Dr. Alexandra Hildebrandt

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für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Robert Walsers Karriere-Gang: „Ich mag leben, aber ich mag nicht in eine Laufbahn hineinlaufen…“

Dr. Alexandra Hildebrandt

Früher suchte der Flaneur „Schätze“, heute managt er „Input“

1938 wurde der Schriftsteller Ödön von Horváth auf den Pariser Champs-Élysées von einem Ast erschlagen. Er schlenderte durch die Straßen und stellte sich, als ein Gewitter aufzog, unter die Markise eines Theaters, wo ihn der Ast traf. „Mit Horváth stirbt an diesem Tag die Epoche der Kaffeehaus-Bohème. Was der Baum nicht erledigt hat, erledigt wenig später der Krieg, danach sind die Städte anders und die Menschen sowieso“, bemerken Max Scharnigg und Friedemann Karig in ihrem SZ-Beitrag „Flaneur im Netz“ aus dem Jahr 2014. Das aufmerksame Spazieren wurde besonders von Walter Benjamin, Jean Baudrillard, Franz Hessel, Siegfried Kracauer und Georg Simmel zur Kunstform erhoben, dessen Ende das Aufkommen des Automobils markiert, das den Fußgänger ablöste. In ihrem Beitrag beschäftigen sich die SZ-Autoren auch mit der Frage, ob in der digitalen Kultur noch Platz ist für beobachtende Spaziergänger, und ob das, was heute „Surfen“ genannt wird, nicht die perfekte Entsprechung zu dem ist, was die Kreativen bereits einhundert Jahre zuvor praktizierten: Facebook (modernes Kaffeehaus), Ebay (Trödelmarkt), X/Twitter („Geplärr der Zeitungsjungen“), Youtube (Lichtspielhaus), Amazon (Schaufenster), Etsy (Handwerkergasse), Tinder (Stundenhotel) und Blogs (moderne Ateliers). 

Allerdings es ist keine Stadt mehr, durch die der Netzflaneur schlendert, und es fehlen auch Mantel, Schirm und Notizbuch. Früher suchte der Flaneur „Schätze“, heute managt er „Input“ und muss Filter nutzen, um nicht von der Fülle der Informationen erschlagen zu werden. Digitales Flanieren ist eine beständige und anstrengende Unterscheidung in wichtig und unwichtig. Der SZ-Text ist auch als ein Plädoyer für eine unverzichtbare Kultur zu lesen, die wir für die eigene Stabilität und eine tragfähige Gesellschaft brauchen. Der Beitrag führt uns zum bewussten Schauen zurück. Es kommt nur auf den entsprechenden Um-Gang an: „Das Netz ist ein Schlaraffenland, ein Paris für jeden neugierigen Geist. Er muss nur loslaufen und sich vor Gewittern in Acht nehmen.“

Die „klassischen“ Flaneure und Spaziergänger waren in der analogen Welt meistens allein unterwegs.

Zu ihnen gehörte auch der Schriftsteller Robert Walser (1878–1956), der am 25. Dezember 1956 allein und erfroren während eines Spaziergangs bei Herisau an einen Herzschlag starb. An diesem Tag wurde er selbst zu seiner eigenen Romanfigur: In seinem 1907 erschienenen Roman „Geschwister Tanner“ kehrt der Dichter Sebastian von einem Spaziergang nicht mehr heim. Schneebedeckt wird auch er in „bitterer Kälte“ im Wald (wo die Stille eine „doppelte“ ist) aufgefunden: „Der Mann lag unbeweglich, und schon fing es an, immer dunkler zu werden.“ Im Zentrum des Walserschen literarischen Schaffens steht der Spaziergang, dessen Ziellosigkeit zum Prinzip erhoben wird. „Spazieren muss ich unbedingt“, lässt er seinen Protagonisten in seiner Erzählung „Der Spaziergang“ ausrufen. In der Kurzgeschichte „Tannenzweig, Taschentuch und Käppchen“ findet der Wanderer auf einer Bank einen Zweig auf einem Taschentuch neben einer kleinen Mütze. Die Botschaft: Nie sollte man aufhören „und immer wieder von neuem anfangen, an die Güte und an die Liebe der Welt zu glauben.“

Zwecklos und ohne Ziel

Die Figuren seiner Werke kommen in einer bürgerlichen Existenz niemals ans Ziel und werden nie sesshaft. Wie heute strebte auch in der wilhelminischen Zeit, als er Jakob von Gunten schrieb, der sich seiner Zeit verweigerte und sich seinen Träumen hingab, alles nach Größe und Geltung. Robert Walser wurde 1878 als siebentes von acht Kindern in Biel geboren. Bereits mit vierzehn Jahren verließ er die Schule verdiente sein eigenes Geld. Er begann eine Banklehre, hielt es aber dauerhaft nie lange irgendwo aus: Er arbeitete als Büroangestellter, als Verkäufer oder nahm kleinere Tätigkeiten an. Gleichzeitig begann er mit dem Schreiben. 1898 erschien sein erster Gedichtband. Anfang des 20. Jahrhunderts zog er nach Berlin. Während dieser Zeit entstanden die Romane „Geschwister Tanner“ (1907), „Der Gehülfe“ (1908) und „Jakob von Gunten“ (1909). Ihm gelingt es allerdings nicht, sich in den literarischen Kreisen Berlins zu etablieren. Auch entsprach im nicht die literarische Gattung des Romans, eines handlungsorientierten abschließenden Werkes, war im stets zuwider. Wie beim Spazierengehen zog er das absichtslose Treiben als Müßiggänger, der alles mit hellwachen Sinnen beobachtet, vor. Das Nebensächliche, das auch im Zentrum seines Schreibens steht, war ihm immer wichtiger als die Hauptsache. Das gilt auch für seine Texte. Walser kehrte als gescheiterter Literat in die Schweiz zurück und widmet sich wieder kürzeren Prosastücken. 1917 erschien mit der Erzählung „Der Spaziergang“ sein wohl berühmtestes Werk.

Robert Walser, der immer wieder unter psychischen Störungen litt, kam in die Berner Psychiatrische Klinik Waldau. Nach einem Nervenzusammenbruch wurde er gegen seinen Willen 1933 in die Heilanstalt in seinem Heimatort Herisau eingeliefert. Hier verbrachte er die letzten 23 Jahre seines Lebens, ohne je wieder etwas zu schreiben. Noch zu Lebzeiten geriet sein Werk in Vergessenheit. Dabei übte er großen Einfluss auf andere Schriftsteller wie Franz Kafka oder Walter Benjamin aus. Walsers „Stimme“ wurde erst Ende der 1960er-Jahre wiederentdeckt. Das Werk erschien zunächst verstreut und konnte kaum überblickt werden. In Basel und in Zürich wird sein Werk ediert. Bis 2036 sollen etwa 50 Bände erscheinen. Im Insel Verlag erschien nun ein Sammelband unter dem Titel „Spazieren muss ich unbedingt“, der an die ausgedehnten Streifzüge von Robert Walser und einen Einstieg in sein vielfältiges Werk bietet.

Sein Lebensthema, der Spaziergang, ist auch im Nachhaltigkeitskontext von enormer Bedeutung, denn heute zählt häufig nur das Ziel und die Abkürzung. 

Wir brauchen schweifende Geister wie Walser, weil sie zur Selbstreflexion anregen und Orientierung in einer Welt ermöglichen, die immer komplexer und unüberschaubarer wird. In den 1980er Jahren gründete der 2003 verstorbene Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt das Fach Promenadologie. Der Spaziergang war für ihn eine Methode, um relevante Fragen zum Menschen und seiner Wahrnehmung zu beantworten: Wie sieht er auf seine Umgebung? Was empfindet er als angenehm? Was nimmt er beim Flanieren wahr? Wie verändert sich das Landschaftsbild, wenn wir zu jeder Zeit an jeden Ort gelangen können? Das Gehen war für ihn die einfachste und intensivste Methode, um Räume nachhaltig zu „erschließen“.

Das Buch:

  • Robert Walser: Robert Walser, «Spazieren muss ich unbedingt». Insel Verlag, Berlin 2024.

Weiterführende Informationen:

Wer schreibt hier?

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Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

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Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
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