Intuition im Kontext agiler Arbeitsweisen
Interview mit Dr. Andreas Zeuch
Dr. Andreas Zeuch, Jahrgang 1968, arbeitet seit 2003 als selbstständiger Unternehmensberater, Coach, Trainer und Speaker. Er ist Gründer und Partner bei den unternehmensdemokraten mit Sitz in Berlin. Gemeinsam mit seinen Kolleg*innen begleitet er Menschen und Organisationen auf dem Weg zu mehr und besserer Partizipation. Ihre Kunden sind vorwiegend mittelständische Unternehmen sowie manchmal auch Konzerne. Seine Expertise zum Thema Intuition baute er mit seiner Doktorarbeit von 1999 bis 2003 auf. Jahre später veröffentliche er 2010 sein drittes Sachbuch „Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen“, in dem er erstens die Ergebnisse seiner Doktorarbeit allgemeinverständlich darstellt und diese zweitens durch seine praktischen Erfahrungen anreicherte. 2015 folgte sein letztes Buch „Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten“, das die Grundlage für die unternehmensdemokraten legte. Weiterführende Informationen: https://unternehmensdemokraten.de
Herr Dr. Zeuch, Sie haben zum Thema professionelle Intuition promoviert. Was hat Sie veranlasst, sich damit vertiefend zu beschäftigen? Und was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Dissertation?
Der Auslöser war die simple Erkenntnis, dass ich meine Arbeit als Musiktherapeut damals Ende der 1990er stark intuitiv steuerte. Es ist unmöglich, für alle Krankheitsbilder und alle nur denkbaren Kombinationen von Faktoren im täglichen Leben der Patienten ein Manual zu erstellen, wann welche therapeutischen Interventionen anzuwenden sind. Infolgedessen bleibt nur die Option, intuitiv vorzugehen. Daraus entstand die Frage, ob es überhaupt professionell ist, die Intuition für berufliche Entscheidungen regelmäßig zu Rate zu ziehen. Und diese Frage entwickelte ich so weiter, dass daraus ein aufeinander aufbauendes Fragenset entstand:
Ist Intuition eine professionelle Kompetenz?
Wenn ja, kann dann Intuition professionalisiert und trainiert werden?
Wenn ja, wie?
Die Ergebnisse zur ersten Frage waren eindeutig. Ich konnte auf eine Menge an vorhandener Forschung aus verschiedenen beruflichen Domänen wie Medizin (Therapie und Pflege), Management, Beratung, Pädagogik etc. aufbauen. In allen Fällen war klar, dass wir ohne Intuition schlicht nicht handlungsfähig sind.
Die Frage nach dem Training ist nach meinem Verständnis auch positiv zu beantworten. Denn Intuition entsteht aus verschiedenen Elementen, auf die wir einen Einfluss nehmen können. In vielen beruflichen Domänen herrscht beispielsweise immer noch die - wie ich es nenne - paradoxe pseudorationale Sicht, dass Intuition und Gefühle bei beruflichen Entscheidungen nichts verloren hätten. Wir reden hier über Annahmen oder Glaubenssätze zur Intuition. Und die sind veränderlich. Hier kann im einen oder anderen Fall schon die Klarstellung hilfreich sein, dass Intuition ein wichtiger und zentraler Prozess unserer Informationsverarbeitung ist, der in vielen Fällen sogar die einzige Möglichkeit bietet, unter verschiedenen Formen der Unsicherheit zu entscheiden. Intuition ist nichts Esoterisches oder Magisches, für das ich an Engel und Astralleiber glauben muss. Es ist ein wissenschaftlich in weiten Teilen gut erklärbarer Prozess.
Neben diesen persönlichen Glaubenssätzen zur Intuition spielt unsere Wahrnehmung eine wichtige Rolle. Ich unterscheide dabei die Wahrnehmung der Innenwelt, in der Fachsprache Propriozeption genannt, also die Eigenwahrnehmung unseres Körpers. Zur Innenwelt gehört aber auch so etwas wie innere Bilder, unsere permanenten inneren Dialoge und Gedanken etc. Und dann gibt es noch die Außenweltwahrnehmung. Das ist alles außerhalb unserer Körpergrenzen. Je differenzierter und feiner wir all das wahrnehmen können, desto effektiver wird unsere Intuition. Und Wahrnehmung lässt sich bis ins hohe Alter immer weiterentwickeln.
Daraus folgten dann erste Antworten für die dritte Frage, wie wir Intuition trainieren können. Für die verschiedenen Elemente, die für unsere Intuition wichtig sind, können wir verschiedene Trainings- und Entwicklungsmöglichkeiten nutzen. Im Falle der Glaubenssätze kann das schon einfache Aufklärung und Wissensvermittlung sein, oder ein Coaching, um herauszufinden, woher die Glaubenssätze eigentlich stammen, was sie für uns sicherstellen sollen und wie wir sie für uns schlüssig mit was ersetzen können. Wahrnehmung kann wiederum auf verschiedene Weisen weiterentwickelt werden. Eine sehr gute Option ist zweifelsfrei Meditation, was jenseits des Wissenschaftsbetriebs keine große Neuigkeit ist. Tatsächlich tauchten verschiedene Formen von Meditationen in der gesamten von mir ebenfalls untersuchten Ratgeberliteratur auf. Bei allen Unterschieden, die es dort gab und gibt, ist das eine große Schnittmenge.
Wie kann professionelle Intuition noch trainiert werden, außer durch Aufklärung, Coaching und Meditation?
Ein Klassiker ist das Intuitionstagebuch. Dort können Intuitionen notiert und reflektiert werden. Später können wir so auf die dokumentierte Intuition zurückblicken und aus der Zukunft heraus, wenn wir wissen, wie sich etwas entwickelt hat, unsere Intuitionen bewerten. Was waren wertvolle Hinweise? Wo zeichnen sich welche Muster ab? Bin ich beispielsweise bei bestimmten Themen gehemmter oder freier in meiner Intuition? Bin ich im Team oder alleine intuitiver? Ist Stress eher förderlich oder hinderlich? Und so weiter.
Gerade im professionellen Kontext ist es darüber hinaus hochgradig sinnvoll, in der eigenen Organisation, im eigenen Team den Wert der Intuition überhaupt erst mal zu thematisieren. Gerade die betriebswirtschaftliche Ausbildung geht bis heute fälschlicherweise immer noch von einem rationalen Entscheidungsmodell aus, bei dem die Prämissen dafür in einigen Punkten wissenschaftlich längst nicht mehr haltbar sind. Außerdem wurde und wird niemanden beigebracht, was zu tun ist, wenn wir z. B. widersprüchliche Informationen haben, aber jetzt entscheiden müssen und nicht erst noch zwei Wochen lang versuchen können, diese Widersprüche aufzulösen. Allein zu dem Thema Nichtwissen hatte ich 2007 ein eigenes Buch herausgegeben.
Wieviel Intuition verträgt ein Unternehmen?
Drei Kilogramm täglich. Im Ernst: Titel und Untertitel stammen, wie meist, vom Verlag: Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen. Ich habe die Aussage des Untertitels einfach als konstruktive Provokation an die potenziellen Leser*innen verstanden.
Welche Rolle spielt das Thema im Zusammenhang zu agilen Arbeitsweisen?
Eine spannende Frage! Das ist ein zeitgemäßer Aspekt des Themas, der mir in den letzten Jahren immer wichtiger wurde. Agilität dient ja unter anderem dazu, die Organisation anpassungsfähiger zu machen, schneller auf Veränderungen des Umfelds reagieren zu können, responsiver zu werden. Oder eben: Agiler. Und das heißt auch: Schneller entscheiden. Nicht erst ewig lange Planungszyklen vorzuschalten, um dann ein perfektes Produkt zu entwickeln oder was auch immer.
Gleichzeitig wird die Welt immer komplexer und dynamischer und trotzdem oder sogar deshalb sollen wir schneller entscheiden. Eine wirklich herzerfrischende Paradoxie, die in der Ausbildung von Agile Coaches, Scrum Mastern etc. viel zu wenig thematisiert wird. Die Antwort auf diese Herausforderung ist unsere menschliche Intuition. Sie ist beispielsweise nachweislich überaus potent für eine schnelle Mustererkennung. Denn wir können unbewusst viel mehr Daten wahrnehmen und zu Information und gefühltem Wissen verarbeiten als auf bewusstem Weg. Dahinter steckt das Paradigma der unbewussten Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, das unter anderem unter dem Begriff der impliziten Kognition seit gut 50 Jahren empirisch stark erforscht ist. Eine Vielzahl an Experimenten, wie denen um die sogenannte künstliche Grammatik, konnten das immer wieder und wieder zeigen.
Welche Entscheidungen haben Sie aus dem Bauch heraus getroffen?
Eine Menge, wobei ich mich hier auf meine beruflichen fokussiere. Die wohl erste wichtige berufliche Entscheidung war die, in Heidelberg Musiktherapie zu studieren. Ich erinnere mich noch gut an den Informationstag, wo ich in einem der Räume im Kreis mit anderen Interessent*innen saß - und irgendwann sehr klar ohne Scherz ernsthaft im wahrsten Sinne des Wortes ein starkes Bauchgefühl hatte. Genauer: Ein Feuer der Begeisterung, sehr energetisch und fokussiert. Und das hatte sich dann auch bestätigt. Ich war glücklich dort, ich war in der Lage, verschiedene, bis dahin widersprüchlich erscheinende Interessen miteinander zu verbinden. Zwei Jahre später erlebte ich dort etwas sehr ähnliches nochmal, als unser Dekan unter uns Student*innen ein paar Freiwillige suchte, die Lust hatten, ein angegliedertes Forschungsinstitut aufzuziehen. Und auch das bestätigte sich in seiner Schlüssigkeit für mich und führte mich letztlich bis zu meiner Promotion und darüber hinaus zu einer kritisch-konstruktiven Denkweise, die bis heute für mich ein zentraler Aspekt meiner Persönlichkeit ist. In den letzten Jahren galt das besonders im Zusammenhang mit der Trivialisierung, oder wie ein Kollege mal schön formulierte: der Verbällebadesierung von New Work, Purpose und wie die ganzen Hypebegriffe gerade heißen.
Im weiteren Verlauf meines Berufslebens gab es dann viele weitere wichtige intuitive Entscheidungen. Eine erzähle ich noch gerne: von 2001 bis 2003 war ich an der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg als wissenschaftlicher Mitarbeiter angestellt. Aber nicht als Therapeut, sondern um gemeinsam mit meiner Chefin und unserem Team das damals bundesweit erste verbindliche Arzt-Patient-Kommunikationstraining aufzubauen. Bis dahin waren diese Trainings für die Student*innen nur optional, nie verpflichtend. Da ich damals viel in der dortigen Theaterszene unterwegs war, unter anderem mit Gastspielverträgen beim Stadttheater Heidelberg und dem Nationaltheater Mannheim, war ich ideal für den Job, da wir ein Konzept aus der Schwesteruniversität Harvard auf unsere Verhältnisse umsetzten. Dazu benötigten wir Schauspieler*innen, die Patient*innen in Rollenspielen simulieren. Die Arbeit lief sehr gut, wir waren ausgesprochen erfolgreich damit. Als mein Vertrag auslief, sollte ich bleiben, aber für mich war das nicht mehr stimmig. Und seitdem bin ich als freiberuflicher Berater, Coach, Trainer und Speaker tätig.
Gab es Situationen, in denen Sie nicht auf Ihren Bauch gehört haben?
Absolut, ich bin ja nicht erleuchtet und zu jeder Minute meines Lebens in Kontakt mit mir selbst und durch und durch achtsam. Natürlich kenne ich wie so viele andere auch die ganzen kognitiven Überlagerungen, die auch mich immer wieder davon abgehalten haben, meine Intuition wahrzunehmen und - wie ich es immer wieder formuliere - ins Entscheidungskalkül miteinzubeziehen. Ich hatte zum Beispiel einen Auftrag, wo ich gleich zu Beginn schon ein schlechtes Gefühl hatte, dass sich jedoch in einer allgemeinen Unlust äußerte, es gab da nichts Konkreteres. Im Laufe des Projekts stellte sich heraus, dass die gemeinsame Arbeit nichts weiter als eine Art social Greenwashing sein sollte. Es ging den Verantwortlichen niemals um eine echte Veränderung. Normalerweise achte ich da sehr drauf, aber trotz dieses interessanten Signals der Unlust bin ich drüber hinweg, hatte dieses Signal vor allem abgetan, statt es genauer anzuschauen.
Weshalb ist es für Sie ein Missverständnis, wenn gesagt wird, dass das Bauchgefühl, um treffsicher zu sein, auch Erfahrungswissen braucht?
Das wird seit Jahren kolportiert: Intuition setze langjährige Erfahrung voraus. Dann geistern noch die berühmten zehn Jahre Erfahrung durch die Welt, die Mensch braucht, um Expert*in zu werden. Letzteres stimmt in etwa - aber es ist nicht die zwingende Voraussetzung für erfolgreiche professionelle Intuitionen. Die können nämlich sehr wohl auch Berufsanfänger haben.
Der Grund dafür?
Er ist einfach: Intuition können wir nicht nur durch Erfahrungswissen erklären, sondern auch durch die schon erwähnte unbewusste Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Dazu gibt es, wie ich ja zuvor schon andeutete, reichlich Experimente und das nicht erst seit gestern. Nochmal: Wir können unbewusst nachweislich ein Vielfaches an Informationen wahrnehmen und verarbeiten, da wir die Daten und Informationen nicht wie bei der bewussten Verarbeitung sequenziell, also hintereinander prozessieren, sondern parallel.
Darüber hinaus gibt es noch ein drittes validiertes Erklärungsmodell, dass meines Erachtens allerdings eine Spezialform des Erfahrungswissens darstellt: Die Spiegelneuronen. Vereinfacht gesagt simulieren wir in unserem Hirn unsere Mitmenschen, wir spiegeln ihr Verhalten neuronal und können uns auf diesem Weg in sie empathisch hineinversetzen. Interessanterweise gibt es ein gewisses Zeitfenster, in dem dieser neurologische Mechanismus ausgebildet werden muss. Danach, so mein letzter Wissensstand, ist diese Fähigkeit nicht mehr beliebig zu entwickeln. Auch deshalb sind gelungene Bindungen und Beziehungen in unseren frühesten Kinderjahren und beim Aufwachsen so elementar.
Mit welchen Synonymen verbinden Sie das Bauchgefühl?
Am Anfang meiner Dissertation hatte ich natürlich erst mal versucht, Intuition klar zu definieren. Was nicht gerade einfach ist bei einem Begriff mit einer gut 2000 jährigen Geschichte. Ich sehe neben den offensichtlichen Synonymen wie „Bauchgefühl“ oder „innere Stimme“ starke Verbindungen zu Begriffen wie „Ahnung“, „Inspiration“ und „Eingebung“.
Eine klare Unterscheidung sollten wir zum Begriff „Instinkt“ treffen - denn der funktioniert automatisch und setzt nicht das Erfahrungslernen voraus, das wir wiederum bei bestimmten Aspekten der Intuition finden. Ebenso würde ich bei erlernten und automatisierten Prozessen nicht von Intuition sprechen, so wie das Gerd Gigerenzer macht. Wenn er beispielsweise seine Blickfangheuristik als Intuition bezeichnet, dann ist das meines Erachtens eine Verwässerung des Begriffs. Denn solche automatisierten Prozesse, wie Bälle fangen oder Fahrradfahren sind keine Intuition, nur weil wir sie nicht rational erklären können. Denn wenn wir uns aufs Fahrrad setzen oder Handball spielen, können wir davon ausgehen, dass es zielsicher funktionieren wird. Bei der Intuition wissen wir das aber vorher keineswegs. Wir können keine Intuition gezielt abrufen und dann sicher sein, dass wir damit den Erfolg haben, den wir uns wünschen. Bei der Intuition ist ein wenig mehr Demut angebracht.
Kann jemand eine gute Führungskraft sein, wenn er nicht auf sein Bauchgefühl hört?
Sehr gute Frage! Ich sehe da einen proportionalen Zusammenhang: Je eher eine Führungskraft in der Lage ist, die eigene Intuition wahrzunehmen und kritisch-konstruktiv in die eigenen Entscheidungen einzubeziehen, desto besser wird die Qualität ihrer Arbeit. Warum? Führungskräfte haben, wie der Begriff ja sagt, die Aufgabe zu führen. Und da sie Menschen führen und keine Roboter, brauchen sie dafür eine grundlegende Empathie - und die funktioniert nun mal intuitiv und lässt sich nicht rechnerisch oder logisch von Beobachtungen und Fakten ableiten.
Auch müssen Führungskräfte täglich Entscheidungen treffen. Und da sind wir wieder bei der Herausforderung, schnell und agil zu entscheiden, obwohl die Umwelt komplexer und dynamischer wird. Und damit rational schwerer zu bewältigen. Außerdem wird es immer wieder Situationen geben, die stark von Unsicherheit durch Nichtwissen geprägt sind. Und dieses Nichtwissen entsteht wiederum durch verschiedene Mechanismen.
Ich nenne das das Fünfeck des Nichtwissens: (1) Zu wenig Daten/Informationen, (2) zu viele, um sie im gegebenen Zeitraum verarbeiten zu können, (3) widersprüchliche, (4) unverständliche und (5) nicht vertrauenswürdige Daten/Informationen. Keine Führungskraft hat immer die Zeit, um diese jeweiligen Probleme zu lösen. Sie muss jetzt entscheiden, nicht in 4 Wochen oder 3 Monaten. Und das geht oftmals nur intuitiv.
Warum fällt es Managern häufig schwer, vor anderen Menschen zuzugeben, dass sie ein Baugefühl haben?
Das liegt vor allem an vier Entwicklungen:
Erstens an dem Bärendienst, den uns die Aufklärung geleistet hat. Es war zweifelsfrei gut, aus den vor-rationalen, magisch und religiös geprägten Zeiten herauszufinden. Nur dass wir es dabei kollektiv übertrieben haben. Nicht umsonst hat der britische Wissenschaftstheoretiker und Biochemiker Rupert Sheldrake eines seiner Bücher „Der Wissenschaftswahn“ genannt - als Antwort auf „Der Gotteswahn“ von Richard Dawkins. Und so kam es dazu, dass wir viel Wert auf eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung legen, auf rationale Argumente, die logisch nachvollziehbar und am besten empirisch überprüfbar sein sollen. In dieser Logik ist es nur folgerichtig, dass alles, was wichtig ist, messbar sein muss. Und was nicht messbar ist, ist nicht wichtig.
Ironischerweise hat sich dann vor allem die Betriebswirtschaftslehre lange vor den für sie höchstrelevanten Forschungsergebnissen wie der Psychologie, Soziologie und Medizin verschlossen. So wurde sie selbst in einigen Aspekten wie der Entscheidungslehre zu einer Märchenstunde. Da war dann die Grundlage ein theoretisches Konstrukt wie der Homo oeconomicus, der erstens immer rational entscheidet - was Menschen nachweislich nicht erfüllen - und zweitens immer eigennutzenmaximierend handelt - was manche Menschen tun, aber eben längst nicht alle, nicht mal die meisten. Das jeweils gezeigte Verhalten ist zudem ein Ergebnis unserer Sozialisierung. So ergaben Studien, dass BWL Student*innen nach dem Studium die größte Eigennutzenmaximierung zeigten.
Zweitens die partriarchalen Strukturen der letzten Jahrhunderte und das Bild von Männlichkeit und Führung dass sich im Wechselspiel mit der Aufklärung entwickelt hat. Bis heute haben ärgerlicherweise immer noch mehr Männer Führungspositionen ergattert und verhalten sich dann so, wie es ihnen eingetrichtert wurde: Bloß keine Gefühle zeigen - und sie am besten erst gar nicht wahrnehmen. Gemäß dem letzten Albright-Report finden wir in den DAX30 nur 16,6% Frauen auf der Vorstandsebene. Und immerhin 17% der DAX30 haben nur Männer auf dem C-Level. Das Patriarchat lebt. Es gibt noch viel zu tun.
Drittens finden wir, wie schon des öfteren gezeigt wurde, überdurchschnittlich viele narzisstisch veranlagte Menschen unter Führungskräften. Gerade wurde dies wieder in der diesmal weltweit größten Studie von Zortify zu Narzissmus im Management gezeigt. Dabei gilt: je höher die Position, desto narzisstischer und - so meine Hypothese - umso mehr entkoppelt (in der Fachsprache: dissoziiert) sind diese Menschen von sich selbst, den eigenen Gefühlen und Empfindungen, die als Minderwertigkeitserleben massiv durch die narzisstische Selbstüberhöhung kompensiert werden müssen. Und hier, so meine Vermutung, geht nun der erste Grund, die Überhöhung des Messbaren, Berechenbaren eine zerstörerische Allianz mit der narzisstischen Selbstüberschätzung ein: Diese Führungskräfte glauben, dass sie die Zahlen völlig unter Kontrolle haben. Sie sind ja so übermäßig intelligent, dass sie mit all der Komplexität intellektuell klar kommen. Da braucht es dann keine esoterische Intuition.
Viertens unser Bild von Verwaltung und Bürokratie, entwickelt und geprägt vor allem durch Max Weber. Die Arbeit sollte durch rationale, formale und für alle gültige Prozesse von Willkür befreit werden. Die Intention war durchaus positiv und die Idee ist nicht per se falsch. Nur wurde im Laufe der Zeit wie mit der Aufklärung insgesamt das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, weil die rationale Kompetenz intuitiv-emotionale Aspekte verdrängte. Soweit mal sehr, sehr holzschnittartig.
Warum wird in der Ausbildung angehender Führungskräfte kaum etwas über Intuition gelehrt?
Unter anderem aufgrund der eben kurz skizzierten Entwicklungen. Zu dem kommt das Beharrungsvermögen alter Strukturen hinzu. Organisationen müssen bis zu einem gewissen Maß konservativ sein. Das lateinische conservare hat ja ursprünglich auch die positive Bedeutung etwas zu bewahren oder gar zu retten. Und Organisationen müssen bewahrt werden, sonst sind sie bald vom Zeitlichen gesegnet.
Auf diese Weise reproduziert sich die BWL und verwandte Ausbildungsgänge täglich selbst. Die Lehrenden sind ihrerseits oftmals noch mit dem alten Paradigma der rationalen Entscheidungstheorie groß geworden. Es wurde Teil ihrer eigenen konzeptuellen, theoretischen DNA. Und wenn Mensch nur lang genug etwas gemacht hat, sei es noch so unsinnig, dann wird es zunehmend schwerer, sich und sein Verhalten zu ändern. Denn dann dräut die Frage, warum ich derart lange diesen Nonsens gemacht habe. Nicht jeder Mensch kann das dann als Befreiung erleben und sich einfach freuen, die Welt jetzt mit sehr anderen Augen zu sehen und entsprechend anders zu handeln.
Was sollte sich ändern?
Es sollten sich zumindest zwei Aspekte ändern: Erstens müssen Ausbildungsgänge wie BWL, MBA etc. nicht nur in Spezialgebieten wie der Verhaltensökonomie endlich akzeptieren, das Unternehmen soziale Systeme sind. In ihnen Arbeiten Menschen aus Fleisch und Blut. Deshalb sollte sich insbesondere die BWL viel mehr und grundlegender für die - wohlgemerkt - empirischen Forschungsergebnissen aus der Psychologie, Soziologie, Medizin öffnen. Dann würden die Student*innen zukünftig gleich lernen, welche Bedeutung unsere Emotionen und Intuition für unsere Entscheidungen haben.
Und die Ausbildung von Führungskräften sollte vor allem viel praktischer werden, so wie das zum Beispiel in der Medizinausbildung mittlerweile deutlich vorbildlicher läuft, wie mit unserem Trainingsprogramm damals in Heidelberg, dass schon 2003 gründlich evaluiert hervorragend funktionierte.
Literaturempfehlungen:
Ariely, D. (2015): Denken hilft zwar, nützt aber nichts. Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen. Droemer
Bauer, J. (2006): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Heyne
Damasio, A. (2004): Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Ullstein
Gigerenzer, G. (2008): Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Goldmann
Zeuch, A. (2010): Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen. Wiley
Zeuch A (2021): Keine digitale Transformation ohne soziale Innovation. Unsere Zukunft, unsere Entscheidung Erstes Kapitel lesen. Über die Notwendigkeit der Unternehmensdemokratie in der Digitalwirtschaft. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler
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