Lust am Laufen: Warum die Wahrheit auf der Strecke liegt
Neben Fußball und Fitness ist Laufen der wichtigste Umsatzbringer der bekanntesten Sportmarken. Unsere Leistungsgesellschaft wird im Laufen auf den Punkt gebracht, lautet die Botschaft des Buches von Matthias Politycki: „42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken“. Darin fragt er: Was geht in uns vor, wenn wir laufen, was denken wir dabei und danach und darüber? Was treibt uns an und lässt uns nicht mehr los, was lieben oder hassen wir am Laufen, und was erzählt das über uns selbst? Für den passionierten Marathonläufer und Autor gehören Laufen und Schreiben zusammen, weil es ihm Selbstbewusstsein gibt - aus Angst vor leerer Zeit, weil ihm Nichtstun schwerfällt, und es seinem Leben Struktur und Sicherheit gibt.
Sein Buch gibt auch Auskunft über die Bewegung einer Gesellschaft, die von Flaneuren und Läufern gleichzeitig geprägt ist. „War dieser der Inbegriff der beginnenden Moderne, so ist der Läufer vielleicht der Inbegriff der Postmoderne“, schreibt er. Es ist kein Zufall, dass der Begriff des Flaneurs heute wieder eine Renaissance erlebt. Ursprünglich bedeutet „Flâneur“ Müßiggänger und wurde im neunzehnten Jahrhundert zur Beschreibung eines eleganten Typs des Spaziergängers verwandt, der ziellos und ohne Eile durch die Pariser Passagen schlenderte, beobachtete und wartete. Es gibt Momente, in denen sich Flaneure und Läufer treffen, in denen vieles von dem, was streng geteilt schien, wieder zusammenfließt. Die Langeweile ist dafür eine wichtige Brücke. Erst, wenn auch „all das Langweilige am Laufen“ akzeptiert wird, sei man für den Moment bereit, „wo die Ödnis der Strecke aufreißt und das Glück am Wegesrand freigibt. Wer in einem akustischen Tunnel läuft und den Blick nur geradeaus hält, wird viele solcher Momente verpassen. Man muß beim Laufen schon auch latent Lust haben auf die Welt und nicht von vornherein alles wegfiltern, was linksrechts der Strecke in Erscheinung treten könnte.“
Auch das Erleben des Flow-Zustands ist für Flaneure und Läufer mit ähnlichen Erfahrungen und Gefühlen verbunden: Als Matthias Politycki einen Wanderweg bergab lief, ging alles wie von selbst. Dann hörte er sich plötzlich singen und war selbstvergessen wie ein Kind. Erst Wochen später erfuhr er, dass er ein „Runner´s High“ erlebt hat. Auch wenn er sich wissenschaftlich erklären lässt (Endorphinausschüttung nach extremer Belastung), so erlebte er den Eintritt in den anderen Zustand als eine Art Erleuchtung.
Seit der Aufklärung – das zeigt auch sein Buch – laufen wir durch eine zunehmend entgötterte Welt. Umso intensiver genießen wir das Durchatmen, wenn der „permanente Daseinsrealismus“ wenigstens in solch kostbaren „Auszeiten“ ins Transzendente kippt. „So eile denn zufrieden!“ schreibt Friedrich Hölderlin im Jahr 1800. Minimalistischer lässt sich das kluge Zusammenspiel von Ruhe und Unruhe, von Marathonläufer und Flaneur am „Ziel“ eines Textes nicht ausdrücken.
Die Natur ist für viele Menschen heute ein Gegenpol zu ihrer hochtechnisierten Lebenswelt geworden. So finden auch immer mehr Sportangebote im Freien, in der Natur, statt (Yoga am Wasser, Laufgruppen durch den Wald). In der Natur ist der Mensch bei sich selbst. Davon erzählt der Sportjournalist und Autor Ronald Reng in seinem Buch “Warum wir laufen”: Mit 13 Jahren lernte er laufen, und schon nach den ersten Schritten beschloss er, niemals mehr stehen zu bleiben. Heute, mit Ende Vierzig, ist er in seiner Fantasie noch immer der junge Mittelstreckenläufer. Laufen gab ihm immer ein Gefühl von Wachheit: „Körper und Geist funktionierten parallel auf Hochtouren. Ich lief, schwebte dabei in diesem fantastischen Zustand körperlicher Anstrengungslosigkeit, den man nur bei voller Fitness erlebt, und gleichzeitig strömten die Gedanken, blitzte der Geist.“ Mit dem Laufen verbindet er aber auch Leiden, Schmerz, Sucht, Verführung zum Extremen und den Irrsinn, „dass man all diesen unangenehmen Erfahrungen etwas Erhabenes abgewinnt.“
Mit Matthias Politycki verbindet ihn das Schreiben: Er verfasste einen gesamten Roman beim Laufen. 2005 arbeitete er an einer fiktiven Erzählung aus der Welt der Londoner Investmentbanker, als ihm eines Abends beim Laufen im Park das gesamte nächste Kapitel „zuflog“. Den Ehrgeiz, einen Marathon zu bestreiten, hat er allerdings nicht: „Ich jage auch nicht der ewigen Jugend hinterher und bilde mir ein, das Laufen könnte sie mir zurückbringen.“ Vielmehr möchte er einfach schauen, ob er heute dieses schöne Gefühl vom Laufen wiederfinden kann. Mit seinem Buch möchte er möglichst genau herausfinden, warum so viele Menschen das Laufen lieben. Für Ronald Reng ist Laufen vor allem eine einsame Tätigkeit, er liebt das Alleinsein beim Laufen und die Monotonie: „Das Gefühl, jede noch so kleine Terrainveränderung auf der Strecke zu kennen, entspannt mich.“
Einen wichtigen Teil des Buches widmet er Teresa Enke, der Witwe des Torwarts Robert Enke, der an Depressionen litt und sich das Leben nahm. Laufen ordnet ihren Tag: „Es ist etwas, was sie tun muss, und etwas tun zu müssen ist in den bleiernen Tagen ein Segen. Sie braucht ein Ziel, etwas, auf das sie vorausschauen, hinarbeiten kann.“ Natürlich lässt sich durch Laufen nicht der Tod ihres Ehemannes und der Verlust ihres Kindes „verarbeiten“, aber das Laufen hat für sie etwas Reinigendes. Es war für sie in schwierigen Zeiten Sucht und Therapie zugleich.
„Einen Traum zu erreichen, wenn auch nur für einen Tag, hält ein Leben lang an, aber anderen zu helfen, Hindernisse zu überwinden, bedeutet so viel mehr.“ Rosie Swale Pope, 2017
Rosie Swale Pope wurde 1946 in Davos in der Schweiz geboren und ist seit ihrer Kindheit eine aktive Sportlerin. Sie segelte über die Weltmeere, überquerte den Atlantik per Boot und unternahm erfolgreich zahlreiche Marathonläufe, bevor sie sich mit 57 Jahren die Welt in ihren Laufschuhen umrundete. Auch heute noch ist sie als Läuferin unterwegs und beendete 2017 einen Lauf von New York nach San Francisco. Als ihr Mann Clive an Prostatakrebs stirbt, bricht für sie eine Welt zusammen - sie beschließt zu handeln und startet einen Charity-Lauf um die ganze Welt. Vernetzt mit zahlreichen Hilfsorganisationen, macht sie dabei auf die Bedeutung der Krebsvorsorge aufmerksam. 20.000 Meilen läuft sie: durch Europa, Russland, Asien und Nordamerika. Nach 5 Jahren, 29 Heiratsanträgen und 53 Paar zerschlissenen Schuhen kommt sie wieder in ihre Heimat Wales zurück.
Auch sie hat wie Matthias Politicky und Ronald Reng mehrere Bücher geschrieben. Schreiben ist für sie ein so wichtiges Bedürfnis wie das Laufen: „Schreiben ist wie eine Liebesbeziehung – es kann auch Angst machen und schwierig sein, gerade weil es so wichtig für mich ist.“ So wie in Sibirien, als sie mit zitternden Fingern auf ein Blatt Papier im Mondlicht schrieb, nachdem ein Wolf seinen Kopf in ihr Zelt gesteckt hatte. Sie versuchte verzweifelt aufzuschreiben, was passiert war und wie sie sich gerade fühlte. Der Wolf brachte ihr bei, dass sich immer die Worte für das finden lassen, „was wir leidenschaftlich gern mit anderen teilen möchten.“ Wie bei Reng spielt auch die Natur für sie eine wichtige Rolle: Sie lehrte sie, dass zum Sport weite Horizonte gehören, und dass sich mit Rückschlägen besser umgehen lässt, wenn man seine Träume nicht aufgibt. Schon als Kind liebte sie das Laufen - vor allem über die endlosen Wiesen nahe ihrem irischen Haus.
Beim Laufen sieht sie die Landschaft an sich vorbeiziehen. „In stärker bewohnten Gebieten kann ich dabei auch den Menschen und ihrem ganz normalen Alltag zusehen und mich mit ihnen unterhalten. Sie sprechen mich oft wegen dem hübschen, kleinen Wagen an, den ich beim Laufen immer hinter mir herziehe und der sozusagen mein Zuhause auf Rädern ist.“ Da sie für ihren Lauf um die Welt nur ein kleines Budget hatte, plante sie für ihre Route über möglichst viel Landmasse, die sie als Läuferin ohne Ski, Spezialausrüstung oder viele Flugstrecken zurücklegen konnte. Sie hatte nichts außer ihrer warmen Kleidung dabei, Laufschuhen und Essen, und einem paar Schneeschuhe. Ihr Zuhause ist mittlerweile die ganze Welt. Wann immer sie einen Rückschlag erlebt, tut sie dafür eine schöne Sache mehr. Laufen und Charity-Arbeit gehören für sie zusammen.
Weiterführende Literatur:
Ronald Reng: Warum wir laufen. Piper Verlag GmbH, München 2018.
Matthias Politycki: 42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2015.
Rosie Swale Pope: Mein längster Lauf. 5 Jahre. 53 Paar Schuhe. 29 Heiratsanträge. Einmal um die Welt. Eden Books, Hamburg 2018.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.