Höflichkeit und Manieren: Warum nicht nur der Gentleman heute ein Update braucht
Romantik statt Zynismus
Populismus, Rüpeleien, Zynismus, Beleidigungen und Muskelspiele prägen nicht nur unsere Zeit, sondern auch ein bestimmtes Männerbild, das für die Verrohung der Sitten steht. Umso wichtiger ist das Update eines zivilisierten und kultivierten Menschen, „der niemals Schmerz zufügt“. Für den Autor John Henry Newman macht dies einen Gentleman aus, der zugleich innere Klarheit, Haltung und Stärke ausstrahlt. Er muss sich nicht als Showman darstellen, weil er aus sich selbst heraus glänzt, die „Fähigkeit zur Selbstkontrolle und intellektuellen Gefasstheit“ hat und auch bei ungeheuerlichen Vorgängen distanziert bleibt und seine Manieren behält.
Diese gelassene Distanz entsteht nach Ansicht des Journalisten Max Scharnigg „durch Reisen, durch Flanieren, Studieren und waches und geneigtes Beobachten der Umwelt“. Es ist dringlich: Wir brauchen ein Update des Gentleman, weil wir uns nicht in einer postfaktischen, von Rüpeln und Zynikern geprägten Wirklichkeit verlieren dürfen. Für Tim Leberecht ist der Zynismus die größte Bedrohung für Business-Romantiker, ja die Déformation professionelle der Geschäftswelt. „Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis kennt und von nichts den Wert.“, schrieb Oscar Wilde. Ein Zyniker sieht die Welt arrogant von oben – er verachtet Mensch und Umwelt und geht davon aus, dass Regeln nur für Dumme gemacht wurden.
Wir brauchen Romantik statt Zynismus in unserer von Terror erschütterten, desillusionierten Welt. Sie ist keine Weltflucht und keine Krankheit, sondern Medizin, die uns tröstet uns in schwierigen Zeiten. „Solange die Menschheit die Sehnsucht noch kennt, wird sie auch romantisch gefärbt sein“, sagt der Schweizer Künstler Ugo Rondinone in der deutschen VOGUE (Januar 2017). Der Gentleman 21.0 ist nicht rückwärtsgewandt, sondern zeigt uns, wie wichtig es ist, sich im Irrsinn der Welt eine eigene Haltung zu verschaffen oder zu bewahren, die sich auch in gutem Benehmen zeigt. Wer sich danach sehnt, möchte Orientierung gewinnen. Und die braucht es in einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist, mehr denn je.
Wenn wir im Großen schon nichts ändern können, dann wenigsten im Kleinen
Der „guten alten Zeit" widmet sich seit Jahren der Musiker Max Raabe und sein Palastorchester. Er singt Lieder von Textdichtern und Komponisten der Zwanziger und Anfang der Dreißigerjahre. Dazu gehören auch Gassenhauer der Comedian Harmonists. Das ist keine Unterhaltung als „Masche", kein Nostalgiefimmel, sondern Wahrheit „im Kern", wie er sagt. Er lenkt in Krisenzeiten wie diesen nicht ab, sondern zu etwas hin: „Gelassenheit, Genauigkeit und Manieren." (Michael Zirnstein)
Manieren und Höflichkeit stehen allerdings auch schon immer im Verdacht der Täuschung. "Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist", heißt es in Goethes „Faust“. Diese Form des Anstands hat keinen Inhalt und erzeugt deshalb Misstrauen. Schopenhauer nennt die Höflichkeit einen "Mantel", der wichtig für den sozialen Zusammenhang sei, weil er die Egoismen und Anstößigkeiten verdeckt, eigentlich aber nichts anderes ist als eine von allen "anerkannte Heuchelei".
In den vergangenen Jahren wurde das Bedürfnis nach einer Neubewertung der Manieren immer größer
Ein wichtiger Impuls dafür war auch das Buch "Manieren" von Asfa-Wossen Asserate, Prinz aus dem äthiopischen Kaiserhaus und Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie. Das Buch war ein Bestseller, in dem er den berühmten Knigge in die Gegenwart übersetzt hat und sich auf eine neue und zeitgemäße Etikette konzentrierte. Asserate zeigte, dass die Deutschen ein bedeutendes kulturelles Kompendium besitzen nach dem Motto: „Schaut her, hier sind all diese Werte. Beschäftigt euch damit und reicht sie an die nächste Generation weiter." Für ihn sind sie der ästhetische Ausdruck der Moral, das Parfüm, mit dem wir zeigen, dass wir nicht stinken: „Manieren sind die Kinder der Moral und die Enkelkinder der Religion." Sie drücken nicht nur Menschwerdungsakte, sondern auch eine tiefe Symbolik von Nachhaltigkeit aus.
Wenn Asserate von Jugendlichen gefragt wird, was sie denn davon haben, wenn sie sich gut benehmen, antwortet er ihnen: "Versuch es doch einfach mal. Ich wette mit dir, dass du an dem Abend, an dem du einem Menschen etwas Gutes getan hast, besser schlafen kannst." Wohl fast jeder kennt den berühmten Satz von Karl Lagerfeld: "Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren". Als Asfa-Wossen Asserate vor einigen Jahren gefragt wurde, ob er bei diesem Jogginghosen-Anblick in Innenstädten noch an eine Wiederkehr dessen glaubt, wofür er sich einsetzt, antwortete er, dass er dies nicht so dramatisch sieht und eher optimistisch sei. Er glaube, dass das Pendel wieder zurückschlägt.
Der Autor und Unternehmensberater für Afrika und den Mittleren Osten sowie Initiator von Pactum Africanum hat Recht behalten: Generaltugenden wie Aufmerksamkeit, Ordnung und Höflichkeit, die anderen gegenüber Respekt und Wertschätzung ausdrücken, erleben gerade eine Renaissance - auch bei Jugendlichen. Es ist ein Statement gegen die Gräuel dieser Welt, wenn der Glanz der Tugendhaftigkeit wieder verstärkt in unseren Alltag einzieht.
Erlesenes
„Herrn Knigge gefällt das!“ lautet der Titel eines Buches von Max Scharnigg. Es ist ein nachhaltiger Leseschmaus, der nicht nur mit dem Besteck des menschlichen Verstandes zerlegt werden, sondern auch ganz mit dem Herzen aufgenommen werden sollte. Jede Seite ist so gehaltvoll wie unterhaltsam. Es finden sich "erlesene" intellektuelle Vorspeisen, Haupt- und Nachgänge, schnell und schwer Verdauliches, klug arrangierte Worte. Scharnigg beweist Geschmack in einer Zeit, in der so vieles geschmacklos scheint - besonders in der virtuellen Welt, die ein fester Bestandteil unseres Alltags geworden ist, in dem die Grenzen zwischen digitalem und analogem Erleben immer mehr verschwimmen.
Der Buchtitel verweist einerseits auf die Aktualität von Knigges Grundsätzen und ist andererseits eine Anspielung auf das digitale "Gefällt mir". Der alte Knigge hat auch nach 240 Jahren Gültigkeit - "gerade weil grundlegende Elemente der Höflichkeit, des Hausverstandes und des guten Stils unter virtuellen Bedingungen noch schneller erudieren als auf der Straße: Langweile nicht! Sprich nicht immer nur von dir! Respektiere die Meinungen anderer!" Enthalten ist auch eine Vielzahl von Knigge-Originalzitaten, die es wert sind, auch hier erwähnt zu werden, weil beim Lesen all jene vor dem inneren Auge erscheinen, die auf jeder Party sind, mit dem Weinglas von Tisch zu Tisch hüpfen, aber keine richtigen Gespräche führen, mit einem großen Freundeskreis prahlen und niemals allein sein können.
Adressiert ist Scharniggs Buch an eine Gesellschaft von "Ich-Performern", die zwar mit anderen ständig in Interaktion treten, aber doch meistens allein mit sich sind in einer Welt, in der "Klick- und Daumenzahlen" die wichtigste Währung sind. Die hier angesprochenen Themen wie Manieren, Höflichkeit, Gelassenheit, Genauigkeit oder gesunder Menschenverstand (Hausverstand) sind keine Relikte aus der Vergangenheit, sondern hochaktuell und gelten auch in der Welt des Internets. Wie im richtigen Leben so gilt auch hier: Wer sich kreativ und sorgfältig artikuliert, "in seinem Blog gute Ideen ausbreitet und nicht immer nur nach dem schnellen Gag sucht, der wird vom Netz irgendwann genau dafür respektiert und kann befreit aufspielen".
Scharniggs Kernbotschaft ist, dass bei der Kommunikation im Netz die gleiche Rücksicht walten sollte wie im eigenen kleinen Bekanntenkreis. Großherzigkeit und Empathie seien auch in der virtuellen Welt erlaubt. Aber auch diesen Themen wird Aufmerksamkeit geschenkt: der Ordnung auf dem Bildschirm, dem Klingelton des Handys, dem Griff zum Smartphone nach dem Beischlaf, der universellen Lebensregel, wonach alles noch einmal neu bewertet wird, wenn man eine Nacht drüber geschlafen hat, dem immer offenen Kommentarfenster unserer Geräte, der "Urheber-Etikette" und eigenen Visitenkarte im Netz.
Wo immer heute über Manieren kommuniziert wird, taucht auch der Name Jane Austen auf. Sie würde sich jedenfalls schwertun, bemerkt Scharnigg, "ein paar hundert Seiten stummes Schwärmen an einem Tinder-Flirt festzumachen." Die britische Schriftstellerin aus der Zeit des Regency, deren Hauptwerke "Stolz und Vorurteil" und "Emma" zu den Klassikern der englischen Literatur gehören, wird auch von der Ratgeberliteratur gerade wiederentdeckt. So erschien parallel zu Scharniggs Buch von Rebecca Smith "Jane Austens Ratgeber für moderne Lebenskrisen. Antworten auf die brennenden Fragen zu Leben, Liebe, Glück (und was Frau dabei trägt)". Schreiben war für sie nicht nur ein "kleines Hobby", sondern echte Hingabe an ihr schriftstellerisches Handwerk: eine Künstlerin dürfe "nichts schludrig machen".
Wenn die Welt aus den Fugen gerät, braucht es einen klaren Blick, um sich in der Orientierungslosigkeit nicht zu verlieren. Die Klugen wissen, dass es nur eine Welt gibt, die noch klar und fest verankert ist: die innere. Sie soll möglichst rein gehalten werden, um richtig und schnell auf das reagieren zu können, was von außen auf sie einstürmt. Eigenständiges Denken macht sie selbstständig und bewegt sie dazu, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Weiterführende Informationen:
Alexandra Hildebrandt: Manieren 21.0: Warum gutes Benehmen heute wieder salonfähig ist. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2016.