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Auch im digitalen Zeitalter nicht überflüssig: der Tastsinn. - Pixabay

Greifen und reifen: Warum Berührungen auch im Zeitalter der Digitalisierung überlebenswichtig sind

Im Digitalisierungszeitalter ist das Potenzial der menschlichen Hand immer mehr reduziert worden. Es scheint, als seien Zeigefinger oder digitaler Stift das Ende unseres Vermögens zum gestaltenden Zugriff auf die Welt geworden. Dabei ist die überlebenswichtige Bedeutung des Tastsinns, den wir ab der achten Schwangerschaftswoche entwickeln, allgemein bekannt. Auch das Gehirn kann ohne Körperreize nicht wachsen und reifen. Wird die Handfläche eines Säuglings berührt, schließt sich die Hand reflexhaft. Ähnlich reagiert der Fuß auf eine Berührung der Fußsohle.

Greifbares Leben

Am Ende des Lebens haben Sterbende oft das Bedürfnis, dass ihre Hand gehalten wird. Der Tastsinn macht Leben und Tod erst wirklich greifbar. In einer kleinen Meditation über die Hand hat der Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini geschrieben: "Beobachte einmal einen Menschen - oder dich selbst - wie eine Bewegung des Gemütes, Freude, Überraschung, Erwartung sich in der Hand kundtut. Sagt nicht oft ein rasches Heben oder ein leises Zucken der Hand mehr als selbst das Wort? Scheint das gesprochene Wort nicht zuweilen grob neben der leisen, so vielsagenden Sprache der Hand? Sie ist nach dem Antlitz der geistigste Teil des Leibes."

Durch den aufrechten Gang des Menschen sind seine Hände frei, um sie vielseitig einzusetzen. Die Gegenüberstellung des Daumens (der motorisch stärkste Finger) führt dazu, dass zahlreiche handwerkliche Tätigkeiten bis hin zu feinmotorischen Kleinarbeiten ausgeübt werden können. Würde er fehlen, gäbe es keine Greifbewegung der Hand. Auch unterstützt er dominante Bewegungen. Unsere Finger beugen und strecken sich im Laufe eines durchschnittlichen Menschenlebens mindestens 25 Millionen Mal. Bereits im Säuglingsalter sind die "Zappelfinger" ständig in Bewegung. Das Baby be-greift seine Umwelt zuerst mit den Händen. Wie sensibel die menschliche Hand ist, zeigt sich auch daran, dass sich auf der Fingerkuppe des Erwachsenen etwa 4000 Informationsträger befinden. Von der Großhirnrinde des Menschen ist ein Drittel für die Hände verantwortlich.

Für Martin Grunwald, Pionier der Hapikforschung, ist der Tastsinn eine Art biologische Ursprache, die uns ein Leben lang begleitet. Das schlägt sich auch in unserer Sprache nieder: Situationen „berühren“ uns, etwas geht uns „unter die Haut“. Die Wirkungen kurzer Körperberührungen auf den menschlichen Organismus wurden auch im klinischen Kontext untersucht: Danach zeigen Patienten eine schnellere Genesungsrate, wenn sie Ärzte und Pflegekräfte im Vorfeld einer Operation wertschätzend an Kopf, Schulter oder Arm berührten. Diese Entspannungseffekte haben wiederum positive Auswirkungen auf Schlafstörungen oder depressive Symptome. Auch bewerten Patienten Ärzte, die ihre sprachliche Kommunikation mit dem Patienten mit elementaren Körperberührungen wie Handschlag oder aufmunternden Gesten verknüpfen, als kompetenter und freundlicher.

Grunwald wies nach, dass sich Berührungseffekte sogar in barer Münze niederschlagen. Dies wurde u.a. in einer Restaurantstudie festgestellt: Die Servicekräfte wurden gebeten, in dem Moment, in dem sie die Rechnung überreichten, die eine Hälfte der Restaurantbesucher leicht an der Schulter oder der Hand zu berühren, die andere Hälfte ohne dergleichen abzukassieren. Die Analyse der Trinkgeldhöhe ergab, dass diejenigen Gäste, die kurz berührt worden waren, deutlich mehr Trinkgeld gaben.

Mit fortschreitender Digitalisierung wird zwar in vielen Bereichen das Potenzial der Hand reduziert und ignoriert (Smartphone, Touchscreen) – es gibt aber auch eine Parallelentwicklung, die immer wichtiger wird: das Handwerk. Lou Doillon, die Tochter Jane Birkin, zeichnet mit Vorliebe ihre eigenen Hände, weil sie ehrlich sind und der einzige Teil des Körpers, an dem das Alter nicht durch Schönheitschirurgie versteckt werden kann. Auch sie liebt wahre Handwerkskunst, ja sieht in ihr sogar eine Investition fürs Leben und plädiert im Interview mit dem séducation magazin (11/2017) für mehr Bewusstsein gegenüber dem eigenen Konsumverhalten.

„Interessanterweise berichten viele analoge Schreiber, dass sich handschriftliche Notizen in geliebten Notizbüchern wertiger anfühlen (!) als andere Notizen. Der optische und physische Rahmen eines Buches verleiht den eigenen Gedanken scheinbar mehr Gewicht“, schreibt Christian Mähler in seinem Beitrag „Stift und Papier – analoge Multitalente“ im Buch „CSR und Digitalisierung“. Von ist er Beruf Informatiker und arbeitet als Entwicklungsleiter in einer Softwarefirma. Er gestaltet so direkt die Digitalisierung des Lebens mit und bloggt gleichzeitig privat seit 2009 über die analoge Welt. Sein Notizbuchblog http://www.notizbuchblog.de/ ist zu einem der wichtigsten Blogs über Notizbücher geworden. Hier ist die digitale und analoge Welt auf nachhaltige und schönste Weise verbunden –weil sie berührt.

Wer sein Unternehmen haptisch prägt, befindet sich auf dem „besten Weg zu einem sinnlichen Unternehmen“, sagt der Marketingexperte Karl Werner Schmitz. Ein Beispiel dafür war beispielsweise die Europa-Kampagne der Deutschen Telekom mit dem Star-Tenor Andrea Bocelli. Die länderübergreifende Idee eines vernetzten Europas sollte durch den Kampagnenclaim unterstützt werden: „Fühl dich verbunden in ganz Europa. Im besten Netz.“ Es war nicht sichtbar, sondern wurde über ein gemeinsames Gefühl vermittelt, das über Andrea Bocelli, der im Alter von zwölf Jahren erblindete, transportiert wurde. Begleitet von emotionalen Bildern und Musik erklärte er mit weit ausgebreiteten Armen die Bedeutung der grenzüberschreitenden Kraft des Netzes: „Wie für die Musik gilt auch für das Netz: Was uns verbindet, sieht man nicht – man fühlt es.“

Die Sinne, allen voran der Tastsinn, sind bei Blinden besonders ausgeprägt. Indem die Telekom darauf setzte, machte sie Digitalisierung greifbar – und sich selbst zu einem haptischen Unternehmen, deren Ziel es ist, Menschen berührende Erfahrungen zu verschaffen, durch die sie Dinge aufnehmen, erleben und begreifen können.

Auch im Handel wird auf den Tastsinn gesetzt: Liegt ein Produkt dem Kunden angenehm in der Hand, möchte er es schneller besitzen. In Sekundenschnelle wirkt der Tastsinn auf unser Hirn. Immer mehr Unternehmen nutzen den Effekt, den Anfassen und Fühlen auf den Kaufreiz hat: So werden beispielsweise die Oberflächen von Creme-Tuben weniger glatt gestaltet, weil das den meisten Kunden gefällt. Das Interesse potenzieller Käufer wird ebenfalls gesteigert, wenn sie Haushaltsgeräte in die Hand nehmen und ausprobieren können. Produkte können teurer sein, wenn sie sich gut anfühlen. Einige Preise steigen dadurch um 20 bis 30 Prozent - gekauft wird dennoch.

Auch die Industrie reagiert immer mehr in Touch: „Die Zukunftsvision vom Point of Sale zum Point of Touch hat schon längst begonnen“, sagt Karl Werner Schmitz. Man denke an das Smartphone mit dem Touchscreen-Display. Doch es reicht für den menschlichen Erkenntnisprozess und die Urteilskraft nicht aus, nur eine flache Bildtafel zu berühren. Worauf es ankommt, ist, von einer abstrakten Ebene auf eine gegenständlich-konkrete Ebene zu kommen. Dass sich beides nachhaltig miteinander verbinden lässt, zeigen die folgenden Beispiele:

Auch der ökologische Onlineversender memo AG bindet den Tastsinn aktiv ein. Das haptische Zauberwort lautet „Mit-Mach-Marketing“ (Schmitz): Der Kunde wird zum Mit-Arbeiter und in den Produktionsprozess integriert, „selbst Hand anzulegen“ und dabei für „Nachhaltigkeit zu sorgen“. Bei memolife finden sich Beispiele aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen – auch für Kinder, die gerade anfangen, die Welt zu begreifen. Bastelsets sind dabei eine erste Handreichung: ein Bausatz Mini-Flugdrachen mit einem Bastelbogen aus Recyclingpapier, einen Solar-Bausatz für eine solarbetriebene Windmühle, die aus leichtem Pappelholz hergestellt ist und für deren Aufbau kein Werkzeug benötigt wird, oder ein Solar-Bausatz "Windgenerator". Auch Gartenzubehör wie Vogelhäuser oder Insektenhotels können selbst zusammengebaut werden. Der Nachhaltigkeitsaspekt soll auch bei den „nebensächlichen“ Dingen nicht vernachlässigt werden.

Anhand zahlreicher Beispiele zeigen Claudia Silber, die hier die Unternehmenskommunikation leitet, und ich im Beitrag „Dinge des Lebens im Zeitalter der Digitalisierung“, dass es für eine „fassbare“ Wirklichkeit auch ein greifbares Erleben braucht - echte Dinge und die Rückbesinnung auf deren Resonanzqualitäten. Die Faszination und Vorliebe für kleine Dinge und Details sind heute ein letzter Rest, der eine Gegenmacht zur Rationalisierung der Gesellschaft darstellt.

Ein haptisches und nachhaltiges Unternehmen legt vor allem auch Wert auf handgefertigte Produkte im Sortiment. Die alten, von Hand gefertigten Dinge waren schon für den Dichter Rainer Maria Rilke mit Leben erfüllt (Hände verkörperten für ihn Reinheit und Nähe, sie vollziehen Handlungen, die auf die Welt zugreifen). Um sinnvoll zu funktionieren bedarf die Hand der konkreten Dingwelt. Ein Beispiel für Hand und Handel: So sind bei memolife auch handgeflochtene Körbe aus Robinien- und Weidenruten zu finden, dessen Flechtmaterial ebenfalls ausschließlich aus europäischen Korbweiden aus nachhaltigem Anbau stammt und naturbelassen verarbeitet wurde. Natursteine, die per Hand an den Ufern des Bodensees und seinen Zuflüssen gesammelt wurden, finden sich hier als Kerzen- oder Teelichthalter, als Windlicht oder Duftlampe. Die Verarbeitung erfolgt ebenfalls in Handarbeit.

All diese Dinge sind zugleich ein Ausdruck davon, wie wir unsere Welt begreifen und welchen Wert wir ihr verleihen, indem wir uns für oder gegen etwas entscheiden: für ein wahrhaftes, nachhaltiges Produkt oder eines, das uns zu täuschen versucht, indem es vorgibt, etwas zu sein, was es nicht ist. Wer sich ernsthaft mit Nachhaltigkeit beschäftigt, wird die Bedeutung der Hände und des Haptischen niemals unberücksichtigt lassen: Denn sie vollziehen Handlungen, die verantwortungsvoll auf die Welt zugreifen. Ihr erstes Merkmal ist ihre Offenheit gegenüber der Welt.

Weiterführende Literatur:

  • Martin Grunwald: Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München 2017.

  • Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

  • Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Dinge des Lebens im Zeitalter der Digitalisierung. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2017.

  • Christian Mähler: Stift und Papier – analoge Multitalente. Und: Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt: Dinge des Lebens im Zeitalter der Digitalisierung. Beide in: Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2017.

  • Karl Werner Schmitz: Die Strategie der 5 Sinne. Wie Sie mit Haptik Ihren Unternehmenserfolg nachhaltig steigern. Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 2015.

  • Alexandra Hildebrandt: Lebwohl, du heiterer Schein! - Blindheit im Kontext der Romantik. Königshausen & Neumann (Epistemata Literaturwissenschaft), Würzburg 2012.

Kommentare

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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