Leben und Geben: Zum Tod von Egidius Braun
Um die Aufgaben der Gegenwart zu bewältigen, braucht es humanitäres Unternehmertum und kein routiniertes Management.
Im Alter von 97 Jahren ist Egidius Braun in der Nacht zum 16. März 2022 in seiner Heimatstadt Aachen verstorben. Er war ein Mensch, der die Ideale des Humanismus nicht nur verkündet, sondern sie auch in die Tat umsetzt hat. Von Oktober 1992 bis April 2001 war Braun Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und zuvor seit 1977 Schatzmeister des Verbandes.
Die erste Reihe hat er nie gesucht. Vielmehr ist er auf sie zugekommen – aus einem traurigen Grund: Als Hermann Neuberger 1992 einem Krebsleiden erlag, wurde Braun sein Nachfolger. Ihm war bewusst, dass es leichter ist, an ein Ehrenamt zu kommen, als es auszufüllen. „Der Verband“, sagte er, „ist für die Vereine da und nicht die Vereine für den Verband.“ Als DFB-Präsident hatte er seine eigenen Vorstellungen, wie man solche Ämter ausfüllen und einen solchen traditionellen Verband führen muss: Braun war hart in der Sache, gradlinig, mitunter auch ungeduldig und schonungslos sich selbst gegenüber. Sein altgriechischer Vorname Egidius bedeutet so viel wie „Schildhalter“, der er als DFB-Präsident immer war, denn er fühlte sich an das gebunden, was darauf an Lebensaufgaben stand: Kampf für die Gleichberechtigung zwischen Profi- und Amateursport, Stärkung der Vereine als Keimzellen des Fußballs, bürgerschaftliches Engagement, Verlässlichkeit und ehrliche Kommunikation.
Mit dem Begriff „Funktionär“ verband er einen Auftrag, eine ehrenvolle Pflicht. Egidius Braun hat für das Thema „Nachhaltigkeit“ als Pionier prozesshafte Übersetzungsarbeit geleistet. Mit einer verstärkten Medienarbeit wollte er unter anderem erreichen, dass nicht nur das Ansehen des Verbandes in der Öffentlichkeit verbessert und den Leistungen entsprechend dargestellt wird, sondern dass vor allem die Werte, die der Fußball vermittelt, in sämtlichen Medien eine nachhaltige und positive Resonanz finden.
Nach seinem gesundheitsbedingten Ausscheiden aus dem Präsidentenamt wurde er zum DFB-Ehrenpräsidenten ernannt. Zudem wurde ihm zu Ehren im Juli 2001 die DFB-Stiftung Egidius Braun errichtet. Bis zu seinem Tod war er Vorsitzender des Stiftungsvorstandes. Neben seinen Funktionen im DFB war Egidius Braun auch auf internationaler Ebene tätig. So war er unter anderem zwölf Jahre Mitglied im Exekutivkomitee der UEFA sowie von 1992 bis 2000 UEFA-Vizepräsident. Von 1996 bis zum Jahr 2000 verantwortete Egidius Braun als Schatzmeister die Finanzen der europäischen Fußballunion, die ihn nach seinem Ausscheiden zum Ehrenmitglied ernannte. In Anerkennung seiner Verdienste um den Fußballsport wurde Egidius Braun mit zahlreichen nationalen und internationalen Auszeichnungen geehrt. Seine Biografie geht uns an, denn sie enthält alles, worauf es im Leben ankommt.
Nach seiner Ansicht sollten die Älteren nicht einfach ihre eigenen Vorstellungen unkritisch jungen Menschen überstülpen, weil es dazu führen würde, sich von der jungen Generation zu entfremden.
Ein Gramm Arbeit wog für ihn mehr als ein Kilo Worte.
Bei der Durchsetzung seiner Ansichten, Überzeugungen und Ziele war er unbeugsam, wenn es darum ging, etwas als zwingend notwendig erkannt zu haben.
Ehrenamtliche Leistung war für ihn gelebte Demokratie. Die Verdienste der Ehrenamtlichen konnte er nicht oft genug herausstellen. Sie werden gerade in Zeiten wie diesen benötigt, in denen Kinder und Jugendlichen besonders Halt und Orientierung suchen.
Mit Einheit verband er nicht Meinungskonformität, sondern fruchtbare Auseinandersetzung, demokratische Entscheidungen, Repräsentation eines geschlossenen Bildes in der Öffentlichkeit.
Er stand zu seinen Gefühlen, die er auch in der Öffentlichkeit zeigte.
Er war tief im christlichen Glauben verwurzelt und war der Ansicht: “Wenn wir alles tun, was in unseren Kräften steht, dann tut Gott das übrige.“
Der Erfolg für die Jugendlichen hing seiner Ansicht nach in entscheidendem Maße davon ab, wie es dem Verband gelingt, deren Energien freizusetzen und sie dahin zu führen, eigene Vorstellungen zunehmend selbstständig und mit eigenen Mitteln ausgestattet in ihren Vereinen für den Alltag umzusetzen.
Er lehnte den Kommerz nicht ab, aber die überzogene Kommerzialisierung einer Volkssportart.
Unter Kontinuität verstand er nicht Mangel an Ideen, sondern Geduld und Beharrlichkeit in der Umsetzung von Ideen als Gegensatz zu Sprunghaftigkeit und hektischem Agieren.
Mit einer verstärkten Medienarbeit wollte er unter anderem erreichen, dass nicht nur das Ansehen des Verbandes in der Öffentlichkeit verbessert und den Leistungen entsprechend dargestellt wird, sondern dass vor allem die Werte, die der Fußball vermittelt, eine nachhaltige und positive Resonanz finden.
Es fehlte ihm nie an Mut zu seinen Aufgaben - auch nicht an Einsicht, dass sie sich nur mit der Unterstützung vieler wohlwollender und kluger Helfer anpacken und lösen lässt.
Er wirkte nachhaltig und schaute mit ungetrübtem Blick über sein eigenes Wirkungsfeld hinaus.
Er verbreitete Optimismus und rheinische Fröhlichkeit, Hoffnung und Zukunftsorientierung.
Bei Problemen wurde unbürokratisch, bei Not auch finanziell geholfen.
Keine seiner Reden war wie die andere. Auch hielt er es mit Churchill: „Eine gute Rede soll das Thema erschöpfen und nicht die Zuschauer.“
Er forderte die globale Betrachtungsweise der großen und komplexen Probleme der Welt, in der die wechselseitige Verflochtenheit der Nationen zunimmt. Nur in weltweiter Solidarität lassen sich die Probleme der Menschheit lösen.
Toleranz, Integration und Völkerverständigung waren seine großen und nachhaltigen Themen.
Sein Wirken war geprägt durch Altruismus, Teilhabe an der gesellschaftlichen Verantwortung und Glaube an das Transzendentale.
Seine Ziele mussten immer erreicht werden – auch wenn er dabei Methoden und Wege wechseln musste.
Die Zeit, die Kindern und Jugendlichen in den Vereinen geschenkt wird, war für ihn Zukunftsarbeit.
Als junger Mann war Egidius Braun Volontär in einem Aachener Export- und Importunternehmen für Agrarprodukte und übernahm nach nur drei Wochen dort die Aufgaben einer Führungskraft und wurde mit 21 Jahren Treuhänder der Firma. Liebevoll wurde er auch „Pater Braun“ genannt. Unvergessen ist seine beeindruckende Reaktion, als während der Fußball-Weltmeisterschaft im Juni 1998 in Lens deutsche Hooligans den französischen Gendarmen Daniel Nivel fast zu Tode schlugen. Er demonstrierte Mitgefühl und teilte das Leid mit dem Opfer, verfiel nicht in die geschäftige Routine eines „Managers“, sondern blieb ein humanitärer „Unternehmer“, der nach Wegen suchte, das Leid zu lindern.
Er handelte auch beim DFB nach dem Grundsatz der Nachhaltigkeit, dass nie mehr ausgegeben werden darf als eingenommen wird. Egidius Braun verfolgte, um die Finanzen zu konsolidieren, denselben Weg, der ihn als Unternehmer („Kartoffel-Braun“) erfolgreich gemacht hat: Er drängte auf Sparsamkeit, um die finanzielle Unabhängigkeit des Verbandes zu sichern. Nachdem er seinem Vater mit 26 Jahren als erster Mann in die Führungsspitze des SV Breinig folgte, ließ sich der Aufstieg zu höchsten Ämtern im Fußball-Verband Mittelrhein, im Westdeutschen Fußball-Verband, im DFB, in der Europäischen Fußball-Union (UEFA) und im Fußball-Weltverband (FIFA) nicht mehr aufhalten. Auch die Anliegen der Kinder, damals vor allem der türkischen, lagen ihm schon damals am Herzen. „In zwanzig Jahren“, sagte der 48-Jährige, „werden möglicherweise diese Kinder noch in unserem Land leben. Und unser Verhalten wird für sie ein Maßstab dafür sein, wie sie sich bei uns sozial einordnen und wie sie uns als Menschen beurteilen.“
Von Diversity-Management hat damals noch niemand gesprochen. Es brauchte diese Begrifflichkeit auch nicht, weil „Vielfalt“ selbstverständlich gelebt wurde, denn die Sehnsüchte der Menschen sind überall gleich - sie wollen Frieden und Glück, egal in welcher Kultur sie leben. Egidius Braun war von Beginn an dabei, als sich Fußball-Vereine der Integration ausländischer Bürger öffneten. Im Dreiländereck Aachen-Maastricht-Lüttich initiierte er in den 1970er Jahren zahlreiche Kontakte zu Vereinen im benachbarten Ausland. Die Integrationsprogramme für Ausländer und eine Jugendförderung auf breiter Ebene gehören zu den herausragenden Leistungen während seiner Mittelrhein-Präsidentschaft. Fußball als Mittel zur Toleranz, Integration und Völkerverständigung war sein großes und dauerhaftes Thema. Später gründete er das DFB-Jugendwerk, das durch internationale Verbandsjugendhilfe sehr engagiert für den Fußball in Osteuropa eintritt und sich für die Integration der Landesverbände in den neuen Bundesländern einsetzte, damit auch im Fußball zusammenwächst, was zusammengehört.
Otto Rehhagel, heute u.a. Kuratoriumsmitglied der DFB-Stiftungen, mahnte in den vergangenen Jahren immer wieder an, dass sich der Fußball wieder auf die alten Werte besinnen muss: „Heute ist es leider so, dass die Berater ihren Jungens sagen: Ich mache aus dir einen Millionär. Sie sagen nicht: Ich mache aus dir einen guten Fußballer." In den Anfangszeiten des bundesdeutschen Fußballs bewegten sich noch viele Amateure auf dem Spielfeld, denen es um die Freude am Fußball ging. Inzwischen haben sich Profifußballer zu Privatunternehmern mit Managern und Beratern entwickelt. Schon in den siebziger Jahren sprach sich der Finanz- und Steuerfachmann Egidius Braun gegen eine Überbezahlung der Profis aus. Er sah darin die Gefahr eines Imageverlusts für den gesamten Fußball, „der vom großen Heer der Amateurvereine getragen wird“.
Und er las all denen die Leviten, die glaubten, aus Steuergeldern Profigehälter bezahlen zu können. Er trat zwar für den Berufsfußball ein – allerdings war er der Meinung, dass Profifußballer nur in dem Maße bezahlt werden, „wie sie durch ihre Leistungen in der Lage sind, Zuschauer anzuziehen und damit die Kassen zu füllen“. Gewinnen oder verlieren, kann und darf „es“ nicht sein, war sein Credo. Seit seiner Mitarbeit in den höchsten nationalen und internationalen Gremien bemühte sich Egidius Braun verstärkt darum, das hemmungslose Profitstreben in angemessenen Grenzen zu halten.
Auch warnte er davor, Fußball mit einem Dukatenesel zu verwechseln und ihn zu einer Unterhaltungsware, einem Event, verkommen zu lassen: „Wenn der Fußball nur noch eine Abteilung der Unterhaltungsbranche sein sollte, dann wäre es nicht mehr meine Welt.“ Dabei lehnte er Kommerzialisierung keineswegs ab, sondern plädierte für Augenmaß. Das bedeutet auch, auf kurzfristige Vorteile zu verzichten und Wirtschaften als langfristiges Schaffen von Werten betrachten. Unmittelbar vor den Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Fußballbundes in Leipzig warnte Braun in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor einem überbordenden Turbokapitalismus im Fußball: „Manchester-Kapitalismus heißt, Geld einzusetzen, wo das Geld verspricht, Profit zu bringen.“ Fußball darf nicht von Geschäftemachern missbraucht werden – es ist kein Millionenspiel, sondern ein Spiel von Millionen Menschen, die das eigentliche Kapital sind. Er plädierte für das Solidaritätsprinzip und wollte nicht zulassen, „dass die Millionen nur noch in den Taschen einiger Geschäftemacher landen.“ Werden die Wurzeln vernachlässigt, „dann werden oben am Baum ganz schnell die Blätter welken“, sagte er oft und nahm auch in Kauf, deshalb als Fußball-Romantiker etikettiert zu werden.
Doch ohne Geld ist vieles Sinnvolle und Nachhaltige auch nicht möglich. Es kommt auf die Balance und das „Wie“ an: So konnten für die Mexiko-Hilfe, die 1986 während der Weltmeisterschaft in Mexiko von ihm initiiert und seitdem von Fußball-Persönlichkeiten wie Franz Beckenbauer, Rudi Völler, Karl-Heinz Rummenigge oder Jürgen Klinsmann unterstützt wurde, siebenstellige Beträge gesammelt und dem guten Zweck vor Ort zugeführt werden. Dabei handelte es sich hier um keine Einbahnstraße: „Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, ein Beweis dafür, dass wir gemeinsam handeln müssen, um in der Zukunft zu bestehen. Das Konzept des Nationalstaats, der sich hinter einer Mauer verstecken kann, gehört der Vergangenheit an. Es geht nicht mehr an, dass jemand sagt: ‚Ich lebe ganz gut, sollen die anderen doch sehen, wie sie zurechtkommen.‘ Keiner kann ohne den anderen leben.“ So die Kernaussage seiner Rede anlässlich der Verleihung des „Tecelote de Oro“ der Universidad Autónoma de Guadalajara (Mexico, April 1997). Gern berief er sich auch ein Wort des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker:
Mit verschiedenen Initiativen, wie beispielsweise „Mein Freund ist Ausländer“ und „Keine Macht den Drogen“, setzte Braun wichtige gesellschaftspolitische Akzente und initiierte die Aufnahme des sozialen Engagements als dritte Säule in die DFB-Satzung. Er begründete die Zusammenarbeit mit dem Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ und setzte sich für die regelmäßige Durchführung des Benefiz-Länderspiels ein. Sein Leitmotiv war, dass Fußball mehr sein muss als ein 1:0. Wer sich mit dem Leben und Wirken von Egidius Braun beschäftigt hat, weiß, was dieses Thema wirklich bedeutet – keine Definition, Podiumsdiskussion, kein Werbespot dringen so tief ins Bewusstsein wie eine solche Biografie, die lehrt, dass es immer auch darauf ankommt, den Blick vom eigenen unmittelbaren Verantwortungsbereich weg auf das Ganze der Gesellschaft zu richten.
Der europäische Geist: Warum der Ehrbare Kaufmann hochaktuell ist
Die Ära Egidius Braun. Hg. Deutscher Fussball-Bund DFB, Frankfurt/M. 2000.
Horst Lachmund: Fußball ist mehr als ein 1:0. Biografie des DFB-Ehrenpräsidenten Dr. h.c. Egidius Braun. H.g.: Egidius- Braun-Stiftung Köln o. J.
Tobias Wrzesinski: Doppelpass der Generationen in der Tradition von Egidius Braun und Sepp Herberger. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.