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Kritik der digitalen Moderne: Der Sog der Zukunft

Ist der große emanzipatorische Traum vom Netz ausgeträumt?

„Hoffnung birgt die Digitalisierung nur noch für jene, die ihr Portefeuille mit den Aktien der Technologiekonzerne gefüllt haben“, schreibt der Publizist Jakob Augstein in seinem Vorwort zum Sammelband „Reclaim Autonomy“, in dem namhafte Denkerinnen und Denker der Gegenwart drängenden Fragen unserer Zeit nachgehen:

• Wie lässt sich der digitale Kapitalismus zähmen?

• Stellt das Internet eine Gefahr für die Demokratie dar?

• Wie können wir in einer digitalisierten Welt Autonomie (zurück)gewinnen?

• Wie ist es möglich, komplexe Situationen moderner Kommunikation besser zu verstehen und angemessen einzuordnen?

• Weshalb kann Technik zwar ein mächtiges Instrument zur Förderung individueller Freiheit und Selbstbestimmung sein, aber nicht allein als das Fundament für eine freie und dezentralisierte Gesellschaft fungieren?

Gezeigt wird, dass Herrscher in der Welt der digitalen Ökonomie nicht wir (die Nutzer der Dienste) sind, sondern in erster Linie die großen Konzerne. Frank Schirrmacher, der langjährige Feuilletonchef und Mitherausgeber der FAZ, hat dafür die Formel vom Imperialismus des Silicon Valley geprägt. Weltweit dominieren US-amerikanische Unternehmen den Markt für Informationstechnologien, die nach US-amerikanischen Verständnissen von wirtschaftlichem Erfolg und Innovations- und Risikobereitschaft handeln.

Arno Rolf, Professor für Informatik und Gesellschaft in Hamburg, und der Informatiker Arno Sagawe vergleichen das Verhalten von Google, Facebook und anderen mit der Spinnennetzmetapher: „In Spinnennetzen geht die Macht von einem Zentrum aus mit dem Ziel der Einverleibung. Spinnen sind Kannibalen und in der Lage, sehr belastbare und dehnbare Netze zu weben. Mit ihrem Netz können sie ihre Beute fesseln und konservieren. Mit Signalfäden ergreifen sie aktiv ihre Beute.“ (vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem: Re:claim Autonomy: Die Macht digitaler Konzerne). Der fortgesetzte Markterfolg der Spinne kann durch externes Wachstum gestützt werden, das durch die Einverleibung sogar kleinster innovativer Einheiten ermöglicht wird.

Frank Schirrmacher hat als einer der Ersten erkannt, was die mit den neuen Kommunikationstechniken verbundene Zeitenwende für alle gesellschaftlichen Bereiche bedeutet.

Er machte sich Gedanken darüber, wie das Internet unser Denken verändern wird: Wahres Wissen, das Dinge richtig einordnen kann und Verstehen voraussetzt, wird zunehmend durch reine (teilweise unverdaute) Informiertheit ersetzt. In seinen Büchern „Payback“ und „Ego“ spürte er den Auswirkungen der Digitalisierung auf den Verlust der Menschenwürde genauer nach und machte Algorithmen für die Endsolidarisierung der Gesellschaft und den „Siegeszug des digitalen Kapitalismus“ verantwortlich.

Schirrmacher forderte uns dazu auf, auf unseren menschlichen Intellekt statt auf technische Lösungen zu setzen. Im Buch „Payback“ schrieb er: „Der durchschnittliche Bürobewohner wechselt ständig zwischen zwölf verschiedenen Projekten, die er verfolgt, gerade beginnt oder noch zu Ende bringen muss. Dabei hält er es ungefähr 20 s vor einem geöffneten Bildschirmfenster aus.“ Diese Ablenkung koste täglich zweieinhalb Stunden. Das Hin- und Herspringen zwischen Tätigkeiten und Projekten wird gern als „Multitasking“ bezeichnet. Schirrmacher sah darin jedoch den „zum Scheitern verurteilte[n]Versuch des Menschen, selbst zum Computer zu werden“ und betrachtete sie als „Körperverletzung“, denn es geht hier nicht „nur“ um die Auswirkungen digitaler Medien auf den menschlichen Verstand, sondern um die Auswirkungen auf unsere seelische und körperliche Gesundheit insgesamt.

Dennoch: Es ist kein Buch, das Ängste und Unsicherheit verbreitet, sondern Orientierung bieten möchte – dabei spielt die analoge Welt noch immer eine wichtigste Rolle: Körpersprache, Augenkontakt, Handschrift und Manieren.

Jan Kalbitzer zeigt in seinem Beitrag „Angst und Wut im Internet als Entfesselung der Impulse durch die Moderne“, dass Contenance in Bezug auf das Internet nicht nur direkten Nutzern zu empfehlen ist, sondern auch denen, die die heranwachsende Nutzergeneration erziehen. „Wir können unseren Kindern in der Schule und zuhause noch so viel Medienkompetenz beibringen, wir können noch so harte Strafen für Hass und Beleidigungen fordern und noch so ausgefeilte Manuale oder digitale Chartas entwerfen: Wenn die, die am meisten von den digitalen Aufmerksamkeitsmaschinen profitieren, keine Vorbilder sind, werden unsere Rufe ungehört verhallen und unsere Regelwerke nur Widerstand hervorrufen.“

Weiterführende Literatur:

Reclaim Autonomy. Selbstermächtigung in der digitalen Weltordnung. Herausgegeben von Jakob Augstein. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.

Frank Schirrmacher: Payback: Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen. Pantheon Verlag, München 2009.

CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin. 2. Aufl. 2020.

Kommentare

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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