Macht und Ohnmacht: Was den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gefährdet
Eine treffende Definition von Macht stammt vom Soziologen Max Weber, der sie als die Fähigkeit bezeichnete, die eigenen Ziele auch gegen Widerstand durchzusetzen. Bestimmte Mitglieder einer Gemeinschaft sind auf Grund ihres Status in der Lage, Einfluss auf das Verhalten der anderen auszuüben und dadurch die Richtung für alle zu bestimmen. Es gibt allerdings verschiedene Arten von Machtnutzung: Sie ist einerseits nötig, um Regeln aufzustellen und nachhaltig gestaltend zu wirken, andererseits kann sie auch gefährlich werden, wenn sie beispielsweise missbraucht wird.
Zu den negativen Ausprägungen von Macht gehören:
- Aufwertung der eigenen Person (Distanzierungsprozess gegenüber anderen)
- Ausspielen der Machtüberlegenheit
- Verlust der Empathie und Einsichtsfähigkeit
- rücksichtslose Durchsetzung eigener Interessen (Macht als Einwirkungspotenzial)
- Selbstüberschätzung
- Vorteilsbeschaffung auf Kosten der Gemeinschaft (Machtmissbrauch)
- Verstöße gegen geltende Gesetze und Normen
- Verlust des Realitätskontakts.
Um überhaupt Macht zu erlangen, braucht es entsprechende Voraussetzungen:
- Autorität
- Charisma (überlegte Rhetorik und geschickten Inszenierung)
- physische Dominanz und Stärke
- Durchsetzungsvermögen
- Kommunikationsfähigkeit
- mangelnde Lern- und Einsichtsfähigkeit
- soziale Intelligenz psychologisches Geschick.
- Wille zur Macht.
Vor allem Körperbau und -größe sowie energisches Auftreten beeindrucken den Homo sapiens heute noch genauso wie in der Steinzeit.
Zahlreiche Experimente belegen, dass schon in den ersten Sekunden einer Begegnung auf äußeren Autoritätsmerkmale geachtet wird. US-Psychologen haben nachgewiesen, dass große Menschen beruflich erfolgreicher sind und bei Wahlen dynamische Kandidaten bevorzugt werden. Männern verschafft höheres Alter einen Autoritätsbonus, Frauen profitieren von kürzerem Haar. Auch eine kräftige Stimme und eine gepflegte Sprache seien von Vorteil. Bei den Pavianen ist es ähnlich: Für das junge Männchen zählt, „ob es muskulöser, gesünder, aggressiver als andere ist“, sagt Robert M. Sapolsky, Neurobiologe aus Stanford, der Aufstieg und Fall vieler autoritärer Charaktere erlebte. Seine Einsichten erlangte er bei einer Pavianhorde in Kenia, wo er selbst ein anerkanntes Mitglied der „Affenbande“ wurde. In seiner Autobiografie „Mein Leben als Pavian“ schildert er ihre Machtspiele und die Rollenverteilung über viele Affengenerationen hinweg. Als soziale Wesen legen auch sie eine Hackordnung fest: Nach oben kommt nur, wer Autorität hat, ohne die keine Pavianhorde geleitet werden kann. Sobald dort das Autoritätsgefüge in Unordnung gerät, geht der Stresspegel bei allen Beteiligten aller Ränge in die Höhe. Ähnliches wurde auch beim Menschen beobachtet. Als er am Ende der letzten Eiszeit die Landwirtschaft erfand, entstanden immer größere Gruppen. Der Zwang, vorauszuplanen, brachte „legitimierte Autoritäten“ hervor. Doch nur mit Muskeln kann Autorität und Status nicht gefestigt werden, weil sonst Verschwörung droht. Schon ein Leitaffe bedarf subtiler „Mittel der Geheimdiplomatie“, zu denen ihn Intelligenz und Intuition befähigen, deren Fundament gesammeltes Erfahrungswissen ist. Macht ist heute in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft mit Weisungsbefugnis, hohem Einkommen, Ansehen und „nützlichen“ Kontakten verbunden. Klugheit allein hilft nicht.
Leider drängt Macht nach immer mehr Macht und Reichtum.
Diese Dynamik gefährdet den Zusammenhalt einer Gesellschaft und droht sie zu zerstören. Dies ist eine der frühesten Einsichten der Zivilisationsgeschichte. Macht bedarf deshalb stets einer robusten Einhegung. Das bedeutendste Schutzinstrument für eine Zivilisierung von Macht stellt die egalitäre Leitidee der Demokratie dar. Der emeritierte Psychologieprofessor Rainer Mausfeld zeigt in seinem Buch „Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren“ entlang historischer Linien auf, dass der Begriff der Demokratie seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt worden ist und heute als Demokratierhetorik für Herrschaftszwecke missbraucht wird. Dadurch ist es in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Entzivilisierung von Macht gekommen, deren psychische, gesellschaftliche und ökologische Auswirkungen die menschliche Zivilisation insgesamt bedrohen. Gegen die Demokratie wurde häufig der Einwand erhoben, dass ihr ein zu positives Menschenbild zugrunde liege und sie moralisch und intellektuell zu hohe Anforderungen an den Menschen stelle. Mausfeld zeigt, dass dieser Einwand empirisch unbegründet ist. Er analysiert aktuelle Entwicklungen in der Gesellschaft (z.B. Klimaschutzbewegung, Wiederaufstieg des Populismus, Nationalismus und rechtsextreme Aggressivität) und verweist darauf, dass wir vollständig vergessen hätten, was Demokratie eigentlich bedeutet. “Wir haben uns an ein Surrogat, an die Illusion von Demokratie so gewöhnt, dass wir schon das Gedächtnis verloren haben, worum es eigentlich bei Demokratie geht. Demokratie bedeutet nämlich, dass diejenigen, die von irgendwelchen Entscheidungen vital betroffen sind, auch einen angemessenen Anteil an diesen Entscheidungen haben.” Einer seiner Hauptkritikpunkte ist, dass die wichtigsten Grundprinzipien der Demokratie aktuell nicht gelebt werden (Gewaltenteilung).
Er beschäftigt sich mit der Darstellung von „Wahrheit“ in den Medien und deren Auswirkung auf die politische und gesellschaftliche Diskussion.
Kritisiert werden allem die Massenmedien, weil sie seiner Ansicht nach viel zu häufig subjektiv und im Interesse bestimmter Gruppen berichten. Sprache sieht er als eines der wichtigsten Herrschaftsinstrumente, mit der sich vor allem in der Demokratie die Stabilität von Machtverhältnissen sichern lasse. Er verweist aber auch auf nachhaltige Modelle, wie zum Beispiel dem der Gemeinwohlökonomie. Außerdem solle jeder bei sich selbst anfangen und wirkliche Demokratie leben. Mausfeld demonstriert aber auch, warum der Mensch als das „korrumpierbare Tier“ existiert, denn das politische System ist korrupt. Es wird dominiert von einer machtbesessenen Elite, die darauf aus ist, den Bürger unwissend und manipulierbar zu halten. Politische Wahlen dienen nicht dazu, das Volk an der Macht zu beteiligen, sondern dies nur vorzutäuschen. Bereits vor der Eskalation der Finanzkrise, im Januar 2008, erinnerte der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück an die Verantwortung der Eliten in der Wirtschaft für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft: „Eliten haben eine Vorbildfunktion. Wenn sie sich vorbildlich verhalten, werden sie viele Nachahmerinnen und Nachahmer finden, die ihrem guten Beispiel folgen. Wenn Eliten aber ihre Vorbildfunktion missachten, wenn sie die Regeln und jedes Empfinden von Anstand, Gerechtigkeit und Moral verletzen, darf es niemanden wundern, wenn viele Menschen den Eindruck gewinnen, dass man auch mit Egoismus erfolgreich durchs Leben kommt.“
Um sich von Korruption zu befreien, braucht es auch die Einsicht, dass Lernen heute akut notwendig ist, um kluge und richtige Entscheidungen zu treffen. Dafür werden umfassend gebildete, vorausschauend denkende und verantwortlich handelnde Persönlichkeiten benötigt, die zugleich mit positiven Wirkungen von Macht verbunden sind:
- Fähigkeit zum Fehlereingeständnis
- unverzerrte Informationsverarbeitungsprozesse (Förderung der Einflussnahme auf allen Ebenen)
- Impulskontrolle
- die richtige Mischung aus Kompetenz und Zugewandtheit, aus Auftreten und Einbinden
- Schutz und Förderung anderer (positive Einflussnahme)
- soziale Intelligenz und psychologisches Geschick
- Wertschätzungskompetenz
- Selbstreflexion.
Es reicht nicht aus, Mitarbeitende auf eine Verhaltensrichtlinie festzulegen und zu hoffen, dass es funktioniert.
Noch wichtiger ist immer das eigene Wissen und Gewissen. „Wer sich als Unternehmer der Nachhaltigkeit verschrieben hat, wird immer wieder auf diese innere Stimme geführt, die als Bauchgefühl eine Orientierung in einer gemeinsamen Welt darstellt, in der Verstand und Gefühl, Sein und Bewusstsein zusammengehören“, sagt der Personalexperte, Autor und Unternehmer Werner Neumüller. In seinem Herausgeberband „Bauchgefühl im Management“ heißt es: Wer das erkennt, ist auch in der Lage, "richtige Entscheidungen zu treffen und sich der Folgen seines Handelns bewusst zu sein." In seiner Unternehmensgruppe möchte er Mitarbeitende motivieren, trösten, begleiten, unterstützen, fördern und fordern und zur Selbstständigkeit ermutigen. Alle sollen das Tun der anderen sowie sein Handeln als Vorgesetzter verstehen. Nur auf diese Weise entsteht Glaubwürdigkeit (die Einheit von Denken, Reden und Handeln), die gleichzeitig Grundlage von Vertrauen ist. Er ist davon überzeugt, dass es heute mehr als je zuvor darauf ankommt, das individuelle und gemeinsame Wissen durch einen wechselseitigen Lernprozess zugänglich zu machen und umfassend zu nutzen – im Bewusstsein, dass wirtschaftlich nichts sinnvoll ist, wenn seine Langzeitwirkung nicht berücksichtigt wird. In einem nachhaltig ausgerichteten Unternehmenskontext umfasst Lernen vor allem die Integration von Wertorientierungen in die Managementprozesse und in die Unternehmenskultur, denn Unternehmenserfolg hängt heute nicht mehr ausschließlich von ökonomischen Faktoren ab. Das Buch von Rainer Mausfeld unterstützt uns darin, all diese Zusammenhänge besser einzuordnen und die Gegenwart richtig zu meistern: „Jedes gezielte Handeln muss freilich mit einem Verstehen der Situation einhergehen, die es zu bewältigen gilt.“
Das Buch:
- Rainer Mausfeld: Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren. Westend Verlag, Neu-Isenburg 2023.
Weiterführende Informationen:
- Korruption! Warum ihre Aufhebung ein Ernstfall des Lernens ist
- Rache schafft Unrecht: Warum wir ein Bewusstsein für das Gefühl von Kränkungen brauchen
- Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
- Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.
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