„Ihr sollt nicht gut sein, sondern vernünftig“: Was Politik und Wirtschaft von Erich Kästner lernen können
An uns Heutige gerichtet
In seinem Gedicht „Ansprache an Millionäre“ von 1930 schreibt Erich Kästner:
"Der Mensch ist schlecht. Er bleibt es künftig.
Ihr sollt euch keine Flügel anheften.
Ihr sollt nicht gut sein, sondern vernünftig.
Wir sprechen von Geschäften.
…
Macht Steppen fruchtbar. Befehlt. Legt Gleise.
Organisiert den Umbau der Welt!
Ach, gäbe es nur ein Dutzend Weise
mit sehr viel Geld…"
Diese Zeilen sind nicht nur hochaktuell, sondern auch im Zusammenhang mit seinem „Märchen von der Vernunft“ zu lesen, das er 1948 schrieb, und das gerade im Atrium Verlag mit beeindruckenden Illustrationen von Ulrike Möltgen erschienen ist. Kästner wird als geistreicher Kopf so gezeigt, als würde er neben uns stehen, denn er ist in unsere Gegenwart „eingepflanzt“: Man sieht sein Gesicht neben Maschinen, Geld, Waffen, Staatsmännern, Masken und Panzern. Auf einem Bild, auf dem man an einem überlangen Tisch den allein sitzenden Putin vermuten würde, sitzt Kästner. Was für eine Botschaft! Die letzte Illustration widmet sich dem beobachtenden und nachdenklichen Kästner am Schreibtisch.
Sein Vermächtnis ist kurz erzählt:
Ein „netter alter Herr“ hatte die Unart, seine Gedanken Fachleuten vortragen zu wollen. Da er reich und angesehen war, mussten sie ihm zuhören. „Denn die Vernunft, das weiß jeder, vereinfacht das Schwierige in einer Weise, die den Männern vom Fach nicht geheuer und somit ungeheuerlich erscheinen muß. Sie empfinden dergleichen zu Recht als einen unerlaubten Eingriff in ihre mühsam erworbenen und verteidigten Befugnisse.“ Eines Tages wurde der alte Herr während einer Sitzung gemeldet, an der die wichtigsten Staatsmänner der Erde teilnahmen, um die Krisen und Nöte aus der Welt zu schaffen. Sie fragten sich, was er mit seiner „dummen Vernunft“ wieder vorhat. Den Staatshäupter und Staatsoberhäupter trug er folgenden Gedanken vor: „Hören Sie mir, bitte, zu. Sie sind es nicht mir, doch der Vernunft sind Sie's schuldig… Sie haben sich vorgenommen, Ihren Völkern Ruhe und Frieden zu sichern, und das kann zunächst und vernünftigerweise, so verschieden Ihre ökonomischen Ansichten auch sein mögen, nur bedeuten, daß Ihnen an der Zufriedenheit aller Erdbewohner gelegen ist." Er bat sie, aus den Finanzen ihrer Staaten, im Rahmen der jeweiligen Verfassung und geschlüsselt nach Vermögen, eine Billion Dollar zur Verfügung zu stellen: „Denn obwohl ich nicht glaube, daß die materiellen Dinge die höchsten irdischen Güter verkörpern, bin ich vernünftig genug, um einzusehen, daß der Frieden zwischen den Völkern zuerst von der äußeren Zufriedenheit der Menschen abhängt.“
Als ihm gesagt wurde, dass er „vollkommen blödsinnig" sei, antwortete er: "Es handelt sich natürlich um viel Geld. Aber der letzte Krieg hat, wie die Statistik ausweist, ganz genau soviel gekostet!" Da brachen die Staatshäupter und Staatsoberhäupter in Gelächter aus. "Wollen Sie mir gütigst erklären, was Ihnen solchen Spaß macht? Wenn ein langer Krieg eine Billion gekostet hat, warum sollte dann ein langer Frieden nicht dasselbe wert sein? Was, um alles in der Welt, ist denn daran komisch?" Einer der Herren sprang auf und rief: "Sie alter Schafskopf! Ein Krieg – ein Krieg ist doch etwas ganz anderes!" Kästner zeigt, wie Politik betrieben wird – auch wenn die Staatsmänner als völlig frei erfunden bezeichnet werden. Kriege hielt Kästner für höchst „unvernünftig“: Der Friede darf viel kosten, wenn dadurch Kriege vermieden werden. Doch das scheint angesichts der aktuellen Krisen und Kriege ein Märchen zu bleiben.
Seiner Epoche pflegte Kästner einen Zerrspiegel vorzuhalten.
Dabei war er niemals trivial und sah sie durch eine humoristische Brille, was ihren Anblick erträglicher machte. Geboren am 23. Februar 1899 in Dresden, besuchte er nach der Volksschule das Lehrerseminar in Dresden. Er erlebte den Ersten Weltkrieg und den Untergang des alten Regimes als Zeuge, und er war dabei, als eine „neue Zeit“ anbrach. In Leipzig begann er 1919 sein Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Theatergeschichte. 1920 publizierte er seine ersten Kritiken und wurde bald ein populärer Gesellschaftssatiriker. Es erschienen die Bände „Herz auf Taille“ (1928), „Lärm im Spiegel“ (1929) oder „Gesang zwischen den Stühlen“ (1932). Kästner avancierte auch als erfolgreicher Kinderbuchautor, mit „Emil und die Detektive“ (1928) begann auch sein internationaler Erfolg. 1931 erschien sein Roman „Fabian“. Seine „Geschichte eines Moralisten“ wurde am 10. Mai 1933 in seinem Beisein durch die Nazis zusammen mit seinen Gedichtbänden auf dem Berliner Opernplatz verbrannt.
Im Roman suchen Journalisten eine Überschrift für eine Rede des Reichskanzlers – sie lautet: „Optimismus bleibt Pflicht“. Leider ist es aber häufig so, dass jene, die die Welt optimistisch betrachten, dafür belächelt und für naiv gehalten werden. Eine negative Sicht wird eher mit Tiefgang in Verbindung gebracht. Dabei geht es heute darum zu vermitteln, dass kein Mensch in dieser Welt halt- und orientierungslos agieren kann, dass es eine neue Form des Optimismus braucht, die darin besteht, tatkräftig zu handeln. Zwei Mal (1934 und 1937) wurde Kästner von der Gestapo verhaftet. Im Januar 1943 erhielt Kästner endgültiges Schreibverbot. Trotzdem durfte er sich noch als Drehbuchautor für den Ufa -Film Münchhausen versuchen. Nach dem Krieg wurde Kästner in München einer der führenden Journalisten und gründete zunächst das Kabarett "Die Schaubude" (1945) mit und später "Die kleine Freiheit" (1951). Nach 1945 waren seine Publikationen und Aktivitäten besonders politisch, vor allem als Präsident des deutschen P.E.N.-Clubs. 1965 verbrannten in Düsseldorf Mitglieder des „Evangelischen Jugendbundes für entschiedenes Christentum“ wieder Bücher von ihm, Günter Grass, Albert Camus und anderen. Kästner war über diesen „Feuereifer“ junger Leute ebenso entsetzt wie über die Genehmigung durch das Ordnungsamt der Stadt Düsseldorf. Mit dem Kinderbuch „Der kleine Mann und die kleine Miss“ beendete er 1967 sein literarisches Schaffen und zog sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück. Am 29. Juli 1974 starb er in München.
In diesem Jahr werden gleich zwei Jubiläen begangen: sein 125. Geburtstag und sein 50. Todestag.
Viele Begriffe und Themen, die uns aktuell in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft beschäftigen, werden von ihm so erwähnt, dass sie verstehbar sind. Es gab für ihn deshalb „drei unveräußerliche Forderungen“:
- Aufrichtigkeit des Empfindens
- Klarheit des Denkens
- Einfachheit und Wort und Satz.
Auch der gesunde Menschenverstand gehörte für Kästner dazu. Er glaubte an ihn wie an ein Wunder - doch der gesunde Menschenverstand verbot es ihm, „an Wunder zu glauben.“ Mit dem gesunden Menschenverstand wird einerseits ein gemeinsames Wissen bezeichnet, eine Vielzahl an Überzeugungen. Andererseits ist damit eine gemeinsame Fähigkeit gemeint, zu Wissen zu gelangen (ein urteilender Verstand). Die einseitige Aufwertung des Verstandes hat von der Romantik bis heute viel Kritik erfahren, doch zeigt sich gerade bei Kästner, dass die beiden Prinzipien Gefühl und Verstand gebraucht werden, um die Welt und sich selbst im Gleichgewicht zu halten – schließlich haben auch all seine Werke den treffenden Ton, der in Hirn und Herz gleichermaßen zündet. Dennoch bezeichnete sich der Moralist und Rationalist in einer Rede vor dem Pen-Club in Zürich als „Urenkel der deutschen Aufklärung“. Die heute damit assoziierte Bedeutung von „aufhellen“, „klarmachen“ und „aufdecken“ eines bestimmten Sachverhalts verbindet sich damit seit 1720. Zuweilen witzelte Kästner über die „Grenzen der Aufklärung“ - zum Beispiel, wenn er die aussichtslosen Zustände in manchem Menschenkopf beschreibt:
"Ob Sonnenschein, ob Sterngefunkel:
Im Tunnel bleibt es immer dunkel."
Die Erleuchtung erreicht eben nicht jeden Menschen. Dennoch hielt Kästner an den Konzepten der Aufklärung fest, die auch unsere Gegenwart prägen. So beschreibt der Harvard Psychologe, Kognitionswissenschaftler und Linguist Steven Pinker in seinem Buch „Enlightement Now – The Case for Reason, Science, Humanism and Progress“, dass es uns Dank der Aufklärung heute besser geht als je zuvor: Ihr würden wir den Fortschritt der letzten 200 Jahre verdanken, weil sie auf klares Denken, Vernunft, Redefreiheit, ausgleichende Gerechtigkeit, den Geist der Wissenschaft und die Suche nach Wahrheiten setzt. Erst wenn sich eine Gesellschaft dieser Ideale bedient, kann sie seiner Meinung nach wirklichen Fortschritt erleben. Als Skeptiker prüfte und betrachtete Kästner die Dinge genau und nahm eine observierende Haltung zur Welt ein. Sein Drang, alles infrage zu stellen, basiert auf einer genauen und unvoreingenommenen Beobachtung. Kästner war ein Mann zwischen den Stühlen, gehörte keiner Partei an, aber ergriff als zweifelnder Zuschauer Partei. So schreibt er in seinem Gedicht „Ein alter Herr geht vorüber“:
"Vernunft muß ein jeder selbst erwerben,
und nur die Dummheit pflanzt sich gratis fort.
Die Welt besteht aus Neid und Streit und Leid.
Und meistens ist es schade um die Zeit."
Im 18. Jahrhundert setzte der Zweifel die Aufklärung in Bewegung. Der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes brauchte ihn beispielsweise, um rückschließen zu können, dass er denkt und existiert. Mit seinem Satz „Cogito ergo sum“ wurde er zu einem der bedeutendsten Wegbereiter der Aufklärungsphilosophie: "Ich zweifle, also bin ich, oder was dasselbe ist, ich denke, also bin ich." In Anlehnung an Immanuel Kants kategorischen Imperativ schrieb Kästner, der statt der Theorie das Tun in den Fokus setzte:
Es gibt nichts Gutes
Außer: Man tut es.
Erst durch eine Handlung geht einem das sprichwörtliche Licht auf, wie sein erhellendes Epigramm zeigt.
Das Buch:
- Erich Kästner: Das Märchen von der Vernunft. Mit Bildern von Ulrike Möltgen. Atrium Verlag, Zürich 2024.
Weiterführende Informationen:
- Wie Erich Kästner mir begegnete
- Alles klar? Die Rückkehr der Aufklärung
- Gesunder Menschenverstand und nachhaltiges Verhalten
- Erich Kästner: Kästner über Kästner. In: Das große Erich Kästner Lesebuch. Hg. von Sylvia List. Mit einem Geleitwort von Hermann Kesten. dtv Verlag, München 1990.
- Erich Kästner: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte. Hg. von Harald Hartung. Hanser Verlag, München, Wien 1998.
- Werner Neumüller: Die Grenzen der Rationalität. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
- Steven Pinker: Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum bessern Gebrauch des Verstandes. Aus dem Englischen von Martina Wiese S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021.
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