Lieschen Neumann will Karriere machen …
UHU – ein neuer Vogel im Blätterwald
Der „UHU“ war eine von Oktober 1924 bis September 1934 im Berliner Ullstein Verlag erschienene Monats- und Kulturzeitschrift im 17,5 x 24 cm-Format. Der Prototyp dieses originellen und witzigen Massenmagazins der Weimarer Republik war dick wie ein Buch, „gescheit und amüsant“, wie der Verlag in seinen Anzeigen verkündete. Auch das Ullstein-Signet, die Eule, wurde werbewirksam in Szene gesetzt. Als Chefredakteur fungierte zunächst ein Kollektiv unter dem Sammelpseudonym „Peter Pfeffer“ (zwischen 1924 und 1926), später dann die Chefredakteure Friedrich Kroner (1926-1934) und Cläre With (1934). Die Redaktion beschäftigte namhafte Autoren und Fotografen. Zu den bekanntesten Autoren gehörten Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Vicki Baum, Colette, aber auch Gastautoren wie der dänische Filmstar Asta Nielsen oder Albert Einstein. Auch Zeichnungen und Karikaturen hatten von Beginn an einen hohen Stellenwert. Walter Trier, bekannt als Illustrator der Kinderbücher von Erich Kästner, schuf ebenfalls viele Titelzeichnungen für den „UHU“. Enthalten in diesem Zeitgeist-Kaleidoskop waren auch populär-soziologische Umfragen und Statistiken zu aktuellen Zeitthemen (neue Geschlechterverhältnisse, Vorzüge und Nachteile weiblicher Mitarbeit im Beruf, neue Medien, amerikanische Einflüsse, pan-europäische Utopien) sowie Erlebnisberichte aus dem Alltag, Fotoromane aus dem Arbeits- und Freizeitleben.
Von September 1929 bis April 1933 (mit einer längeren Pause dazwischen) veröffentlichte Erich Kästner regelmäßig Gedichte im UHU.
Erich Kästner wäre am 23. Februar 125 Jahre alt geworden; sein Todestag jährte sich am 29. Juli zum 50. Mal. Seine Texte für den UHU waren Auftragsarbeiten. Die erste Auftragsarbeit bestand darin, der Zeichnung „In der Seitenstraße“ des Pressezeichners Willibald Kran ein Gedicht zu unterlegen und das nächtliche Geschehen eines verliebten Paares zwischen Abschied und Heimweg in Verse zu kleiden:
“Es sieht fast aus, als wollten wir wen meucheln.
Dabei ist unsere Absicht gar nicht bös.
Ein bißchen küssen… Und bißchen streicheln.
Ach wer sich liebt, den Macht Berlin nervös.“
Einige Monate später sollte er eine Serie von zwölf Porträt- und Modeaufnahmen der Berliner Fotokünstlerin Yva mit Versen untertiteln. Statt Glamour widmete er sich dem Scheindasein junger Damen vor der Kamera:
„Sie sitzen ohne Appetit zu Haus.
Sie können nicht mehr, nur noch künstlich, lachen.
Da ziehen sie sich an und gehen aus
Und wollen eiligst Karriere machen.“
Die Zeilen erinnern fast hundert Jahre später auch an das Scheindasein mancher Influencerinnen. Remo Hug hat zwölf ausgewählte UHU-Fotogedichte von Kästner (darunter auch dieses) unter dem Titel „Lieschen Neumann will Karriere machen“ beim Atrium Verlag herausgegeben. Die Gedichte werden hier erstmals zusammen veröffentlicht und mit den jeweiligen Illustrationen in der Abfolge präsentiert, wie sie in der Zeitschrift UHU veröffentlicht wurden. Remo Hug verweist auch darauf, dass Erich Kästners Mutter Ida ihren Jungen gedrängt haben muss, seine Gedichte endlich im UHU zu publizieren. Kästner lieferte auch Beiträge zu Zeichnungen, darunter auch das 33-teilige Polit-Kartenspiel Reichtags-Rommé, mit dem die Reichstagswahl 1930 karikiert wurde. Die Karten wurden so gedruckt, dass sie ausgeschnitten und benutzt werden konnten. Der NSDAP gelang bei den Wahlen mit 6,4 Millionen Stimmen der Durchbruch. Sie wurde zweitstärkste Fraktion und zog in den Reichstag mit 107 (vorher 12) Abgeordneten ein. Für Kästner war dies ein klares Zeichen dafür, dass die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten war. Sein letzter Beitrag für den UHU erschien am 7. April 1933. Fünf Wochen später, am 10. Mai 1933, wurden auch seine Bücher öffentlich verbrannt.
Wie brüchig das Jahrzehnt der ersten deutschen Demokratie war, zeigt dieses Buch, das zugleich dazu einlädt, den damals neuen Vogel im Blätterwald (UHU) aus heutiger Sicht zu betrachten. Die 10 Jahrgänge, 1924 bis 1934 (120 Ausgaben), sind hier vollständig digitalisiert.
Das Buch:
- Erich Kästner: Lieschen Neumann will Karriere machen. Die UHU-Gedichte. Herausgegeben von Remo Hug. Atrium-Verlag, Zürich 2024.
Weiterführende Informationen:
- Heiße Zeiten: Berlin unterm Brennglas
- „Die Vergangenheit biegt um die Ecke“: Zur Aktualität von Erich Kästner
- Historisch und kulturell verwandt: Sind die Zwanziger Jahre die Schwester unserer Zeit?
- Erich Kästner: Das ist Berlin! Erich Kästner und seine Stadt 1927-1933. Hg. von Sylvia List. Atrium Verlag, Zürich 2023.
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