Dr. Alexandra Hildebrandt

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für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Mehr Leben statt mehr Jahre: Was am Ende wirklich zählt

Dr. Alexandra Hildebrandt

Niemand von uns kann dem Tod entkommen, doch viele Menschen haben noch nie über ihn nachgedacht, weil sie es nicht aushalten, mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert zu werden. Wir sollten uns nicht nur fragen, wie wir leben, sondern auch, wie wir sterben wollen. Die moderne Palliativmedizin hilft nicht beim Sterben, sondern beim Leben mit der Krankheit – auch auf dem Weg zu einem würdevollen Tod. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Der Psalm 90 (12) aus der Bibel ist für den Anästhesisten und niedergelassenen Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns aufgrund der Übertherapie am Lebensende von dramatischer Aktualität. Er ist stellvertretender Sprecher der Landesvertretung NRW der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und war Sachverständiger im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags zur Sterbehilfe-Debatte. In seinem Buch „Patient ohne Verfügung“ berichtet er aus seiner jahrelangen Erfahrung von zahlreichen Fällen, in denen schwer Kranke mit den Mitteln der Apparatemedizin behandelt werden, obwohl kein Therapieerfolg mehr zu erwarten ist.

Finanzieller Profit steht im Fokus des Interesses vieler Ärzte und Kliniken.

In den Krankenhäusern spricht man nicht von guten Gewinnen, sondern von „positiven Deckungsbeitrag“ der Krebspatienten, sagt Thöns. Sein Appell lautet deshalb: Wir müssen mehr in den Ausbau der Palliativmedizin investieren. Doch leider schafft das Gesundheitssystem viele Fehlanreize, „um Apparatemedizin anzuwenden, immer neue Chemotherapien einzusetzen und große Eingriffe durchzuführen.“ Oft richtet sich das Krankenhaushonorar nach den durchgeführten Prozeduren. „Viele Chefärzte werden durch Bonusverträge direkt an dem lukrativen Geschäft beteiligt.“ Thöns weist anhand zahlreicher Studien nach, dass bis zur Hälfte aller Sterbenskranken Behandlungen wie Chemotherapie, Bestrahlung oder Antibiotika erhalten, die ihnen nichts bringen. Bis zu 81 Prozent der Patienten glauben, dass die medikamentöse Behandlung reale Heilungschancen bietet. „Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass mehr als 60 Prozent der Krebskranken noch in den letzten zwei Monaten ihres Lebens chemotherapiert wurden.“ Doch diese Maßnahmein der allerletzten Lebensphasen ergibt keinen Sinn für den Patienten, so der Mediziner.

Bei Bestrahlung ohne Heilungsziel (palliative Behandlung) verweist er unter Bezugnahme auf einen amerikanischen Radiologen darauf, nicht mehrfach zu bestrahlen, sondern eine einzige hohe Einzeldosis zu verabreichen. Doch die ärztliche Gebührenverordnung in Deutschland verleitet dazu, die Bestrahlungen immer wieder durchzuführen:

„Je mehr Termine, desto mehr Geld.“

Auch wird bei Krebspatienten die lebensverlängernde und lebensverbessernde Palliativversorgung kaum eingesetzt. Dabei müssten sie alle Betroffenen bei der Diagnose „unheilbar“ automatisch erhalten. Das wird zwar seit Jahren international gefordert, wird aber nicht umgesetzt. So kommt ein Patient mit unerträglichen Schmerzen in die Notaufnahme, wo Krebs im letzten Stadium festgestellt wird: „Sie kommen zu spät.“ Der Patient und seine Angehörigen sind so schockiert und verängstigt, dass klares Denken nicht möglich ist. Sie vertrauen blind den Ärzten. Nach einer Woche Untersuchungen im Krankenhaus wird sofort mit der Chemo begonnen. Dazu Bestrahlungen über Wochen. Es fehlt dem Patienten und den Angehörigen die Zeit, sich eine Zweitmeinung einzuholen, denn auch die bürokratischen Angelegenheiten dominieren nun das Leben (Antrag Schwerbehindertenausweis, Arzt- und Krankenhausrechnungen, Korrespondenz mit der Krankenkasse, Apothekengänge etc.).

In einem einzigen Arztgespräch erfährt die Familie, dass der Krebs nur noch palliativ behandelt werden kann. Doch was das konkret bedeutet, und welche Alternativen es gibt, wird nicht angesprochen. Da Arztgespräche immer nur im Beisein des Kranken stattfinden dürfen, traut sich niemand in seiner Anwesenheit zu fragen, wie die Lebenschancen stehen. Nach den Vorteilen einer frühzeitigen Palliativversorgung (nach Thöns: Verbesserung der Lebensqualität, Stimmung, Krankheitsverständnis, Vorsorge und Überleben, weniger Krankenhaufenthalte und Notarzteinsätze) wird nicht gefragt, weil sich zu diesem Zeitpunkt noch niemand damit beschäftigt hat.

Das Beispiel bestätigt die Erfahrung von Matthias Thöns: Wer als Patient schlecht aufgeklärt ist, keine Behandlungsalternativen kennt und Schmerzen hat, nimmt die Behandlung, die ihm sein behandelnder Arzt vorgibt. Aus Hilflosigkeit und Angst akzeptiert er nahezu alles – auch eine sinnlose Übertherapie. Der gleiche Mensch würde allerdings nie auf die Idee kommen, in ein Autohaus zu gehen und den Autoverkäufer ein neues Kraftfahrzeug allein aussuchen und zusammenstellen zu lassen. „Man holt sich Prospekte, informiert sich, vergleicht Angebote: Warum sind wir bei unseren Autos sorgfältiger als bei unserem Körper?“, fragt Thöns. Der Palliativmediziner verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass 40 Prozent der Patienten, die innerhalb von 30 Tagen nach Beginn ihrer Chemo starben, schwerste Nebenwirkungen erlitten, „bei rund einem Viertel beschleunigte oder verursachte sie sogar den Tod.“

Erst an seinem Sterbetag erhält der beschriebene Patient Morphium, nachdem er Monate schlimmste Schmerzen hatte. Er ließ alles tapfer über sich ergehen und kämpfte für ein paar Jahre Leben – ihm blieb nach der Diagnose allerdings nur ein dreiviertel Jahr. Nach einer Routineuntersuchung ließ man ihn im Krankenhaus, wo er täglich Antibiotika erhielt. Es folgten Blutvergiftung, Lungenentzündung, Organversagen. Er und seine Angehörigen wussten nicht, dass er sterben wird. Der behandelnde Professor sagte zum Patienten in Anwesenheit seiner Frau: „Sie erhalten jetzt Morphium und werden vielleicht nicht mehr aufwachen.“ Der Patient: „Und was heißt das?“ – „Sie befinden sich jetzt im Sterbeprozess.“ Das war's.

Auch an dieser Stelle sei auf das Buch „Patient ohne Verfügung“ verwiesen, in dem kritisiert wird, dass jene, die den Arztberuf begreifen, meistens nicht jene Schulabsolventen sind, „die sich durch besonderes soziales Engagement hervortaten oder durch humanitäre Taten glänzten. Nein, die Direktzulassung winkt nur dem, der ein gutes Abitur hingelegt hat. Bisweilen ist dazu gar ein Notendurchschnitt von 1,0 nötig. Wer das schafft, ist gewiss klug und hat mit Ehrgeiz gebüffelt. Aber benötigen wir im Sprechzimmer, im OP oder am Sterbebett wirklich ein Volk von Strebern?“

Es braucht, um zur Empathie fähig zu sein, Verstand und Bauchgefühl.

Beides finden mündige Patienten eher im Hospiz oder daheim (ambulante Palliativversorgung). Dann ist bei guter Leidenslinderung die letzte Lebensphase meistes auch erfüllend. Viele positive Beispiele finden sich in den Büchern „Letzte Lieder – Sterbende erzählen von der Musik ihres Lebens“ und „Letzte Liebeslieder“ des Autors und Künstlers Stefan Weiller. Er versteht sich als Geschichtensammler und widmet er sich dem Thema Sterben auf ungewöhnliche Weise: Er befragt Menschen in der letzten Lebensphase zur Musik ihres Lebens. Vor einigen Jahren war er als Journalist in einem Hospiz angekündigt. Er sollte dort für eine Zeitung eine Frau zum Interview treffen. Sie litt an Krebs im Endstadium und war gerade erst ins Haus eingezogen. Im Vorfeld fragte er sich: Wie wird es sein im Hospiz? Wie soll man mit einem Menschen reden, der weiß, dass er bald sterben wird? Ist es im Hospiz nicht schrecklich beklemmend und belastend? Liegt über allem der Schatten des Todes? Als er dann die Frau traf, geschah das Unerwartete: Die Tür ging auf, und aus dem Zimmer trällerten mir aus dem Radio sehr laut Cindy und Bert ihr „Immer wieder sonntags“ entgegen. Anschließend war ihm klar, dass das Erlebte in ein größeres Projekt münden muss als in einen einzigen Zeitungsbericht.

Musik ist ein Mittler, um zu den großen Lebensthemen zu gelangen: Wie will ich sterben? War mein Leben sinnlos? Woran glaube ich?

Auch in seinem aktuellen Buch „Letzte Liebeslieder“ erscheint das Hospiz als ein „freundlicher, respektvoller Ort“, in dem die Zeit eine andere Bedeutung gewonnen hat. Viele gehen hier, wie sie gelebt haben – in Dankbarkeit. Das ist nur möglich durch die moderne Palliativmedizin, die das Ziel hat: „Nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zuzuführen.“ (Cicely Saunders)

Weiterführende Informationen:

Patientenverfügung Vorlage

Letzte Begegnungen: Auf dem Weg zu einem würdevollen Tod

Arne Daniles: Wie wollen wir sterben? In: stern (3.4.2014), S. 79-83

Hannah Haberland: Letzte Begegnungen. Eine Palliativärztin erzählt. Eden Books, Berlin 2018.

Matthias Thöns: Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende. Piper Verlag. 3. Aufl., München 2020.

Stefan Weiler: Letzte Liebeslieder. Was Sterbende wirklich über das Leben und die Liebe denken. Edel Books, Hamburg 2020.

Stefan Weiler: Letzte Lieder – Sterbende erzählen von der Musik ihres Lebens. Edel Books, Hamburg 2017.

Wer schreibt hier?

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Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
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