Mit Digitalisierung zum Dreiklang der Nachhaltigkeit: Interview mit Dr. Colin von Ettingshausen
Dr. Colin von Ettingshausen, geboren 1971 in Düsseldorf, ist Executive mit mehr als 20 Jahren internationaler Erfahrung in der chemischen Industrie (BASF-Gruppe). Zuletzt war er von 2012 bis Mai 2020 kaufmännischer Geschäftsführer und Arbeitsdirektor der BASF Schwarzheide GmbH. Von 1999 bis 2012 hatte er verschiedene Positionen im Vertrieb für Autoreparaturlacke des BASF Unternehmensbereichs Coatings Solutions mit Stationen in Münster, Johannesburg, Posen, Salzburg und Yokohama inne. Er studierte Betriebswirtschaftslehre in Dortmund und Plymouth (UK) sowie an der International Relations, Politics und Economics in Oxford. Von Ettingshausen ist ehemaliger Leistungssportler. Er erhielt die Silbermedaille im Zweier ohne Steuermann bei den Olympischen Spielen von Barcelona 1992 und war Ruder-Weltmeister im Deutschlandachter in Prag 1993. Heute ist er Mentor in der Wertestiftung der Deutschen Sporthilfe.
Herr von Ettingshausen, Nachhaltigkeit stellt neue Rahmenbedingungen für das Wirtschaften von Unternehmen in der modernen VUCA-World dar. Warum sind Unternehmen, die diesen Paradigmenwechsel erkennen auf dem richtigen Weg?
Nachhaltigkeit ist kein neues Thema, sie wird schon seit Jahren immer dringender und immer wichtiger. Der Handlungsdruck wird nun durch die Corona-Krise weiter verstärkt. Unter Nachhaltigkeit ist der Dreiklang von Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft zu verstehen. Für Unternehmen, die nicht nachhaltig agieren, werden es immer schwieriger, im Markt zu bestehen, weil die Kunden immer mehr Nachhaltigkeit in diesen drei Dimensionen erwarten. Die Digitalisierung bietet Unternehmen das Potenzial diese Erwartungen zu erfüllen.
Wie verändern sich Geschäftsmodelle durch die Digitalisierung?
Digitale Geschäftsmodelle sind automatisierter und transparenter als ihre analogen Counterparts und somit wesentlich besser steuerbar. Fehlerquoten werden verringert, Reaktionszeiten verkürzt, Planungsgenauigkeit verbessert und Mitarbeiter entlastet. Gleichzeitig steigen aber auch die Anforderungen an alle Beteiligten, was speziell bei ungeplanten Abweichungen zu Überforderung führen kann. Lebenslanges Lernen und der Umgang mit Abweichungen, z.B. durch Simulationen, müssen deshalb gefördert und gefordert werden.
Schon vor der Corona-Krise gehörte die Demografie in unserem Land zu den großen Herausforderungen. Wie können sich Unternehmen in Deutschland durch Digitalisierung auf den demografischen Wandel vorbereiten?
Die Digitalisierung ist der Erfolgsfaktor zur Bewältigung des demografischen Wandels. Sie ermöglicht bei den kommenden Rentenabgängen durch Effizienzgewinne die Bewältigung des bestehenden Auftragsvolumens und ist darüber hinaus der Katalysator für zukünftiges Wachstum durch innovative Geschäftsmodelle. Voraussetzung für die Nutzung dieser Potentiale ist ein entsprechendes Qualifizierungs- und Weiterbildungsprogramm zur Sicherung der nötigen Kompetenzen im Unternehmen.
Warum werden Motivation und Eigenverantwortung immer wichtiger, wenn die Arbeitsaufgaben komplexer werden?
Für die Lösung komplexer Sachverhalte reicht das klassische „Control & Command“ nicht mehr aus. In komplexen Situationen muss mit „agilen Arbeitsweisen“ auf wechselnde Anforderungen eigenverantwortlich agiert und reagiert werden können. Ansonsten leidet die Geschwindigkeit der Lösungsfindung und deren Passgenauigkeit auf die Kundenwünsche unter vielschichtigen Abstimmungsrunden und wenig flexiblen Verfahrensanweisungen. Ohne die richtige Motivation wird es aber sowohl bei „Control & Command“ als auch bei „agilen Arbeitsweisen“ schwer, die Kundenbedürfnisse zu erfüllen.
Warum ist die IT bei der Einführung von agilen Arbeitsweisen besonders gefordert?
Der IT kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sie die Infrastruktur für unsere Zusammenarbeit darstellt. Als Plattform ermöglicht und vereinfacht die IT Arbeitsprozesse und unterstützt somit alle Mitarbeiter. Auch beim Wissensmanagement ist die IT erfolgsentscheidend. Die IT beeinflusst außerdem signifikant die Mitarbeiterzufriedenheit und damit die Kundenzufriedenheit.
Die Agenda für eine agilere IT-Funktion muss in Unternehmen mit Leben gefüllt und der Weg zum Ziel mit einem kompetenten Führungsteam angeführt werden. Was braucht es dazu?
Wie bei allen Change-Prozessen ist zu Beginn ein Zielbild darüber nötig, wie eine agile IT-Funktion zukünftig aussehen soll. Dies muss sich aus den Anforderungen der Kunden ableiten. Sobald dieses Bild feststeht, geht es darum, die nötigen Verhaltensweisen vorzuleben und die nötigen Kompetenzen zu schulen. Das Ganze muss umgeben sein von einer IT-Struktur die agiles arbeiten nicht nur zulässt, sondern ausdrücklich verlangt.
Warum wird der Begriff New Work heute so schwammig verwendet?
Der Begriff „New Work“ wird seine Schwammigkeit nie ganz ablegen. Das liegt in der Natur der Sache. Wir Menschen sind es gewohnt in Kontinuitäten zu denken, nicht in Diskontinuitäten. Diskontinuitäten sind aber integraler Teil von New Work. Unserem Wunsch nach Vorhersehbarkeit, Sicherheit, Eindeutigkeit und Linearität wird die Zukunft immer weniger entsprechen. Je mehr wir uns deshalb auf die Schwammigkeit des Begriffes einlassen, desto besser. Für die Weiterentwicklung klassischer Arbeitsstrukturen hin zu flexibleren Arbeitsräumen im Sinne von New Work ist dies extrem wichtig.
Wie sollte Arbeit im digitalen Zeitalter gestaltet werden?
Die Arbeit im digitalen Zeitalter wird wesentlich interdisziplinärer, vielfältiger und vernetzter. Sie wird außerdem flexibler in Zeit und Raum, autonomer in der Entscheidungsfindung und demokratischer in ihrer Führung. Bei der Ausgestaltung müssen die Mitarbeiter als Partner für die kommenden Veränderungen gewonnen werden. Dazu gehören insbesondere die Chancen der Arbeitsgestaltung aber auch die Auswirkungen auf Beschäftigungsstrukturen. Arbeitsrechtliche und arbeitspsychologische Aspekte, Informations- sowie Datenschutz oder wie bereits erwähnt, eine mitarbeiterzentrierte Aus- und Weiterbildung sind ebenfalls zu beachten. Zur Erarbeitung der nötigen Rahmenbedingungen unabdingbar ist die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften.
Wie sieht ein zeitgemäßes Führungsverständnis aus, und wie muss sich die Organisation dafür verändern?
Zeitgemäße Führung vermittelt Sinn und Zweck für die anstehenden Aufgaben, gibt ausreichend Orientierung und schafft die Freiräume, die für eine vertrauensbasierte Zusammenarbeit wichtig sind. Eine positive Haltung bei Herausforderungen, der nötige Optimismus und eine ausgeprägte Kundenorientierung müssen ebenso ständige Begleiter aller Führungskräfte sein. Für jede Organisation bedeutet dies, die bestehenden Freiräume eigeninitiativ und eigenverantwortlich zu nutzen. Einer Lernkultur mit zeitnahen Rückkopplungsschleifen und offenem Feedback kommt dafür eine zentrale Bedeutung zu. Erst dadurch entsteht ein ausgewogenes Verhältnis von „Push“ und „Pull“, das erfolgreiche Organisationen auszeichnet.
Welche Rolle spielt zukünftig die künstliche Intelligenz (KI)?
Die künstliche Intelligenz unterstützt uns, indem sie Freiräume durch Reduktion von Routinetätigkeiten schafft. Sie hilft uns analytisch, indem sie uns neue Erkenntnisse aus Daten liefert, die wir bisher nicht hatten. Sie unterstützt uns auch in kreativer Arbeit mit neuen Vorschlägen aus Datenmustern, die wir bisher nicht kannten. Aus Daten werden durch künstliche Intelligenz neue Inhalte und Informationen. KI dient uns insgesamt darin, uns selbst und unsere Welt noch besser zu verstehen.
Komplexität, an der Manager früher scheiterten, wird heute durch Algorithmen reduziert. Was ändert sich dadurch in der Unternehmensführung?
Im Idealfall bleibt in der Unternehmensführung dann mehr Zeit für die Arbeit an strategischen Themen und an Führungsthemen. Voraussetzung dafür ist eine passende Unternehmenskultur. Einen Algorithmus für gute Führung wird es aber auch zukünftig nicht geben. Hier bleiben wir Menschen weiterhin unverzichtbar.
Mit welchen Instrumenten und Möglichkeiten lernen Fach- und Führungskräfte, die digitale Transformation aktiv zu gestalten?
Zunächst einmal muss allen Beteiligten klar sein, dass es sich bei digitaler Transformation um einen kulturellen Veränderungsprozess handelt, mit neuen Technologien als Katalysator. Die aktive Gestaltung der Unternehmenskultur ist deshalb ein strategischer Wettbewerbsvorteil von Organisationen.
Dazu gehören die Grundsätze von Führung und Zusammenarbeit, Mindset, Überzeugungen oder die Werte des Unternehmens. Als Instrumente stehen klassischen Meeting-Strukturen genauso zur Verfügung wie virtuelle Formen der Zusammenarbeit. Insbesondere die Bildung von Netzwerken wird erleichtert. Dadurch können interne Entscheidungen auf eine möglichst breite Mehrheit gestellt oder Co-Creation mit den Kunden erleichtert werden.
Was macht die Corona-Krise mit dem Thema Nachhaltigkeit? Zahlt das alles am Ende auf Klimaschutz, Gemeinwohl etc. ein, oder kommt sie unter die Räder der Rezession?
Speziell in den heutigen durch Corona geprägten Zeiten gilt es, unser Verständnis über unsere Welt auszubauen und unser Verhalten grundsätzlich zu überdenken. Wir erleben ja derzeit eine Geschwindigkeit und eine Intensität von Veränderungen, die bis vor Kurzem noch undenkbar gewesen wäre. Der Verhaltenswandel der Menschen z.B. in Bereichen der Kommunikation, des Tourismus oder der Mobilität erhöht den Handlungsdruck enorm, ebenso die Möglichkeiten. Wer den Dreiklang der Nachhaltigkeit wirklich ernst meint, transformiert jetzt digital, denn mit Nachhaltigkeit ist es wie mit dem Rudern gegen den Strom, wenn man aufhört, treibt man zurück.