Leben mit sich selbst: Lagerfeld und die Welt der Hochkreativen
Karl Lagerfeld war ein undatiertes Wesen. Ihn interessierte alles, aber er wollte nicht beteiligt sein: „Ich beobachte und deute die Welt von meinem Fenster aus. Anschließend gehe ich auf reisen, um herauszufinden, ob dort wirklich alles so interessant ist, wie ich es mir immer vorgestellte.“ Menschen wie er sind gleichzeitig anwesend und abwesend, verrückt und diszipliniert, leben in einem Zustand der Unzufriedenheit und dennoch äußerst angenehm mit sich selbst.
Das Erlebte und Erlesene geht durch sie hindurch und fügt sich zu etwas Neuem. Dass im Komplexitätszeitalter besonders der französische Lyriker, Philosoph und Essayist Paul Valéry – den auch Lagerfeld schätzte - wiederentdeckt wird, hat mit der Zeitlosigkeit seines fragmentarischen Werkes zu tun, aber auch mit seiner Anschlussfähigkeit, die verwandte Geister heute schätzen. Valéry graste nicht nur seine eigene Gehirnwiese ab, sondern fand das meiste bei anderen: „Neun Zehntel dessen, was wir von uns wissen, wurde uns von anderen gelehrt oder eingeblasen.“ Seine unfertigen Aufzeichnungen weisen über Grenzen hinaus und wollen weitergedacht werden.
Das Fragment war beispielsweise auch für den Publizisten Roger Willemsen eine Lieblingsform, weil sie Leser dazu anregt, selbst produktiv zu werden. Er empfand „fertige“ Texte häufig als tot, weil alle Arbeitsspuren getilgt sind. Auch er liebte Paul Valérys Aufzeichnungen und fand das „Mach weiter“, das „Champagnerartige der überbordenden Einfälle“, immens anregend.
Alle Randständigen brauchen aber auch das Alleinsein, weil sich nur aus der Tiefe wirklich Substanzielles schöpfen lässt. Deshalb ist es wichtig, beim Denken auf sich allein gestellt zu sein. Das Flanieren, Allein-Herumwandern, ist für sie eine Übung in Sachen Aufmerksamkeit, die sich auch bei Valéry findet:
„Allein. Ganz für sich –
Man muß zugeben, daß das ich – nur ein – Echo ist.“
Karl Lagerfeld, für den das Alleinsein ein Sieg und keine Niederlage war, lebte sehr gut mit sich selbst: „Aber ich sehe auch mich immer neben mir, also bin ich auch zu zweit. Und der eine macht sich über den anderen lustig.“ Auch über sein ständiges „Übergewicht - im Kopf“. Der Rest kam später, den ist er aber „wieder losgeworden.“ Je mehr Lagerfeld machte, desto mehr Ideen hatte er auch. „Das Gehirn ist ein Muskel und ich bin eine Art geistiger Bodybuilder.“ Er zeichnet wie er atmet – nicht auf Befehl, sondern aus innerer Notwendigkeit, die einfach passiert.
In Valérys berühmten „Cahiers“ wird in diesem Zusammenhang die Stärkung eines Muskels durch Übung beschrieben: „Die Produktion von Ideen ist bei mir eine natürliche, gleichsam physiologische Tätigkeit – deren Unterbindung meinen körperlichen Zustand ernsthaft beeinträchtigt, deren Ausübung mir unerlässlich ist.“ Für hochkreative Menschen ist alles geistige Nahrung. Ihre Spezialität ist ihr Gehirn, das die Dinge gebraucht und verwandelt (übersetzt).
„Ich bin wie eine Satellitenschüssel, die alles empfängt, aufnimmt, verarbeitet und auf meine Art wiedergibt“, sagte Lagerfeld über sich selbst, der einfach immer seinem Instinkt folgte. Wie Valéry passte er in keine Kategorie, weil er nichts gründlich betreiben wollte, denn das würde bedeuten, seinen geistigen Taubenschlag vor anfliegenden Ideen zu verschließen. Von solchen Menschen lässt sich lernen, sein eigener Lehrer zu sein, mit unbekannten Situationen und mit Komplexität umgehen zu können. Dabei kommt es nicht darauf an, überall und mit jedem vernetzt zu sein, sondern sich richtig zu vernetzen. „Das Leben so einfach, das Denken so komplex wie möglich, so ist‘s nach meinem Geschmack“, schreibt Valéry.
Beide verbindet die Kunst des Lebens und ein besonderer Umgang mit Komplexität und Veränderung – für Lagerfeld war es die „gesündeste Art zu überleben.“ Er lebte zwar sehr geordnet, mochte aber nicht zu ordentlich sein, denn dann würde man nur das finden, was man gesucht hat. Nie würde es „Überraschungen und die Freude des zufälligen Wiederfindens“ geben.
Für Valéry war die Überraschung nicht nur eine besondere Empfindung, sondern Unordnung oder Störung einer „bestimmten normalen Ordnung“, die seine Natur stets erhellt hat.
Wer Überraschungen, das Ungewöhnliche, Plötzliche in sein Leben lässt, ist auch in der Lage, die Gegenwart mit anderen Augen zu sehen, aktuelle Entwicklungen zu reflektieren und eine lockere Distanz zu sich selbst zu entwickeln - sonst ist es schwer, in einer komplexen Welt mit Überraschungen klarzukommen.
Weitere Informationen:
Alexandra Hildebrandt und Nicole Simon: KARL. Reflections. Kindle Edition 2020.
Thomas Stölzel (Hg.): Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.