Dr. Alexandra Hildebrandt

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für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Konservierte Erinnerungen: Die Rückkehr des Herbariums

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Die Faszination des Kleinen

Die Faszination und Vorliebe für kleine Dinge und Details sind heute ein letzter Rest, der eine Gegenmacht zur Rationalisierung der Gesellschaft darstellt. Die Künstlerin und Illustratorin Maartje van den Noort und die Designerin Saskia de Valk haben gemeinsam „Das kleine Herbarium“ entwickelt. Das Buchkunstwerk enthält nicht nur wichtige Fakten über Herbarien, sondern auch eine Vielzahl von Informationen, Zitaten und Zeichentipps rund um wilde Blumen und Pflanzen - es ist auch ein „greifbarer“ Ort, um die schönsten Funde festzuhalten und Erinnerungen aufzubewahren.

Das Buch ist Einladung, Trost, Inspirationsquelle und Nachschlagewerk für schöne kleine Dinge. Die Liebe zu ihnen verbindet die beiden Niederländerinnen, die ein Leben lang Notizbücher, Hefte und schöne Fundstücke sammelten. Daraus entstand dann die Idee zu dieser Publikation. Es soll zum Stehenbleiben, Durchatmen und Schauen anregen – und in unübersichtlichen Zeiten den Blick schärfen für das, was uns die Natur schenkt. Gänseblümchen, Vergissmeinnicht, Wiesenklee und Margeriten sammeln und trocknen – ein altes Hobby wird zu einem neuen Trend.

Bei Öko-Anbietern findet sich zum Beispiel eine Kräuterpresse, mit der Kinder die Natur auf individuelle Weise entdecken können. Damit lassen sich Kräuter und Pflanzen auf einfache Weise pressen (Blätter oder Blüten werden auf die stabile Wellpappe gelegt, die Sperrholzblatte wird mit den Schrauben festgedreht) und trocknen. Zudem lernen Kinder nicht nur die Namen der Gewächse kennen, sondern auch die Beschaffenheit und den Duft. Mit den fertig gepressten und getrockneten Produkten lassen sich beispielsweise Kalender oder Bilder verzieren. Die Pflanzenpressen werden aus Birkensperrholz der Schadstoffklasse E1 gefertigt (Quelle: memolife).

Sammeln hilft gegen äußere Bedrohungen

In Krisenzeiten möchten sich Menschen sammeln, um sich in den Wirren der Zeit nicht zu verlieren, und was liegt näher als das Greifbare, das vor einem liegt? Gegen innere und äußere Bedrohungen sollen das Sammeln und das Wissen helfen. So schreibt auch Thomas Mann in seinem Bildungsroman „Der Zauberberg“ (1924), dass Hans Castorp Sträuße zur „streng wissenschaftlichen Bearbeitung“ heimtrug: „Einiges floristische Rüstzeug war angeschafft, ein Lehrbuch der allgemeinen Botanik, ein handlicher kleiner Spaten zum Ausheben der Pflanzen, ein Herbarium, eine kräftige Lupe.“

Anfangs bezeichnete das Wort „Herbarium“ (auch „Herbar“, lat. „Kraut“) ein gebundenes Buch, später kamen die ersten losen Kartonblätter auf, die das Austauschen und Kategorisieren erleichterten. Blumen und Pflanzen wurden bereits im alten Ägypten gepresst und aufbewahrt. Der Italiener Luca Ghini (1490-1556) stellte für seine Studenten an der Universität von Bologna das erste Herbarium her. Ursprünglich nur für wissenschaftliche Zwecke genutzt, hat sich die Bedeutung des Blütensammelns in der Vergangenheit in eine leidenschaftliche Richtung entwickelt: Vor allem die Romantiker hatten Freude daran, ihre Erinnerungen in Form von gepressten Fundstücken festzuhalten. So legte die englische Königin Viktoria zusammen mit ihrem Mann Albert im 19. Jahrhundert ein romantisches Herbarium an. Gemeinsam sammelten sie über Jahrzehnte hinweg Pflanzen und trugen gemeinsame Erinnerungen in das Büchlein ein.

Schlemihls Welt

Das größte wissenschaftliche Herbarium Deutschlands ist das Herbarium Berolinense des Botanischen Gartens und Botanischen Museums Berlin-Dahlem mit 3,6 Millionen getrockneten und konservierten Pflanzenbelegen. Es wurde im Jahre 1819 gegründet. "Dem Botaniker ist ein Herbarium notwendig. Das Herbarium ist sein lebendiges Gedächtnis, darin liegt ihm zu jeder Zeit die Natur zur Ansicht, zur Vergleichung, zur Untersuchung vor." So beschreibt der Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso die Aufgabe der Herbarien in seinem 1827 erschienenen Botanik-Lehrbuch, das er als "Aufseher der öffentlichen Kräutersammlung" in Berlin verfasst hatte. 

Sein Buch war als Ergänzung zu dreißig Herbarien mit je dreihundert Pflanzenarten gedacht, die er zuvor im Staatsauftrag für Lehrzwecke an Schulen zusammengestellt hatte. „Ich stehe einer großen königlichen Heumanufaktur vor“, witzelte er und klagte in einem Brief: „Wie sieht es jetzt in der Botanik aus: In jedem Wisch, den man zur Hand nimmt, findet man neue Entdeckungen evulgiert, überall wird gedruckt, jeder schreibt, keiner kommt zum Lesen, und die Masse des Gedruckten droht jegliche Manier zu zersprengen.“ In dieser Flut botanischer Veröffentlichungen geriet auch sein Lehrbuch in Vergessenheit, bis es 1986 (auf dem Höhepunkt der Öko-Bewegung!) als Illustriertes Heil-, Gift- und Nutzpflanzenbuch von Ruth Schneebeli-Graf neu herausgegeben wurde, bemerkt Michael Bienert in seinem Beitrag „Ich stehe einer großen königlichen Heumanufaktur vor“ – Adelbert von Chamisso als Botaniker“. 

Der französische Adelsemigrant wurde im Alter von elf Jahren heimatlos, hielt sich abwechselnd in Deutschland und Frankreich auf und nahm an Bord der Kutterbrigg "Rurik" an einer russischen Pazifik- und Antarktisexpedition teil. Chamisso war ein Tatmensch. Drei Jahre vor der Niederschrift seines „Peter Schlemihl“ schrieb er einem Freund nach Frankreich, dass der Teufel das bisschen Philosophie holen soll, wenn sie nicht unmittelbar ins Leben übergeht. Die Zeit, Kunstwerke zu schaffen, musste erst ausgesät werden, auf dass sie reife, so seine Grundanschauung. Denn alles bleibt ohne Farbe und Bedeutung, wenn es nicht aus dem Leben begründbar und in ihm verhaftet ist.

Die Botanik entdeckte er erst spät als Wirkungsfeld für sich. Er war schon um die Dreißig, als ihn ein Jugendfreund, der Botaniker Louis de la Foye, im März 1812 bat, ihm Alpenpflanzen nach Frankreich zu schicken. Chamisso lebte zu diesem Zeitpunkt als Dichter, Übersetzer und Gesellschafter der französischen Schriftstellerin Germaine de Stael in Genf. Noch im selben Jahr entschloss sich Chamisso, nach Berlin zurückzukehren, um an der neu gegründeten Universität Naturwissenschaften zu studieren. Er musste sein Studium unterbrechen, als 1813 in Preußen für die Freiheitskriege gegen Napoleons Herrschaft mobil gemacht wurde.

Freunde brachten ihn auf dem Landgut Kunersdorf in Sicherheit, wo er seine erste botanische Veröffentlichung über Wasserpflanzen und die berühmte Geld- und Schattennovelle schrieb: „Peter Schlemihls wundersame Geschichte.“ Der Protagonist sieht sich im Traum am Arbeitstisch zwischen einem Skelett und einem „Bunde getrockneter Pflanzen“ sitzen. Auch hier hilft „angestrengte Arbeit“ gegen zerstörerische Gedanken in einer Welt, die aus den Fugen ist. Schlemihl erinnert aber auch an den Autor selbst, der ebenfalls mit einer Botanisiertrommel über der Schulter, unrasiert und mit lang herabhängendem Haar, 1812 zwischen Gletschern, Bergströmen und Abgründen umherwanderte. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Pflanzenwelt beschäftigte ihn bis zum Ende seines Lebens. Seine Mineralien und Tiere schenkte er der Berliner Universität, die Pflanzen behielt er. 1819 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Berliner Universität für seine Entdeckung des Generationswechsel der Salpen, einer Molluskenart verliehen.

Im selben Jahr wurde Chamisso als Kustos am Königlichen Botanischen Garten angestellt. Er erhielt „ein festes Gehalt und eine Dienstwohnung, konnte eine Familie gründen und ohne drängende Existenzsorgen an wissenschaftlichen Aufsätzen und Gedichten arbeiten“ (Michael Bienert). Rund 1300 wissenschaftliche Gattungs- und Artnamen von Tieren und Pflanzen tragen den Zusatz Cham., der darauf hinweist, dass Chamisso sie als erster beschrieben und eingeordnet hat. Sein Herbarium umfasste am Ende über zehntausend Arten. Es wurde nach seinem Tod im Jahr 1838 von der Russischen Akademie der Wissenschaften in St.Petersburg angekauft, wo es sich noch heute befindet. 

Blumenträume aus 1000 Jahren

Die botanische Illustration mit wissenschaftlicher Zielsetzung hat sich im Laufe der Jahrhunderte stetig weiterentwickelt, um dann den Rang einer eigenständigen Kunstform zu erreichen. Sie zeichnete sich durch eine große Vielfalt an Trägermaterialien (Vellum, Papier), Techniken (Buchmalerei, stich) und Herkunftsorten (Okzident, Griechenland, arabische Welt, Persien, Indien, China, Japan) aus. In Auftrag gegeben von Königen, Fürsten oder wohlhabenden Kaufleuten, gingen die kostspieligen Werke in berühmte Sammlungen ein. Erst im 19. Jahrhundert fanden sie mit der Entwicklung industrieller Reproduktionstechniken ein breites Publikum.

Das wird anschaulich im Buch „Im Garten Eden. Blumenträume aus 1000 Jahren“ von Luc Menapace, Archivar und Konservator an der Bibliothèque Nationale de France in Paris, gezeigt. Er ist dort für die biologischen und paläontologischen Sammlungen verantwortlich. Erzählt wird die Geschichte der Pflanzendarstellung vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Mehr als 100 Meisterwerke werden in opulenten Großformaten und exquisiten Details präsentiert. Viele der Manuskripte, Zeichnungen, Aquarelle und Drucke sind erstmals zu sehen. Die Kräuterbücher des Mittelalters, Spitzenstücke aus fürstlichen Wunderkammern und gelehrte Tafeln weitgereister Forscher widmen sich auf einzigartige Weise der außerordentlichen Schönheit der Pflanzenwelt.

Die Fotografie, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt, bedeutete allerdings nicht das Ende der Vorliebe für grafische Darstelllungen von Pflanzen. Gezeigt wird, dass die botanische Illustration im 20. Jahrhundert sogar vielfältiger als in den vorhergehenden Jahrhunderten ist. Die Sorge für die Umwelt geht auch mit einem neuen Interesse für Pflanzenarten und deren Bewahrung hervor. Es werden alte Gemüsesorten oder die Rosen vergangener Jahrhunderte erforscht, die weniger künstlich wirken als die derzeit verfügbaren.

Weiterführende Literatur:

Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Mit einem Nachwort von Dr. Alexandra Hildebrandt. Kyrene Verlag, Innsbruck-Wien 2014.

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Gartenzeit: Wie wir Natur und Kultur wieder in Gleichklang bringen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Luc Menapace und Colette Blatrix: Im Garten Eden. Blumenträume aus 1000 Jahren. Aus dem Franz. von Gisella M. Vorderobermeier. wbg Edition, Darmstadt 2019.

Maartje van den Noort und die Designerin Saskia de Valk: Das kleine Herbarium. Ein Buch zum Sammeln, Erinnern und Bewahren. Eden Books, Berlin 2016.

Wer schreibt hier?

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Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

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Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
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