Mensch sein: Eine Existenz im Ausnahmezustand
Von der Evolution für die Zukunft lernen
Der Mensch ist zum Schlimmsten fähig - das erleben wir täglich in dieser von Kriegen, Katastrophen und multiplen Krisen erschütterten Zeit. Aber ist er auch zum Besten fähig? Ja, sagen Evolutionsbiologen genauso wie Archäologen und Moralphilosophen. Der Blick in die Evolutionsgeschichte des Homo sapiens hilft uns, um in der heutigen Welt nicht den Verstand zu verlieren. Viele haben das Gefühl, dass mit dem Leben etwas nicht stimmt. „Du hast dein ganzes Leben lang gespürt, dass mit der Welt was nicht stimmt. Du weißt nicht, was es ist, aber du weißt, es ist da – wie ein Splitter in deinem Verstand, der dich zum Wahnsinn treibt.“ - „Wake up, Neo.“ In ihrem Buch „Mensch sein“ verweisen Carel van Schaik und Kai Michel immer wieder auf dieses Zitat aus dem Filmklassiker „The Matrix“: Im Film wacht Neo auf und erkennt, dass die Welt, in der er lebt, eine Scheinwelt ist. Sein Körper liegt in einem Brutkasten zur Energiegewinnung, und seinen seinen Sinnen wird eine virtuelle Traumwelt präsentiert. Ist es heute nicht ähnlich? Nach Ansicht der Autoren leben wir in einer patriarchalen Matrix, der Patrix, einer „männlich deformierten Realität, die so tut, als sei sie die tatsächliche Wirklichkeit, dabei ist sie nur ein kulturelles Produkt, eine Simulation“.
Carel van Schaik ist Verhaltensforscher, Evolutionsbiologe und emeritierter Professor an der Universität Zürich. Kai Michel ist Historiker, Literaturwissenschaftler und Buchautor. Beide schrieben bereits das „Tagebuch der Menschheit“ zusammen, das sich der Bibel aus evolutionärer Perspektive widmet. Für den Evolutionsbiologen und den Historiker ist das Entscheidende, dass wir uns besser verstehen müssen und klären, was es evolutionär bedeutet, Mensch zu sein. Dafür sei der Blick auf die gesamte menschliche Evolution wichtig. Auch müssen wir das Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen, um das Ganze wieder aus dem Einzelnen zu erklären. In sogenannten Zivilisationen leben wir erst seit circa 5000 Jahren. „Wenn man nun diese 5'000 Jahre Zivilisation auf die 300’000 Jahre der Existenz des Homo sapiens bezieht, entspricht das gerade mal einer Minute von einer kompletten Stunde.“ Wir leben nach Ansicht der Autoren in einem absoluten Ausnahmezustand, halten ihn aber für natürlich. Wenn wir uns nur auf diese kurze Zeitspanne beschränken, entgeht uns, wie der Mensch den größten Teil in seiner Geschichte eigentlich gelebt hat. Als wir vor der neolithischen Revolution in der Jungsteinzeit noch in kleinen Gruppen als Jäger und Sammler lebten, waren wir sehr kooperative und solidarische Wesen. Kooperation war die einzige Lebensversicherung. Zusammen waren alle besser als jeder einzelne. Doch in den letzten 10.000 Jahren entwickelte sich die Vereinzelung immer stärker zu unserem Schicksal. Vor dem Hintergrund der Schaffung einer Gesellschaft, in der alle eine Stimme haben, die möglichst niemanden ausschließt, plädieren sie für eine Rückbesinnung auf unsere „erste Natur“ der Jäger und Sammler, die den Homo sapiens mit sozialen Präferenzen ausgestattet hat. Dazu gehören der Gerechtigkeitssinn, Fürsorge, Liebe, Solidarität, Altruismus sowie der Wunsch, soziale Reputation zu genießen. Aber auch Dankbarkeit und Freundschaft gehören zu unserer ersten Natur.
„Das ist die einzige Profitempfehlung, die aus evolutionärer Perspektive vertretbar erscheint: Investiert in Freundschaften! Und pflegt sie.“
Frauen bildeten weibliche Netzwerke und verschleierten Vaterschaften, indem sie ein vielfältiges Sexualleben praktizierten (beides hielt männliche Dominierungsversuche nachhaltig in Schach). Männer vergewisserten sich männlicher Freundschaften, indem sie Jagdbeute großzügig teilten, womit sie sich Respekt und Anerkennung innerhalb der Gruppe verschafften. Zudem bemühten sie sich um Frauen, indem sie sich als kooperative Lebenspartner einbrachten. Anhand dieser und vieler weiterer Beispiele wird nachgewiesen, dass ein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt tief in uns Menschen verankert ist. Gezeigt wird aber auch, wie sich die große Ungerechtigkeit zwischen Männern und Frauen sowie zwischen wenigen reichen und vielen armen Männern allmählich ausbreitete und verstetigte. Klimaveränderungen führten zum Ackerbau – damit verbunden war, dass sich Arbeitsbelastung und Gesundheit der Frauen enorm verschlechterte. Männer konnten ihr Ansehen nicht mehr durch die Jagd sichern.
„Kriege werden zum Signum der zivilisierten Welt. Dort kann sich die dunkle Seite unserer Freund-Feind-Psychologie auf brutalste Weise austoben.“
Archäologische Funde belegen, auf welch fatale Alternativen sie verfielen: die Jagd auf andere Menschen (Krieg) und das Anhäufen von Besitz (Gier). Verwiesen wird auch darauf, dass die Gier für die Maßlosen zum Wesen der Evolution gehört: „Sie ist gut, sie ist richtig, sie funktioniert! “, lässt Regisseur Oliver Stone in seinem Klassiker „Wall Street“ (1987) den skrupellosen Finanzinvestor Gordon Gekko (gespielt von Michael Douglas) stellvertretend für die Zocker sagen. Zukaufen und Abstoßen sind hier das neue Monopoly. Sie glauben, am Wachstum der Blasenstory teilzunehmen, doch in Wahrheit nehmen sie nur am Zustrom heißer Luft teil. Die biblische Todsünde der Habgier lief im Mittelalter mit dem Beginn der Geldwirtschaft der Sünde des Hochmutes den Rang ab. Da sich die Gierigen der eigenen Verantwortung nicht bewusst sind, können sie auch nicht sorgend Anteil am Anderen nehmen. Ihnen geht es nur darum, für die Vermehrung der Geld- und Warenproduktion sowie für die Generierung des Wachstums zu sorgen. Das Buch ist auch im Kontext der Nachhaltigkeit eine unverzichtbare Quelle: So wird nachgewiesen, dass uns nur die Kultur (die veränderbar ist) retten kann: Sobald Gelerntes zuverlässig an die Vertreter der nächsten Generation weitergegeben wird, sprechen Biologen von Kultur.
Zudem wird gezeigt, was wir aus der ersten Natur des Menschen lernen können.
Auch unsere Intuitionen, das Bauchgefühl, spontane Vorlieben und Gefühlsreaktionen wie Angst oder Ekel gehören dazu. Die erste Natur „meldet sich automatisch, wenn sie getriggert wird“ und gewährleistet ein fast reibungsloses Funktionieren des Menschen in seiner Umwelt. Ohne Bauchgefühl sind wir auch heute nicht handlungsfähig. Neben persönlichen Glaubenssätzen spielt dabei auch die eigene Innen- und Außenwahrnehmung, die sich bis ins hohe Alter weiterentwickeln lässt, eine wichtige Rolle. Im Herausgeberband „Bauchgefühl im Management“ von Werner Neumüller, Personalexperte und Geschäftsführer der NEUMÜLLER Unternehmensgruppe, wird allerdings nachgewiesen, dass heute kaum jemandem beigebracht wird, was zu tun ist, wenn wir z. B. widersprüchliche Informationen haben, aber sofort entscheiden müssen. Dabei ist unser Bauchgefühl – wie aus der Evolutionsgeschichte bekannt - überaus potent für eine schnelle Mustererkennung, weil wir unbewusst viel mehr Daten wahrnehmen und zu Information und gefühltem Wissen verarbeiten als auf bewusstem Weg. Beim Bauchgefühl greift das Unbewusste auf tausendmal mehr Informationen zurück, als sie der Kopf zur Verfügung hat. „Wenn wir unser Bauchgefühl zugunsten der Rationalität aufgeben, geben wir auch ein Stück weit das Menschsein auf“, so Neumüller. Damit zusammen hängt für ihn das Tun. Wo es viele Worte gibt, wird ein Thema oft nicht ernst genommen und das Wesentliche verdeckt. "Schaffe net schwätze", zitiert Neumüller in diesem Zusammenhang immer wieder den Unternehmer Reinhold Würth. Auch die Autoren des Buches „Mensch sein“ betonen: „Taten sprechen lauter als Worte“. Um die aktuellen Probleme und Herausforderungen „anzupacken" und nicht nur darüber zu reden, brauchen wir Menschen, die ans Werk gehen und handeln.
„Einst waren wir dem Menschen ein Mensch. Und das sollten wir in Zukunft wieder sein.“
Das Buch:
- Carel van Schaik und Kai Michel: Mensch sein. Von der Evolution für die Zukunft lernen | Das neue Buch der Spiegel-Bestsellerautoren. Rowohlt Verlag, Reinbek 2023.
Weiterführende Informationen:
- Der lange Blick auf den Menschen
- Bedeutung und Glück der Dankbarkeit
- Geldgier und Profit: Warum wir eine Kultur der Mäßigung brauchen
- Warum sind wir so, wie wir sind?
- Es gibt kein Leben ohne Emotionen
- Die Krise der Welt: Warum Anstand und Bildung auf der Verliererseite sind
- Geschichte ist gut gegen Zukunftsangst: Rückenwind aus der Vergangenheit
- Kooperieren für die Nachhaltigkeit
- Werner Neumüller: Die Grenzen der Rationalität. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
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