„Sei gegenwärtig“: Warum geht vielen Menschen der Tod von Roger Willemsen noch immer so nah?
Erinnerungen an Roger Willemsen
Roger Willemsen, der 2016 im Alter von 60 Jahren starb, gehörte zu Deutschlands bekanntesten und beliebtesten Intellektuellen. Wie kaum ein anderer wird er gerade in Social Media gefeiert: Seine Zitate haben hier Kultstatus, und in fast jedem Kommentar steht: „Er fehlt.“ Fast alle haben das Gefühl, dass es heute kaum mehr Menschen wie gibt, die wirklich etwas zu sagen haben, die als Vorbild taugen. Aber was ist das Faszinierende, das über seinen Tod hinauswirkt? „Was ich an Willemsen unglaublich geschätzt habe, war dieses Leichte im Schweren. Dieser fast kindliche Spaß an Konversation - tief wie flapsig“, schrieb Micky Beisenherz 2016 im stern. Das belegen auch viele aktuelle Kommentare im Netz. Er war immer aufnahmefähig, ein Meister der Sprache, der stets den richtigen Ton traf und zu allen Menschen gleich war. Er machte keinen Unterschied zwischen einer prominenten Persönlichkeit und einer flüchtigen Bekanntschaft. Sein Magma in allem, was er tat, war Begeisterung. Wenn er sich komplexen Themen widmete, war es, als würde sich (angelehnt an seine Bildsprache) ein Fenster öffnen - und plötzlich ist Frischluft im Zimmer. Er war an allem und jedem interessiert, aber nie elitär. Entdeckerlust und missionarisches Ziel griffen bei ihm eng ineinander. „Das Missionarische bezieht sich darauf, eine Durchlässigkeit für das Verstehen fremder Welten und der damit verbundenen Denkformen zu haben“, sagte er einmal.
Er war ein Dringlichkeitsarbeiter.
Dringlichkeit ist etwas anderes als „wichtig“. Sie zeigt sich dann, wenn die gefühlte Erkenntnis herrscht, dass sofort gemeinsam gehandelt werden muss - mit Hand, Hirn und Herz. Wird die Temperatur der Dringlichkeit erhöht, kommt „Veränderungsenergie“ in Gang, und ab einer bestimmten Temperatur fügen sich dann die Dinge. Es wird nicht nur geredet, sondern es entsteht die Bereitschaft, handfeste Beiträge zu leisten. Im Dezember 2011 trafen sich zehn deutsche Publizistinnen und Publizisten sowie Intellektuelle, um der politischen Praxis die Frage zu stellen: „Ist das noch Demokratie, was hier passiert oder hat sich unser politisches System längst dem Gesetz des Marktes überantwortet?“ Franziska Augstein, Friedrich von Borries, Carolin Emcke, Julia Encke, Romuald Karmakar, Nils Minkmar, Ingo Schulze, Joseph Vogl, Harald Welzer und Roger Willemsen formulierten einen dringlichen (!) Aufruf, sich wieder verantwortlich zu fühlen für das, was Gesellschaft heute ausmachen sollte. Auch im Film "Angriff auf die Demokratie - eine Intervention" von Romuald Karmakar fällt besonders „die sich überschlagende Dringlichkeit“ von Roger Willemsen auf, der im Februar 2016 seiner Krebserkrankung erlag. Willemsen wuchs in Bonn auf und verbrachte die ersten Semester an der Universität mit Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie. Dann wechselte er die Uni und wurde später Moderator, interviewte Madonna und den Dalai Lama schrieb Bestseller und widmete sich humanitären Arbeiten. Über das eigene Leben hinaus wirken zu wollen, war ihm ein Grundbedürfnis.
Sein 60. Geburtstag am 15. August 2015 war für ihn Anlass für einen Blick zurück.
Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht von seiner Krebserkrankung. Er empfand diesen Tag als prägende Zäsur, der auch jene Ernsthaftigkeit geschuldet war, die seine letzten Interviews prägt. Ernsthaftigkeit hat immer damit zu tun, dass wir uns zu etwas bekennen, dass wir etwas wichtiger finden als etwas anderes. Die Jugend von Roger Willemsen war auch vom Sterben seines Vaters begleitet. 1969 erkrankte er ebenfalls an Krebs. Es folgten zwei Jahre Ängste, Sorge und das Gefühl des Verlassenwerdens. Dann der Tod des Vaters. „Man lebt diachron, so kindlich wie gereift, künstlich gereift, wie eine Frucht auf dem Transport“, sagt Roger Willemsen im Herausgeberband von Insa Wilke „Der leidenschaftliche Zeitgenosse“ über jene Zeit, die er ein „erstes Zu-Ende-Gehen“ nennt. Sein Vater starb im Augenblick, als Willemsen zu begreifen begann, was für eine große Persönlichkeit er war. „Diese Autorität bricht weg, und du musst sie dir dann also selber geben.“ Als er selbst an Krebs erkrankte, wollte er nicht mehr unterhalten, sondern nur noch beobachten und präzise sagen, wie es ist. „Sich die Wirklichkeit vergegenwärtigen“, sagte er oft.
Um die Grundprobleme unserer Zeit zu erkennen und zu lösen, braucht es ein Denken, das die Praxis nicht vernachlässigt. Genauso wichtig ist es, zukünftige Handlungen und Einstellungen zu berücksichtigen. „Als brauchten wir zum Handeln einen neuen Klimabericht, einen neuen Schadensbericht über die Weltmeere, den Regenwald, die grassierende Armut. Aber aus all den Fakten ist keine Praxis entsprungen, die auf der Höhe der drohenden Zukunft wäre“, schreibt er in seiner Zukunftsrede. Viele Freunde und Menschen, die er mit seinem Wissen und seinen Ideen unterstützt hat, bemerkten in ihren Nachrufen, dass er ihrer Arbeit „neben der ihnen eigenen Dringlichkeit (!) einen besonderen Glanz“ gegeben hat. Ihm blieb am Ende nicht mehr viel Zeit, die noch verbleibende Frist umfänglich zu nutzen. Aber er bezog schon im Leben aus dem Tod „die Dringlichkeit, die ihn vor blödsinnigem Fernsehkarrierismus und tausend anderen Eitelkeitsfallen der Egomanieschützte.“ (Iris Radisch)
In seinem letzten, Fragment gebliebenen Buch „Wer wir waren“ befürchtet er (im durchgängigen Futur II), dass wir das Menschsein wohl aufgeben haben werden und uns künftig „weniger mitfühlend, weniger solidarisch, weniger sentimental“ verhalten. Der Wesentlichkeit, die sich bekanntlich langsam vollzieht, setzen wir die schnelle „Selbstoptimierung“ entgegen. Willemsens Zukunftsrede fordert uns auf, uns einen Überblick zu verschaffen und selbst Antworten zu finden. „Nutzt eure Möglichkeiten.“ Das ist sein Vermächtnis an die nächste Generation und sein Plädoyer für Mitmenschlichkeit. Da er sein Leben und seine Arbeit im Kommunikationsbereich als sehr privilegiert empfand, wollte er etwas tun, das anderen hilft und die gegebene Frist sinnvoll nutzen. Da für ihn zu den größten Glückszuständen der Zustand der Produktivität gehörte (etwas „hervorzubringen“), richtete sich sein Fokus vor allem auf das, was er noch hervorbringen wollte: „Ich möchte weniger unterhalten als informieren.“ Das sind seine letzten öffentlichen Sätze – und sein Vermächtnis an uns. Roger Willemsen war Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins, der eine Sitzbank mit der Inschrift an seinem Grab installierte: „Ich möchte Menschen glücklicher zurücklassen als ich sie vorgefunden habe. – Roger Willemsen“.
Am 12. März 2024 erhielt ich vom Fotografen Marcel Felde auf Instagram eine Sprachnachricht, in der mir von seiner Begegnung mit Roger Willemsen erzählte. Das brachte mich auf die Idee, persönliche Berichte über ihn zu sammeln und vorzustellen. Hier der Anfang
Marcel Felde, Fotograf (@marcelfelde), 12. März 2024:
„Roger Willemsen hat nach meinem Empfinden den größten Luxus gesehen und die größte Armut. Hat mit den bekanntesten Menschen gesprochen. Und dann steht während einer gemeinsamen Veranstaltung ein einfacher Mann, eine einfache Frau vor ihm. Erzählt eine ganz banale Geschichte aus dem Alltag. Er hat diesen Menschen mit großen, leuchtenden Augen intensiv zugehört – als ob es gerade eine unfassbar spannende Geschichte ist. So eine Wertschätzung beim Zuhören… Seitdem ist er mir ein großes Vorbild. Das Foto entstand während dieser Veranstaltung.“
Andreas Noga, Autor, 13. März 2024:
„Was Du hier über Roger Willemsens Futur ll-Menschheitsdiagnose geschrieben hast, liest sich heute wie eine Prophezeiung. Willemsen hat mich in seinen Sendungen immer wieder mit dünkelloser Menschlichkeit beeindruckt. Ein interessiert Fragender, der sein Gegenüber stets wichtiger genommen hat als sich selbst. In den sozialen Medien liest man oft: ‚Er fehlt.‘ Und es stimmt: Einer wie er würde dem Jetzt als kreativer Impulsgeber guttun. Einer, der sicher auch selbst viele Fragen an die Welt hätte und in suchender, dem Menschen zugewandter Ratlosigkeit dennoch Wegweiser wäre.“
Gudrun Holtz, Kulturwissenschaftlerin und Autorin, 14. März 2024:
Wir begegneten uns 2014 auf den Treppen des Hamburger Hauptbahnhof: Ich lief die Treppe vom Bahnsteig hoch und Roger Willemsen runter. In der Mitte trafen sich tatsächlich unsere Blicke. Wir schauten uns in die Augen. Ich war darauf bedacht, niemanden auf der Treppe anzustupsen, und Roger Willemsen ging es sicherlich ähnlich oder genauso. Danach schrieben wir einige Mal hin und her - und ich berichtete auch von meinem Fotobildband "Narben auf der Haut und in der Seele". Unsere Korrespondenz fand über meine WDR-Adresse statt. Diese wurde parallel abgestellt, nachdem ich meine 30-Minuten-Reportage über Schwangerschaftsabbrüche für delie ARD/NDR realisierte. Sie wurde von der ARD für den Grimme Preis angenommen. Die WDR-Redaktion „Menschen hautnah“ wollte ursprünglich die Reportage Schwangerschaftsabbrüche abnehmen. Doch nach meiner Recherche sprang die WDR-Redaktion „Menschen hautnah“ ab, und ich konnte glücklicherweise den NDR für das Projekt akquirieren. Von Roger Willemsens Krankheit erfuhr ich nicht von ihm persönlich. Seine Assistentin Julia Wittgens schrieb mir im Dezember 2015, dass es ihm nicht möglich sei, an meiner Veranstaltung teilzunehmen. Er ließ aber herzlich grüßen und wünschte gutes Gelingen. Von seinem Tod erfuhr ich über das Fernsehen. Als Intellektueller passte er auf, dass Gutes in die Welt getragen wird, Demokratie erhalten bleibt und Dialoge statt Monologe stattfinden. Er war ein Interviewer, der Respekt vor seinen Interviewten hatte. Eine gute Stimme im Fernsehen ist verloren gegangen und niemand bisher nachgerückt. Ich hatte das Gefühl, da passt jemand in der Öffentlichkeit auf.
Sabine Komossa, 24. März 2024:
Roger Willemsen begegnete ich damals auf der Frankfurter Buchmesse. Ich hatte gelesen, dass er eine Signierstunde abhält. Unglücklicherweise hatte ich nichts dabei, was er hätte signieren können. "Sei's drum", dachte ich damals, "ich sage ihm einfach, wie sehr ich ihn schätze." Natürlich musste ich mich an einer langen Schlange anstellen. Und dann saß er vor mir, nur durch den Tisch getrennt. Er schaute verwundert zu mir hoch, denn da war ja nichts, was ich ihm zum Signieren hingelegt hatte. Ich bin in solchen Sachen nicht wirklich gut und war auch ein bisschen aufgeregt. Mich etwas verhaspelnd, gestand ich ihm in ein paar Sätzen, wie sehr er mich durch seine Taten und Worte beeindruckt (sinngemäß).
Er stand auf, sah mich lächelnd an und nahm meine Hand in seine beiden Hände. Dann dankte er mir sichtlich gerührt für meine Worte und dafür, dass ich diese lange Wartezeit in der Schlange aufgebracht hätte, nur um ihm dies zu sagen. Und dann war's auch schon vorbei. Ich muss gestehen, wenn ich das so lese, klingt es ja nicht sehr besonders. Diese Kurzbeschreibung kann in keiner Weise widerspiegeln, wie beeindruckend diese Situation für mich war, die real ja nur wenige Minuten gedauert hat. Ich sehe noch sein verwundertes Gesicht vor mir und spüre noch die Wahrhaftigkeit dieser Begegnung (klingt ein bisschen altbacken, aber das sind genau die richtigen Worte dafür). In diesem Moment in dieser lauten und unruhigen Umgebung hatte ich das Gefühl, dass er nur mir allein seine volle Aufmerksamkeit schenkt.
Anfangs dachte ich, dass es nur an meiner Bewunderung für ihn lag, dass ich mich so ernst genommen fühlte. Inzwischen denke ich aber, dass genau DAS ihn ausmachte, wie wichtig ihm (auch) diese kleinen Momente waren. Vielleicht war ich tatsächlich genau in diesem Moment die 'wichtigste' Person für ihn? Ich weiß nicht, ob Sie je das Glück hatten, ihm persönlich zu begegnen. Für mich jedenfalls wird diese kurze, aber intensive Begegnung immer ein großer Erinnerungs- und Gefühlsschatz bleiben.
Weiterführende Informationen:
- Das müde Glück: Nachdenken über Roger W.
- Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.
- Insa Wilke (Hg.): Der leidenschaftliche Zeitgenosse. Zum Werk von Roger Willemsen. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015.
- Roger Willemsen: Wer wir waren. S. Fischer Verlag. Frankfurt a, M. 2016.
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