scheiterte an der Realität. Es wären für die Rustika keine Steinquader benutzt worden, sondern Putz und Farbe, und auch das opus reticulatum hätte der Tünchermeister Johann Christian Benjamin Lämmerhirdt nur aufgemalt. Goethes Konzept wäre nur dann überzeugend gewesen, wenn das Mauerwerk wirklich das „Wesentliche“ des Baus ausgemacht hätte. Auch die Kostenvoranschläge waren enorm. Das Ergebnis wäre „kümmerlich“ ausgefallen und hätte gerade keinen „Begriff des Alterthums“ geboten. 1802 legte Goethe seinen Fassadenplan deshalb ad acta. Das tat aber nicht Lämmerhirdt, der Goethes Entwurf und die Skizzen des Architekten Friedrich Thouret in eine einfachere Architektursprache übersetzte und auf inhaltliche Komplexität verzichtete. Gegenüber von Schillers Wohnhaus entstand 1805 doch noch Goethes Fassade in veränderter und reduzierter Form. Das Haus an der heutigen Schillerstraße 11 ist weitaus mehr als nur „eine Fußnote zum Haus am Frauenplan, denn es machte nicht nur den dort unausgeführten Fassadenentwurf im Stadtbild präsent, sondern zeigt außerdem auf eine durchaus einmalige Weise, welch umfassende Wirkung die Person Goethes ausübte.“
Goethes Wohnhaus blieb 1806 durch „Standhaftigkeit u. Glück“ erhalten, wie Goethe in seinen Kalender eintrug. Ein Unheil konnte gerade noch abgewendet werden. Goethe und Christiane ließen sich trauen. Die Ereignisse gaben auch den Anstoß für den realen Vollzug der Schenkung von 1794. Carl August leitete die nötigen Schritte ein und 1807 wurde Goethe tatsächlicher Eigentümer seines Hauses. In seinem letzten Geburtstagsbrief, den Goethe an Carl August schrieb, verweist er 1827 mit der Formulierung „ein wundersam Gebäude von Glück und Wohlbehagen“ auf das Haus, das uns noch heute Einblick in sein Wesen und Wirken gibt.
Weiterführende Literatur:
Christian Hecht: Goethes Haus am Weimarer Frauenplan. Fassade und Bildprogramme. Hirmer Verlag GmbH, München 2020.