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Peter Lindbergh / TASCHEN

Leise Allwissenheit: Das letzte große Projekt von Peter Lindbergh

„Meine Angst ist, eines Tages eine Frau so anzugucken, wie du einen Ascheimer anschaust“, sagte einer der bedeutendsten Fotografen der Gegenwart: Peter Lindbergh (1944-2019). Emotionales Berührtsein war für ihn eine Voraussetzung, um der eigenen Rolle als Mittler zwischen Model und Bildbetrachter gerecht zu werden. Künstliche Attitüden, wie sie üblicherweise in der Mode dominieren (übertriebene Make-ups oder Stylings), lehnte er immer ab. Selbstbewusste Frauen, die in weißen Hemden kindlich und verspielt über den Strand laufen oder stolz durch Brooklyn liefen – das gab es vor ihm in dieser Form noch nicht. „Mich hat immer gestört, dass Frauen in der Modefotografie damals nichts anderes waren als Kleiderständer“, sagte er. Die Schönheit eines Menschen konnte seiner Ansicht nach nur durch Identität mit sich selbst zum Vorschein kommen, denn nichts war für ihn so „sexy“ wie Persönlichkeit.

Offenheit und die Bereitschaft, die Kontrolle über das Geschehen zuweilen auch einmal aufzugeben zugunsten von Zufall und Wahrhaftigkeit machen das Besondere seiner Bilder aus. Lindbergh stand immer mit beiden Beinen auf dem Boden und hatte keine Allüren. Diese Bodenständigkeit, die sich auch in seinen Fotos zeigt, hat mit seiner Herkunft zu tun, denn er wuchs im Ruhrgebiet auf. Die industrielle Ästhetik prägte neben Werken des deutschen expressionistischen Kinos der Zwanzigerjahre seine charakteristische Bildsprache. Viele Aufnahmen wurden vor Fabrikkulissen gemacht.

Bevor Lindbergh in den 1990er-Jahren die Modefotografie neu erfand, dekorierte er bei Karstadt Schaufenster mit Damenwäsche und kam über Willy Fleckhaus, Artdirektor des Kultmagazins Twen, in den 1970er-Jahren zum Stern. Es folgten Aufträge von Vogue, Harper’s Bazaar, Rolling Stone, Vanity Fairan und Marie Claire. Bekannt wurde er unter anderem durch sein Shooting fürs erste amerikanische Vogue-Cover unter Leitung von Chefredakteurin Anna Wintour. Lindbergh fotografierte für Prada, Calvin Klein, Donna Karan, Jil Sander, Karl Lagerfeld und Giorgio Armani.

Seine Bilder halten den Moment fest und erzählen keine großen Geschichten. Um seine Fotografie ganzheitlich erfassen zu können, ist es nicht nur wichtig, einen Blick auf Paris, sondern auch auf „Das Passagen-Werk“ des großen literarischen Europa-Flaneurs des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, Walter Benjamin, zu werfen. Der Flaneur, sagt Benjamin in seiner Rezension über Franz Hessel, sei der „Priester des genius loci“, ausgestattet mit „leiser Allwissenheit“. Das Passagen-Werk ist ein Kompendium von kurzen Reflexionen und Aphorismen, die teilweise seine eigenen, aber auch Zitate von anderen sind. In seiner Materialsammlung zitiert er einen Lieblingssatz aus dem „Grand dictionaire“ von Larousse: „Wenn der Künstler oder Dichter am wenigsten mit seinem Werk beschäftigt zu sein scheint, ist er oft am innigsten darin vertieft.“

Das gilt auch für die Lindbergh-Fotografie. Mode war für den Philosophen und Essayisten Benjamin der Inbegriff der Modernität und Pulsmesser für den aktuellen Zeitgeist. „Vor diesem Hintergrund erscheint Lindberghs umfangreiches Werk als bedeutendes Kulturgut, ganz im Sinne Benjamins Paradigma der Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft“, schreibt der Kunst- und Fotografie-Experte Martin Harrison in seinem Vorwort zum zur Dokumentation der 70-jährigen Geschichte des Modehauses Dior im Jahre 2018. Auch Christian Diors erste Modenschau in Paris 1947 ließe sich nach Martin Harrison in Bezug auf Walter Benjamin analysieren, denn auch er studierte das Verschwimmen der Grenzen zwischen Haute Couture und Prêt-à-porter im 20. Jahrhundert. Benjamin nahm sich allerdings 1940 das Leben – lange vor der Karriere von Dior.

Auch Peter Lindbergh und Christian Dior haben sich nie getroffen. Als der Pariser Couturier 1957 starb, war Lindbergh gerade einmal zwölf Jahre alt. Beide hatten jedoch ein sicheres Gespür für Schönheit und eine ähnliche Haltung gegenüber Frauen. Sie wollten das Weibliche so natürlich wie möglich zeigen. Eine von Diors Grundregeln lautete: "Stil beruht auf Schlichtheit, gutem Geschmack und Pflege, und all das kostet kein Geld." All das galt auch für die Arbeit von Lindbergh.

Seine Idee bestand darin, in den Straßen New Yorks, wo es „am härtesten zugeht“ und sich die größten Gegensätze zeigen, achtzig Kleider zu fotografieren, die beispielhaft für die Entwicklung der Marke stehen. Dazu mussten mehr als hundert Kostüme aus dem Dior-Museum nach Manhattan gebracht werden. Neben den Originalen von Christian Dior wurden auch die Entwürfe seiner Nachfolger über den Atlantik gebracht. Auch wenn die Vorbereitungen für das letzte große Lindbergh-Projekt waren, so erfolgte die Umsetzung doch leise und unaufgeregt. Lindbergh fotografierte vieles im Reportage-Stil, häufig im für ihn typischen Schwarz-Weiß, vor allem Straßenszenen, teilweise mit Bewegungsunschärfe. Ergänzt wird die Serie durch Archivmaterial aus Auftragsarbeiten für Dior aus den Jahren 1988 bis 2016.

Auf allen Produktionsstufen arbeitete Lind eng mit dem TASCHEN Verlag zusammen. Band eins enthält 165 bislang unveröffentlichte Bilder, dazu eine Einführung von Martin Harrison. Band zwei würdigt Lindberghs langjährige Verbundenheit mit dem Pariser Modehaus DIOR. Dafür stellte er mehr als 100 Fotografien zusammen, von Haute Couture bis zu Herren- und Damenkonfektionen. Die Gestaltung der Bände übernahm Lindberghs langjähriger Artdirector und Freund Juan Gatti.

Weiterführende Informationen:

Im Kunstpalast in Düsseldorf ist vom 05. Februar bis 01. Juni 2020 die Ausstellung „Peter Lindbergh: Untold Stories aus 40 Jahren Modefotografie“ zu sehen.

Peter Lindbergh, Martin Harrison: Haute Couture trifft Times Square. Kultkleider von DIOR, fotografiert von Peter Lindbergh (Deutsch, Englisch, Französisch). TASCHEN Verlag, Köln 2019.

Nicole Simon: Wirklichkeit in Bildern. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018, S. 275-303.

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Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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