Heiße Zeiten: Berlin unterm Brennglas
Tag und Nacht verdiente sie sich „diesen Titel“ von neuem. Erich Kästner schrieb rückblickend, dass sich alles - Theater und Kunst, Musik und Literatur, Mode und Schönheit, Lust und Laster - wie unter einem Brennglas (unter dem es heiß ist) zusammendrängte: „Es gab viel Blühen und auch hektische Blüten. Es gab viel Verwelken und auch Verbrennungen dritten Grades.“ Alles war fiebrig und voll exzessiver Lebenslust, während im Hintergrund schon die Gewitterwolken von Weltwirtschaftskrise und Naziherrschaft aufzogen. Der Krisentaumel der Weimarer Republik erinnert auch an unsere Zeit. Viele Vorzeichen von damals verweisen darauf: abrutschende Mittelschicht, (sprachliche) Aufrüstung, Lasterhaftigkeit und Vergnügungskultur, Leben ohne Netz und Absicherung. Erich Kästner (1899-1974) lebte von 1927 bis 1945 in Berlin. Als der 28-Jährige in die größte deutsche Stadt kam, war er kurz zuvor in seiner Heimat Sachsen wegen des zu „frivol“ geratenen erotischen Gedichts „Abendlied des Kammervirtuosen“ (1927) in Ungnade gefallen. Die letzten Jahre der Weimarer Republik wurden für ihn eine der produktivsten Lebensabschnitte. Hier entstanden jene Werke, die ihn weltberühmt machen sollten. In der Berliner Zeit erschienen seine ersten Gedichtbände „Herz auf Taille“ (1928) und „Lärm im Spiegel“ (1929), sein Roman „Fabian“ (1931) und die Kinderbücher „Emil und die Detektive“ (1929), „Pünktchen und Anton“ (1931) sowie „Das fliegende Klassenzimmer“ (1933).
Bei der Wahl der Roman-Schauplätze ließ sich Erich Kästner von der Nachbarschaft seiner Wohnung und der Schreiborte in den Cafés inspirieren, andere kannte er aus seiner Arbeit als Journalist und Theaterkritiker. Bereits kurz nach dem Erscheinen von „Emil und Detektive“ erhielt Kästner einen Brief von einem Kind, das mit dem Buch in der Hand die Schauplätze des Romans entdeckt hat. Als freier Mitarbeiter schrieb er auch für Tageszeitungen wie das Berliner Tageblatt, die Vossische Zeitung oder die Neue Leipziger Zeitung. Etwa 500 Artikel entstanden während dieser Zeit. Die Herausgeberin und Sylvia List hat daraus eine Auswahl auf hundert Seiten zusammengestellt. „Das ist Berlin!“ ist der zweite Band einer dreiteiligen Reihe im Atrium Verlag zu den wichtigsten Wirkungsstätten Kästners: Dresden, Berlin und München. Im Berlin-Band sind Texte aus Kästners Berliner Schaffenszeit zwischen 1927 und 1933 versammelt. Enthalten sind auch ausgewählte Gedichte wie das „Marschliedchen“: „Ihr wollt die Uhrenzeiger rückwärts drehen / und glaubt, das ändere der Zeiten Lauf. / Dreht an der Uhr! Die Zeit hält niemand auf! / Nur eure Uhr wird nicht mehr richtiggehen. // Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nicht erwachen. / Denn ihr seid dumm und seid nicht auserwählt. / Die Zeit wird kommen, da man sich erzählt: / Mit diesen Leuten war kein Staat zu machen!“
Enthalten sind zudem kurze Zeitungsauschnitte. So heißt es im Artikel „Es liegt in der Luft!“, dass sich „literarische Revuen“ auf den Theaterbühnen immer mehr breitmachen. Premieren oder Kunstausstellungen seien nicht mehr das vorrangige Gesprächsthema, sondern die Internationale Automobilausstellung. Kästner berichtet über das Alltags- und Kulturleben und das politische Geschehen – dazwischen die grellen Lichter der Großstadt, das Grau der Fabriken, Hinterhöfe und Mietskasernen, die Lautstärke der Sporthallen, Verkehrschaos, Cabaret, Theater, Reklame, Filmpaläste, Sensationspresse und anarchistische Boheme. Im Vorgarten eines Berliner Cafés gehen zwei junge Burschen auf Autogrammjagd, auf der Weidendammer Brücke verkauft eine arme Frau Streichholzschachteln, an einem Glücksrad auf dem Rummelplatz sind „5 Pfund Prima Weizenmehl“ der Hauptgewinn. „In Berlin fragte niemand nach der Hautfarbe, nach dem Pass, nach dem Bankkonto, nach der Vorbildung, nach den Zensuren, nach der Familienchronik. Es hieß nur: »Hic Berolina, hic salta!« Wem der Sprung gelang, der war qualifizierter Berliner. Von einem Tag zum andern.“
„Amerikanisches Kapital wurde aus Deutschland abgezogen, die Industrieproduktion brach ein und die Arbeitslosenzahlen stiegen dramatisch - auf bis zu 44 Prozent.“ Im September 1930 wurde die NSDAP zweitstärkste Partei nach der SPD im Reichstag. Die „Goldenen Jahre“ und die Weimarer Republik näherten sich ihrem Ende. „Die Arbeitslosigkeit stieg wie Hochwasser. Die Regierung hatte kein Konzept und fand kein Konzept. Aus der Unzufriedenheit wurde eine Ideologie. Die Reaktion holte zur Revolution aus. Und die Gegner der Arbeiterschaft finanzierten die Diktatur des braunen Proletariats“, schrieb Kästner später. 1933 wurden seine Bücher verbrannt. Am 9. Mai 1947 erinnerte er an diese „Schandtat“ und berichtete, wie er mit anderen im Vorgarten eines Lokals im Westen saß und sich alle anschwiegen: „So einfach war es, eine Literatur auszulöschen? Mit so plumpen, gemeinen Maßnahmen konnten Bosheit und Dummheit triumphieren? So rasch gab der Geist seinen Geist auf?“ Damals wussten sie noch nicht, dass sich mit solchen Methoden zwar ein Volk vernichtet werden kann, Bücher aber nicht: „Sie sterben nur eines natürlichen Todes. Sie sterben, wenn ihre Zeit erfüllt ist. Man kann von ihrem Lebensfaden nicht eine Minute abschneiden, abreißen oder absengen. Bücher, das wissen wir nun, kann man nicht verbrennen.“ Es folgten „zwölf der schlimmsten Jahre“ - auch für ihn selbst: Er blieb in Berlin, doch die Stadt und er blieben nicht, was sie einmal waren. Kästner beschrieb sich als ‚lebender Leichnam“, der durch die Straßen ging – „ein verbotener, ein ausradierter Schriftsteller, beschimpft, bespitzelt und jeden Tag und jede Stunde auf eigene Gefahr. Die Stadt blieb nicht die gleiche, und die Menschen änderten sich, von Zentimeter zu Zentimeter, mit dem System.“ Dieses Buch erinnert daran, dass die Vergangenheit jederzeit wieder um die Ecke biegen kann. Berlin ist überall.
Erich Kästner: Das ist Berlin! Erich Kästner und seine Stadt 1927-1933. Hg. von Sylvia List. Atrium Verlag, Zürich 2023.
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Erich Kästner: Kleiner Liebesbrief an München. Erich Kästner und seine Stadt. Hg. von Sylvia List. Atrium Verlag, Zürich 2024.
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Frederik D. Tunnat: KARL VOLLMOELLER. Dichter und Kulturmanager. Eine Biografie. Studienausgabe. Edition Vendramin. 4. neu bearb., erweiterte Auflage. Berlin, 2019.
Frederik D. Tunnat: Marlene Dietrich. Voellmoellers blauer Engel. Edition Vendramin, Berlin 2014.