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Humane Wirtschaft: Warum wir die Solidarität einer Gesellschaft der guten Verlierer brauchen

Vor über hundert Jahren erschien das berühmte Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ des Soziologen Max Weber, in dem er den eisernen Käfig der wissenschaftlichen Rationalität und Bürokratisierung beklagte.

Auch heute sind wir wieder darin gefangen: „diesmal ist es der eiserne Käfig des digital-kapitalistischen Reduktionismus“, sagt Tim Leberecht, Mitgründer und Co-CEO der Business Romantic Society. Derzeit erleben wir eine erneute Entzauberung der Welt, die durch Big Data und „Quantified Self“ vermessen wird und kaum Raum für Emotionen, Geheimnisse und Mehrdeutigkeit zulässt. Das zeigt sich auch im HR-Bereich, wo der Entscheidungsspielraum und Verantwortungsbereich von Führungskräften zunehmend standardisiert und eingeschränkt wird: „Seiteneinsteiger, Richtungswechsler, Umorientiere, Übermotivierte, Genies – schlicht nicht Systemkonforme – erhalten damit immer seltener eine Gelegenheit, sich zu beweisen. Wer würde heute bei all den zu Verfügung stehenden Hilfsmitteln und Eignungsdiagnostik einen Richard Branson (Legastheniker), einen Mark Zuckerberg (Studienabbrecher) oder einen Albert Einstein (Schulverweis) als Mitarbeiter einstellen?“, fragt der Unternehmer und Personalexperte Werner Neumüller.

Dieser eiserne Käfig reduziert Spiel- und Handlungsräume für sämtliche Dimensionen unseres Menschseins. „Eine rein prozessgesteuerte, berechenbare Wirtschaft wird schnell inhuman. Wir müssen wieder lernen, das zu schätzen, was wir nicht messen können“, bemerkt auch der Business-Experte Tim Leberecht in seinem Buch „Business-Romantiker“. Darin beklagt er die menschliche Entfremdung von der Natur und die Reduktion auf reine Verstandeswesen, die unseren Planeten ausbeuten und plündern. Was wir mehr denn je brauchen, ist humane Innovation, das Wohlergehen allen Lebens auf dem Planeten in den Mittelpunkt zu stellen. Es müssen neue Modelle gefunden werden, die Wachstum und Menschlichkeit harmonisch miteinander verbinden.

Aber auch das Klima steht für den ultimativen Verlust – den unseres Planeten. Alle Krisen offenbaren für Leberecht einen systemischen Defekt: „eine Entfremdung von der Natur, von den Anderen, von uns selbst. Eine unheilige Allianz zwischen Turbo-Kapitalismus, Digitalisierung und Wachstumswahn.“ Dabei entpuppt sich Gewinnmaximierung immer mehr als Maximierung der Gewinner. Hinter den systemischen Defekten verbergen sich seiner Meinung nach unzulängliche Mindsets: Effizienzdenken, Gewinnenmüssen und Humanismus. Um sie zu verändern, braucht es drei Tabubrüche:

  • Schönheit statt Effizienzdenken

  • Verlierenkönnen statt Siegermentalität

  • Spiritualität statt Humanismus.

Zwar wird heute häufig von der Humanisierung der Arbeitswelt und von „authentischen“ Unternehmenskulturen gesprochen, doch sind damit meistens positive Emotionen verbunden, die unsere Produktivität erhöhen sollen. „Negative Emotionen wie Melancholie oder Traurigkeit sind nach wie vor außen vor. Ein menschliches Unternehmen ist aber nicht das, das uns immer glücklich macht, sondern ein Unternehmen, das uns erlaubt, auch einmal traurig zu sein“, so der Business-Experte.

In seiner Folgepublikation „Gegen die Diktatur der Gewinner. Wie wir verlieren können, ohne Verlierer zu sein“ plädiert er dafür, dass wir den Dualismus zwischen Natur und Technologie überwinden müssen und nicht mehr länger nur in Einsern und Nullen denken sollten. Vielmehr sollten wir - wie in der Natur auch – „all das zulassen und wertschätzen, was zwischendrin liegt.“ Quantum Computing kann die romantische Spielart der Digitalisierung sein, weil es uns bewusst macht, dass es keine objektiven Daten gibt, sondern dass unsere eigene Position jeden Datensatz und jede Form von Realität beeinflusst. Es zeigt uns, dass wir alle miteinander verwoben sind – als Teil von etwas, das größer ist als wir selbst. Nur auf diese Weise kann der schönen Zauber der Welt wieder erschlossen werden.

  • Alexa, Corona, Klima: Wir leben in einer Ära des Verlusts.

  • Wir leben in einer „Verlustgesellschaft“.

  • Die Ära des Gewinnens ist vorbei.

  • Das Verlieren wird immer mehr zum Alltag werden – das ist eine Chance!

  • „Fail Fast“ ist hip, aber schnelles Scheitern reicht nicht: wir müssen lernen zu verlieren.

  • Wirklich menschliche Unternehmen schaffen nicht nur für positive Emotionen Platz, sondern auch für negative.

  • Wir sind gefangen in einem neuen „eisernen Käfig“.

  • Die Digitalisierung muss endlich über reine Effizienzgewinne hinausgehen – wir brauchen eine neue digitale Gesellschaft!

  • Statt Effizienzdenken müssen wir Schönheit zum Gestaltungsprinzip machen.

  • Das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) ist eine echte Alternative.

  • Wir brauchen nicht nur mehr weibliche Führungskräfte, wir brauchen eine Feminisierung von Führung.

  • Wir brauchen eine Technologie, die nicht nur in Nullern und Einsern denkt. Quantum?

  • Statt „Human-centered Innovation“ brauchen wir „humane Innovation“.

Es werden zukunftsfähige Organisationen mit entsprechenden kulturellen Rahmenbedingungen benötigt, unter denen sich Menschen nachhaltig entwickeln können. „Deshalb ist es wichtig, schon jetzt zu planen und vorausschauend zu handeln“, sagt auch Werner Neumüller. Wenn unser Verständnis und unser mentales Führungsmodell sowie die Gestaltung von Organisationen geändert werden - wenn der technischen Innovation keine soziale anbei gestellt wird – gibt es keinen wesentlichen Fortschritt, sondern nur „ein Mehr-Desselben, weil die neuen Technologien im alten Mindset angewendet werden“ (Tim Leberecht). Um die aktuellen Herausforderungen zu meistern, sollten sich deutsche Unternehmen auf ihre eigenen Werte (Ethik, Ästhetik und Solidarität) besinnen und Führungspersönlichkeiten die Bedeutung der Intuition berücksichtigen. Denn sie ist das, was uns Menschen von Computern unterscheidet. „Wenn wir unser Bauchgefühl zugunsten der Rationalität aufgeben, geben wir auch ein Stück weit das Menschsein auf“, sagt Werner Neumüller. Der Geschäftsführer der Neumüller Unternehmensgruppe wurde gerade vom Informationsnetzwerk „Die Deutsche Wirtschaft“ (DDW) in das Ranking der bedeutenden Führungspersönlichkeit aufgenommen. Gleichzeitig gehört die Neumüller Ingenieurbüro GmbH zu den deutschen Top-Mittelständlern. In seinem aktuellen Buch zum Thema Bauchgefühl in der Wirtschaft beschreibt er, dass die Intuition im Unternehmensalltag häufig einen Impuls gibt, der die entscheidende Richtung weist. „Das gilt insbesondere immer dann, wenn wir es mit Menschen als sozialen Wesen zu tun haben. Hier sind die Grenzen der Rationalität schnell erreicht.“

  • Arbeitsmarkt und Nachhaltigkeit: Ist das klassisch gelebte Rekrutierungsdenken am Ende?

  • Hat die klassische Personalgewinnung ausgedient?

  • Warum es nur gemeinsam geht: Renaissance der Solidarität

  • Tim Leberecht: Gegen die Diktatur der Gewinner. Wie wir verlieren können, ohne Verlierer zu sein. Droemer Verlag München 2020.

  • Tim Leberecht: Business-Romantiker. Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben. Aus dem Amerikanischen von Niklas Hofmann. Droemer Verlag München 2015.

  • Tim Leberecht: Gegen eine technokratische Optimierungskultur: Warum Gefühle elementar im Business sind. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.

  • Werner Neumüller: Ehrlich weiter: Auf der Suche nach den Menschen. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018, S. 145-158.

  • Werner Neumüller: Die Grenzen der Rationalität. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.

  • Max Weber: Die Protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, herausgegeben von Johannes Winckelmann, Siebenstern, Hamburg 1965. 5. Auflage. GTB/Siebenstern, Gütersloh 1979.

Kommentare

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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