KI-Gesichtserkennung findet Waldo - Erkennt sie auch Persönlichkeit?
Gesichtserkennung durch KI funktioniert bei Wimmelbildern und auch bereits im öffentlichen Raum. Das Thema ist nun schon im Recruiting angekommen. Tatsächlich kann man den derzeitigen Gemütszustand analysieren, aber ist es auch möglich dabei verlässlich auf die Persönlichkeit zu schließen?
Sicher kennt Ihr auch diese Wimmelbilder, in denen sich irgendwo ein Typ namens Waldo (in der deutschen Version: Walter) versteckt, den man dann suchen muss. Google hatte sich letztes Jahr ein kleines Späßchen erlaubt und Waldo an verschiedenen Orten in Google Maps versteckt.
Gestern spülte mir nun ein Beispiel in die Timeline, in der gezeigt wird, wie eine Gesichtserkennungssoftware Waldo findet.
Es zeigt, wie ich finde, ziemlich eindrucksvoll die Stärke solcher auf Machine Learning basierenden “Gesichts”erkennung: Lernen, wie Waldo aussieht (Muster erkennen) und dann die große Verarbeitungskapazität nutzen, um genau dieses Muster in einem vergleichsweise unübersichtlichen Chaos schnell und verlässlich zu entdecken. Jetzt muss man allerdings dazu sagen: Zu lernen wie Waldo aussieht, dürfte der Maschine in diesem Fall relativ leichtgefallen sein, denn das Trainingsmaterial (Bilder von Waldo) ist verfügbar und nicht sonderlich komplex.
Das “vergleichsweise unübersichtliche” Chaos in dem Bild ist zudem nur für das menschliche Auge unübersichtlich. Menschen erkennen Muster durch selektive Wahrnehmung, das heißt bewusst dadurch, dass einzelne Informationen ausgeblendet werden. Das muss so sein, weil unser Gehirn nicht in der Lage ist, alle Reize, die über die Sinnesorgane auf es eintrommeln, zu verarbeiten. Oder anders: Das Gehirn ist dazu möglicherweise in der Lage, aber es gibt sozusagen gewisse Schutzfunktionen, die es vor zuviel Information bewahren. Denn es gibt sehr wohl Menschen, die eine sogenannte “Inselbegabung” haben und nur einen einzigen Blick auf London, New York oder Tokio (oder Waldos Strandbild…) werfen müssen, um das Gesehene dann detailgetreu aus dem Gedächtnis nachzeichnen zu können (“Savants”). Maschinen aber haben all diese Limitierungen nicht. Die Verarbeitungskapazität ist riesig und es bedarf auch keiner Schutzfunktionen, um die Maschine vor Reizüberflutung zu bewahren.
Erkennt KI auch Persönlichkeit?
Gesichtserkennung gibt es natürlich nicht nur für Wimmelbilder. Nein, die begegnet einem sehr real. In Deutschland recht ausgewählt – z.B. bis Mitte letzten Jahres, wenn man den falschen Bahnhofs-Ausgang am Berliner Südkreuz wählte -, in anderen Ländern massiv. In zum Beispiel China ist Gesichtserkennung ein zentraler Baustein des im Aufbau befindlichen Social Scoring Systems. Wer sich von einer Kamera dabei erwischen lässt, eine rote Ampel zu überqueren, der bekommt prompt ein paar Punkte abgezogen.
Natürlich findet man das Thema Gesichtsanalyse mittlerweile auch im Recruiting. Der amerikanische Anbieter von Videobewerbungs-Software HireVue wirbt vollmundig damit, dass die automatische Analyse des Kandidaten hilft, den richtigen zu identifizieren:
“In einem Meer von Kandidaten, die alle gleich aussehen – wo findet man die, die herausstechen?”HireVue
HireVues Gesichtsanalyse basiert hierbei auf der Software von Affectiva, einem der Pioniere in der automatischen Beurteilung von Gestik, Mimik und Sprache. Hier muss man jedoch sehr vorsichtig sein. Das Äußere verrät natürlich völlig zweifelsfrei etwas über einen Menschen. Ob jemand wütend, traurig, erfreut, böse, müde usw. ist, dann kann man mehr oder weniger gut am Äußeren einer Person ablesen. Uns Menschen hat das die Evolution beigebracht und ja, mehr oder weniger gute Trainingsdaten und Machine Learning bringt dies nun eben Maschinen bei. Aber: Gemütszustand und emotionaler Zustand ist das eine. Charakter bzw. Persönlichkeit ist etwas völlig anderes!
Man kann sich das Verhältnis ungefähr so vorstellen wie das zwischen Wetter auf der einen Seite und Klima auf der anderen ist. Bekommen auch viele immer durcheinander, etwa wenn mal wieder jemand behauptet, dass es den Klimawandel offenbar nicht gäbe, weil ja gerade wieder 30 cm Neuschnee in den Alpen gefallen seien.
Ob jemand fröhlich ist (was man am Gesicht womöglich ablesen kann) oder ob jemand – generell – offen für Neues oder extrovertiert sind (was man am Gesicht nicht ablesen kann), das sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Das eine (Stimmung) sind sog. “State”-Merkmale. Das andere (Charakter oder Persönlichkeit) sind sog. “Trait”-Merkmale.
Der Psychologie-Professor Alexander Todorow von der Princeton-Universität, so etwas wie der Doyen auf dem Gebiet der Erforschung von Gesichtswahrnehmung, bringt das ganz schön auf den Punkt:
“Gesichter spielen eine ganz besondere Rolle in unserem mentalen Leben. Auf Basis angeborener Fähigkeiten und Erfahrungen können wir Gesichter anderer erkennen, ihren emotionalen Zustand erfassen und mit ihnen kommunizieren. Gerade der erste Eindruck ist bedeutend für uns. Dennoch kann es fatale Folgen haben, wenn wir danach handeln. Denn dieser Eindruck ist eben kein verlässlicher Hinweis auf den Charakter des Menschen, der uns gegenübersteht.”Alexander Todorow
Gesichtsanalyse versus Verkleidungskünstler: Das Rattenrennen zwischen KI und Bewerber
Die Beurteilung der Persönlichkeit, die “Messung” stabiler und nicht flüchtiger Merkmale einer Person ist Sinn und Zweck der Persönlichkeitsdiagnostik im Recruiting. Es bringt einem als Recruiter gar nichts zu erfahren, dass die interviewte Person, die sich für den Job im Kundenservice bewirbt, jetzt gerade fröhlich und gut gelaunt ist, sondern man möchte wissen, ob sie dies verlässlich und meistens ist. Eben diese Ableitung vom Äußeren auf die Persönlichkeit funktioniert nicht. Das ist rauf und runter getestet worden und immer wieder widerlegt. Und wenn man sich aktuelle Studien anschaut, die gegenteiliges behaupten, genügt oft ein etwas genauerer Blick in das Forschungssetup und man erkennt die angewendeten Taschenspielertricks:
So behaupteten z.B. zwei chinesische Forscher, dass ein von ihnen trainierter Algorithmus allein anhand von Führerschein-Fotos mit 90%-iger Wahrscheinlichkeit verurteilte Kriminelle erkennen könne. Bei der Studie wurden allerdings nur sechs Fotos als Basis verwendet, auf denen die nicht-verurteilten Personen alle Anzüge tragen, die Verurteilten jedoch nicht.
Heute wird so etwas im Machine Learning intensiv unter dem Stichwort “Kluger Hans (Clever Hans)” diskutiert. Der Algorithmus kommt ggf. zwar zum richtigen Ergebnis, aber aus vollkommen falschem Grund: Nicht die Kriminalität wird erkannt, sondern die Kleidung. Und wenn Anzüge mit “nicht kriminell” positiv korreliert ist, dann halt “Anzugträger = nicht kriminell”. Das funktioniert aber natürlich nur so lange bis sich die Personen umziehen. Genauso wie der kluge Gaul Hans nur rechnen konnte, so lange sein Lehrmeister Wilhelm von Osten daneben stand.
Ich empfehle auf jeden Fall an dieser Stelle, dass ihr euch mal 15 Minuten Zeit nehmt und euch diese Folge der Reihe 15 Minuten Wirtschaftspsychologie von Uwe Kanning über das Thema Physiognomie anschaut.
Ich hoffe, es sollte klar geworden sein, dass man mehr als skeptisch sein sollte, wenn einem jemand erzählt, dass man verlässlich vom Äußeren einer Person auf deren Charakter schließen könne - auch wenn dieser jemand einem was von KI erzählt. Naja, von datenschutzrechtlichen Bedenken ganz zu schweigen.
Nehmen wir dennoch einmal an, dass das ginge: Man kann valide vom Äußeren auf Persönlichkeit schließen. Man kann es Maschinen beibringen. Man darf es auch. Dann gibt es jedoch immer noch den Bewerber, der mitspielen muss! Dabei meine ich gar nicht unbedingt die "Candidate Experience", also die Frage, wie Kandidaten das denn wohl finden, wenn eine KI ihnen ihre Persönlichkeit aus dem Gesicht liest. Nein, ich meine vor allem etwas anderes.
Die Vertreter dieser schönen neuen Welt (sei es der Gesichtserkennung und -deutung oder der Sprachanalyse…) führen gern das Argument ins Feld, dass solche KI deshalb sinnvoll sei, weil das Ergebnis nicht durch den Bewerber verfälschbar ist. Klassische Persönlichkeitstests krankten demnach nämlich alle daran, dass der Kandidat diese durchschauen könne und dann so beantwortete, dass wahlweise das herauskäme, was das Unternehmen wohl hören wolle (sog. “Sozialerwünschtheit”) oder was er selber von sich für ein Bild zeichnen möchte (sog. “Impression Management”). Und da man weder seine Stimmmodulation noch seine eigene Gestik und Mimik abschließend und vollkommen beherrschen kann, messen diese Tools eben auch das “wahre Ich” des Kandidaten.
Nun, auch dazu fiel mir kürzlich etwas sehr passendes in die Hände (herzlichen Dank dafür an Sven Wiesner von Neon Gold Innovations): Man kann Gesichtserkennungs-Software austricksen durch “Okklusion” / Verbergen, beispielsweise durch Masken (zum Beispiel aus dem 3D-Drucker, Ethan Hunt lässt grüßen…) oder “Konfusion” (Infrarotlicht, Makeup, aufgeklebte oder -gemalte Muster, Hyperface-Schals und so weiter).
Das Wettrennen läuft
Das Wettrennen läuft also. Zwischen wem? Entwicklern für immer ausgefuchsterer Gesichtserkennung und Entwicklern für immer cleverere Methoden genau diese Gesichtserkennung austricksen.
Es könnte sein, nein es ist wahrscheinlich, dass auch der Einsatz von Gesichtserkennung und automatisierter Analyse von Gestik, Mimik, Emotion, Sprache, Stimme und Persönlichkeit (?) durch Arbeitgeber zu einem verstärkten Einsatz von Manipulationsinstrumenten durch Bewerber führen wird. Da wird es weniger darum gehen, nicht erkannt zu werden, sondern darum, dass die KI des Arbeitgebers zu den richtigen Ergebnissen kommt – den “richtigen” im Sinne des Bewerbers natürlich - ein Rattenrennen.