In der Seilschaft des Lebens ist unser Bauchgefühl der Bergführer
Interview mit Michael Holzer und Klaus Haselböck
Für den Journalisten Michael Holzer, seit 20 Jahren Unternehmensberater sowie Coach und Vertrauter von Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Sport und Medien, ist Viktor R. Frankl der wichtigste geistige Mentor. Mit ihm verbindet ihn auch die Liebe zu den Bergen. Klaus Haselböck war Teil des Gründungsteams der Zeitschrift „Bergwelten“ und ist heute Mitglied der Chefredaktion sowie Autor zu alpinen Themen. Als Bergsteiger liefert ihm das Werk des österreichischen Neurologen und Psychiaters, der die Logotherapie und Existenzanalyse, begründete, zeitlose Impulse.
Inwiefern unterstützt Sie das Bauchgefühl am Berg darin, den Instinkt dafür nicht zu verlieren, was richtig ist?
Der Berg ist die Echtheitsprüfung, wie gut es um Bauchgefühl und Instinkt, also um unser intuitives Einschätzungsvermögen von Bedingungen und Situationen, von Kapazitäten und Gefahren, bestellt ist. Im Unterschied zu unseren zivilisierten Leben im Tal, wo es zwischen Schwarz und Weiß viele Graustufen gibt, sind die Konsequenzen des eigenen Handelns am Berg recht unmittelbar und meist eindeutig.
In Ihrem Buch „Berg und Sinn. Im Nachstieg von Viktor Frankl“ verweisen Sie oft darauf, dass Frankl aus dem „Instinkt“ heraus gehandelt hat, z.B. im KZ die Seite zu den Überlebenden wechselte. Wo und in welchem Zusammenhang hat er sich noch zum Thema Instinkt geäußert?
Von Frankl stammt das Zitat: „Im Gegensatz zum Tier sagt dem Menschen kein Instinkt, was er muss, und im Gegensatz zum Menschen in früheren Zeiten sagt ihm keine Tradition mehr, was er soll, und nun scheint er nicht mehr recht zu wissen, was er eigentlich will.“ Dennoch war der Berg auch für Viktor Frankl ein Erlebnisraum, in dem er seine Instinkte schärfte – allen voran den Überlebensinstinkt, der ja bei jeder schwierigeren Bergtour daueraktiviert ist.
Weshalb treffen Sie die meisten Ihrer Entscheidungen „aus dem Bauch heraus“?
In den allermeisten Entscheidungsprozessen fließen unbewusste Faktoren mit ein, ohne dass uns das bewusst ist. Selbst bei einer vordergründig rein kognitiven Entscheidung, also beispielsweise, wenn ich einen Kredit bei einer Bank nehme und drei Angebote vor mir habe, sind wir nicht sicher, ob wir uns nicht letztlich auch deshalb für das eine oder andere Angebot entscheiden, weil wir als Kind irgendwann einmal vielleicht eine Sparbüchse geschenkt bekommen haben.
War Ihr gemeinsames Buchprojekt auch eine Bauchentscheidung?
Ja, es miteinander in Angriff zu nehmen, war vor allem eine Bauchentscheidung. Alles, was dann im Nachstieg Viktor Frankl passiert ist, auf den Touren, in den Wänden, hat immer auch den „Bauch“ als Ratgeber gebraucht.
Können Sie das Bauchgefühl mit einem Berg-Bild beschreiben?
In der Seilschaft des Lebens ist unser Bauchgefühl der Bergführer, der den Weg kennt und die richtigen Entscheidungen trifft. Und der logische Verstand ist der, der sagt: „Ich weiß es besser, ich habe die Landkarte.“ Nur: Nicht immer passt die Landkarte zum Berg. Und auf keiner Landkarte sind Gefahren eingezeichnet.
Weshalb braucht Bauchgefühl vor allem Erfahrungswissen?
Das „Erfahrungswissen“ könnte auch eine Art Übersetzungssoftware für das Bauchgefühl sein. Auf jeden Fall reichert es sich über die Jahre an und gibt uns mehr Möglichkeiten, zu guten Entscheidungen zu kommen. Das Gesamtbild einer Situation haben wir manchmal im Nachhinein, aber im Moment ohnehin nie.
Mit welchen anderen Begriffen verbinden Sie das Bauchgefühl?
Intuition, innere Stimme, (kollektives) Unbewusstes, tiefes Wissen, morphogenetisches Feld.
Kann jemand eine gute Führungskraft sein **– und auch den Aufstieg am Berg –**richtig meistern, wenn er nicht auf sein Bauchgefühl hört?
Nein. Es ist nötig immer aus möglichst vielen Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, zu schöpfen. Sonst wird das Leben genauso eindimensional wie unsere Entscheidungen. Zudem ist es eine Illusion, dass nur der Verstand Entscheidungen trifft. Der „Bauch“ ist immer auch mit dabei.
Warum fällt es vielen Menschen, vor allem Managern, häufig schwer, vor anderen Menschen zuzugeben, dass sie ein Baugefühl haben?
Weil sie mit der fragwürdigen gesellschaftlichen Entwicklung verstrickt sind, die Zahlen, die Logik, den Intellekt, die Ratio mit einem allumfassenden Wissen zu verwechseln. Die „harten Zahlen“ wirken konkret fassbar und nähren die Illusion, dass man auf diesem Weg das Leben kontrollieren könne. Während der „Bauch“ dem Gefühl und damit der Herzensebene zugeordnet wird. Sich darauf zu verlassen wird als irrtümlicherweise Schwäche interpretiert. Leider.
Weshalb wird in der Ausbildung angehender Führungskräfte kaum etwas über Intuition gelehrt, obwohl später bei unternehmerischen Entscheidungen Bauchentscheidungen dominieren? (Das betrifft auch die Motivationslehre von Viktor Frankl.) Was muss sich ändern?
Eine sehr gute Frage, die nicht nur die Ausbildung von Führungskräften betrifft, sondern unser Bildungssystem insgesamt. Vielleicht hat es mit dessen Tradition zu tun: Es ist ja nicht deshalb entstanden, um möglichst viele, autonome, eigenverantwortliche Menschen in einer Gesellschaft zu haben, sondern einen möglichst hohen Grad unterschiedlicher Anpassungsmechanismen.
Mittlerweile wäre es nicht nur angesagt, der Intuition den entsprechend gleichwertigen Platz zuzugestehen, sondern auch anzuerkennen, wie schwer bis unmöglich es in manchen Situationen ist, die „richtigen“ Entscheidungen zu treffen. Auch Top-Managern haben in schwierigen Situationen oft keinen besseren Überblick. Ihre Entscheidungen sind genauso ein Raten, ein Bemühen auf Basis ihrer Erfahrung das Richtige für das Unternehmen zu tun. Auch das gilt es anzuerkennen.
Lässt sich das Bauchgefühl (auch am Berg) trainieren?
Natürlich, unter anderem auch dort. Je öfter wir es einsetzen – bewusst oder unbewusst – desto mehr lernen wir uns auch darauf zu verlassen. Und desto mehr „Erfahrungswissen“ bauen wir auf.
Können Sie einige Maximen für den erfolgreichen Gebrauch des Bauchgefühls (beim Berg) benennen?
Demütig sein, denn wir sehen am Berg immer nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit.
Eine Situation, in der wir die Kontrolle zu haben scheinen, kann sich in jedem Moment völlig ins Gegenteil umkehren.
Berge sind archaische Räume, in denen wir nur zu Gast sind.
Stets alle Sinne nutzen, Entscheidungen als tiefen, ganzheitlichen Prozess begreifen, der permanent abläuft.
Wenn du dir nicht sicher bist: dreh um.
Weiterführende Literatur:
Michael Holzer, Klaus Haselböck: Berg und Sinn. Im Nachstieg von Viktor Frankl. Bergwelten Verlag bei Benevento Publishing, Salzburg 2020.