Dr. Alexandra Hildebrandt

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für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Stimme des Überlebens: Der Grenzgänger Dave Gahan

Spencer Ostrander
Dave Gahan, Cover-Ausschnitt Trevor Baker: DAVE GAHAN – SEIN LEBEN MIT DEPECHE MODE. Hannibal Verlag 2024.

Menschen sind Menschen

“Depeche Mode ist Depeche Mode and People are People”, sagt Olaf Schulze, für den in diesen Zeiten der Text noch immer etwas Besonderes ist:

„Menschen sind Menschen, also

Warum

Sollten wir nicht miteinander auskommen?“

In seinem Beruf arbeitet er mit vielen Mitstreitern, Mitarbeitenden, Kollegen und Vorgesetzten zusammen - im eigenen Team und mit anderen Teams, die sehr divers sind. „Das ist nicht nur modern, sondern dringend notwendig, um die arbeitstäglichen Anforderungen zu erfüllen. Die Arbeitsabläufe sind komplex, es geht um Energie, Preise, Kosten, Mengen, Währungen. Fristen und kurzfristige Entscheidungen überlagern langfristige Strategien. Da sind Ingenieure verschiedener Fachrichtungen, Physiker, Wirtschaftsingenieure, Architekten, Kaufleute, Betriebswirte, und irgendwann komme ich, ein vor vielen Jahren studierter Jurist, der eine konzernweite Energieabteilung leitet.“ Bei den Persönlichkeiten, die ihn vor fast 20 Jahren auswählten, ist er sich sicher, dass sie ein gutes Bauchgefühl hatten und haben.“ Mit dem Bauchgefühl verbunden ist der gesunde Menschenverstand. Mit ihm wird ein gemeinsames Wissen bezeichnet, eine Vielzahl an Überzeugungen. Zugleich ist damit eine gemeinsame Fähigkeit gemeint, zu Wissen zu gelangen (ein urteilender Verstand). Bei der Urteilsbildung nimmt er einen allgemeinen Standpunkt ein. Im Ergebnis kann sein Urteil ein eigenes, am Urteil der anderen geprüftes sein oder ein übernommenes. Damit verbunden ist auch der Mut zum Selberdenken und sich klar darüber werden, was richtig und falsch ist. Damit ist auch eine inhaltliche Brücke zum Song „People are People“ aus dem Jahr 1984 geschlagen, in dem es weiter heißt:

„Jetzt schlägst und trittst du mich

Und du schreist mich an

Ich vertraue auf deinen Menschenverstand

Bis jetzt hat er sich noch nicht gezeigt

Aber ich bin sicher, dass er existiert …“

Es gibt noch eine weitere Verbindung zu Olaf Schulze: Depeche Mode (DM) war die Musikgruppe seines verstorbenen Bruders. „1988 haben wir mit dem wenigen Geld in Budapest seine erste DM-Platte gekauft und nach Hause geschmuggelt.“ Zur Trauerfeier 2022 wurde die Musik der Band gespielt. Drei Lieder von DM begleiteten die Familie und seinen Bruder auf den letzten Metern in Halle/Saale im November 2022. Auch viele andere Menschen verbinden mit Depeche Mode persönlichen Erinnerungen – seit über 40 Jahren. Doch was ist das, was die DM-Welt im Innersten zusammenhält? Vielleicht das Menschlich-Allzumenschliche, das Grenzen auslotet, aber niemals abgehoben ist, das Wiederaufstehen und Weitermachen – und die Stimme des Überlebens.

„Dave Day“

Der Geburtstag von David Gahan, der am 9. Mai 1962 geboren wurde, fällt mit einem russischen Nationalfeiertag zusammen, woraus russische DM-Fans dann einen eigenen machten: den "Dave Day". Wie bei Fletch und Martin wurden immer wieder verschiedene Angaben zum Geburtsort gemacht - er selbst nennt in einigen Artikeln "Chigwell": "Ich wurde um 5 Uhr morgens am 9. Mai 1962 geboren und wog 3.855 Gramm. Wir wohnten in der Romford Road in Chigwell in Essex, in einem Reihenhaus, dort wurde ich auch geboren." Sein leiblicher Vater Len, der malaysische Vorfahren hatte, verließ die Familie, als Dave und seine ältere Schwester Susan Christine noch klein waren. Er starb 1991 und spielte in seinem Leben keine große Rolle. Seine Mutter Sylvia Ruth heiratete wieder, und die Familie zog in ein anderes Reihenhaus in Basildon. Dave dachte lange, sein Stiefvater, dessen Nachnamen er trägt, sei sein richtiger Vater. Er starb, als Dave neun Jahre alt war (in einigen Quellen heißt es, er sei sieben gewesen). Aus dieser zweiten Ehe der Mutter stammen die beiden jüngeren Halbbrüder, Peter Eric und Philip Michael.

Dave war ein dickliches und ängstliches Kind, das meistens weinte. Allerdings stand er auch als Kind schon gern im Mittelpunkt: Wenn seine Tanten zu Besuch kamen, unterhielt er sie und seine Mutter mit Mick Jagger- oder Gary Glitter-Imitationen. Seine ersten Auftritte als Sänger von Weihnachtsliedern hatte er mit der Heilsarmee, der seine Mutter angehörte. Mit Drogen kam er bereits mit 12 Jahren in Berührung, als er seiner Mutter, die unter Epilepsie litt, Barbiturate stahl. Es folgten Alkohol, Tabletten, Speed und Heroin (erstmals mit ungefähr 17, als er in einem besetzten Haus am King's Cross lebte). Er bezeichnete sich einmal als eine „sehr abhängige Natur“ - besonders, wenn ihm die Dinge über den Kopf wachsen und er vor sich selbst davon laufen möchte. Dave mochte die Schule nicht. Seine Lieblingserinnerung an die Schule ist, wenn der Lehrer fragte: „Gahan, was ist da draußen so interessant, dass du die ganze Zeit aus dem Fenster schaust?“ – Seine Antwort (obwohl nur ein Feld zu sehen war): „Mehr als alles, was hier drinnen passiert.“ Ihn interessierte es vor allem, nachts auszugehen und ein Konzert zu hören. Er lehnte Schule ab, „weil mir vorgeschrieben wurde, mich so zu benehmen, als würde ich einen langweiligen, stupiden Job machen.“

Das ständige Austesten von Grenzen führte ihn auch mit dem Gesetz in Konflikt.

Bereits mit 12 Jahren geriet er in Schwierigkeiten (Kurzschließen von Autos und Motorrädern, das Besprühen von Wänden). Immer wieder kam er in Schwierigkeiten mit der Polizei, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Er stand sogar mehrmals vor dem Jugendgericht und wurde mit 15 zu einem Freizeitarrest verurteilt. Sich selbst beschreibt er als einen destruktiven Teenager, der sich am liebsten herumtrieb: "Erst war ich ein Soulboy. Ich habe alles gemacht, ich habe alles gemocht. Ich mochte Soul und Jazz-Funk wie The Crusaders. Ich ging viel zu Soul-Wochenenden und hing mit der Crew von Global Village rum, und ich ging freitags ins Lyceum.“ Er versuchte, sich in verschiedene Gruppen einzufügen, doch spürte er schnell, dass er anders war: „intelligent, aber sozial unbeholfen“. Er umgab sich mit Straßenkindern und erhielt Einblicke in ihre unterschiedlichsten Probleme. Manchmal fühlte er sich wie ein Ertrinkender. Mit 16 verließ er die Schule: "Meine Qualifikationen in Kunst und Technischem Zeichnen schienen nicht gerade von Nutzen zu sein." In acht Monaten hatte er 20 verschiedene Jobs. Nie hielt er lange irgendwo aus. Seine Vorgesetzten hassten seine „rebellischen Attitüden“. Solange er denken kann, hatte er immer ein Schutzschild zwischen sich und dem Leben gehabt. Schließlich bewarb er sich um eine Ausbildungsstelle als Installateur bei den North Thames Gas. Sein Bewährungshelfer gab ihm dem Tipp, beim Vorstellungsgespräch ehrlich zu sein und sein Vorstrafenregister nicht zu verschweigen (aus diesem Grund erhielt er den Job nicht). Dann besuchte er das "Kunstcollege" (handwerklich/technische Ausbildung mit dem Ziel, den Beruf des Schaufensterdekorateurs zu erlernen, wozu eben auch die Fächer Modedesign und Malen gehören). Er empfand dies als eine gute Zeit. Bei einem Damned-Konzert traf er Joanne Fox, seine spätere erste Frau.

Seine Rettung waren auch „Reaktionen“ von außen.

Deshalb spielte Musik immer eine wichtige Rolle für ihn. Als Punk angesagt war, färbte er seine Haare in verschiedenen Farben, trug „revolutionäre Klamotten“ und ging viel auf Konzerte. Er wollte zunächst Punkfrontmann werden. Als Punk nicht mehr interessant war, ging er in die Clubs in London, in denen er Musik wie David Bowie, Roxy Music, Kraftwerk und Gary Numan hörte. Irgendwann langweilte ihn Punk, weil alle gleich aussahen. 1979 kreuzten sich seine Wege mit Vince Clarke, Martin Gore und Andy Fletcher, die gerade zusammen in einer Band mit dem Namen Composition of Sound spielten. Gahan übernahm zunächst die Rolle am Mischpult. Als Vince Clarke den jungen Gahan einmal den Bowie-Song „Heroes“ singen hörte, fragte er ihn, ob er nicht für die Band singen wolle. Kurze Zeit später schlug Gahan einen neuen Namen für die Band vor, den er von einer französischen Modezeitschrift entliehen hatte: Dépêche Mode“. Sie spielten in Clubs und kleinen Kneipen. Da er als junger Mensch keinen Sport trieb, brach nach den ersten Konzerten regelmäßig zusammen. Um 1983/84 herum waren sie schnell desillusioniert „von der ganzen geschäftlichen Seite", so Dave Gahan. Der ständige Druck behinderte ihre persönliche und künstlerische Entwicklung – sie wollten keine stromlinienförmige Angepasstheit. 

Nach ersten Ausflügen in die Charts mit Synthie-Pop und Trips nach London und New York kamen Verlockungen wie Geld, Frauen und Drogen hinzu. Am 17. August 1995 schnitt sich Gahan die Pulsadern auf und begab sich für kurze Zeit in eine Entzugsklinik. Am 28. Mai 1996 spritzte sich Dave Gahan einen Speedball: Die gefährliche Mischung aus Heroin, Kokain und Crack führte zu einem Herzstillstand. Dave Gahan war für zwei Minuten klinisch tot, bevor ihn Rettungskräfte zurück ins Leben holten. Er wurde wegen Drogenbesitzes angeklagt und musste sich auf Anordnung des Gerichts in eine Drogenklinik begeben. Depeche Mode standen vor dem Aus. Der Sänger ließ sich von seiner ersten Frau scheiden und heiratete in Las Vegas die Rockjournalistin Teresa Conroy. Das Paar zog nach Los Angeles. 2009 musste sich Dave Gahan einen Krebstumor an der Blase entfernen lassen. Die „Tour of the Universe“ wurde um mehrere Monate verschoben.

Nach seiner Nahtoderfahrung änderte Dave Gahan sein Leben.

Bis heute ist der Musiker nicht rückfällig geworden. Von seiner Ehefrau Teresa ließ er sich scheiden und heiratete 1999 die Schauspielerin Jennifer Sklias, adoptierte ihren Sohn und zog mit der Familie nach New York. Kurze Zeit später kam die gemeinsame Tochter Stella Rose zur Welt. Gahan, der bei Depeche Mode bislang immer die Songs von Songwriter Martin Gore gesungen hatte, entdeckte nun seine eigenen Songwriter-Qualitäten. Es folgen Soloalben und eine Kollaboration mit der Formation „The Soulsavers“. Auch für Depeche Mode steuerte Gahan seit dem Album Playing The Angel (2005) regelmäßig Lieder bei und wurde zum zweiten Songwriter. Diese Depeche-Mode-Singles stammen beispielsweise aus seiner Feder: „Suffer Well“ (2005), „Hole To Feed“ (2009), „Should Be Higher“ (2013) und „Cover me“ (2017). Als Solokünstler veröffentlichte Dave Gahan die Alben „Paper Monsters“ (2003) und „Hourglass“ (2007). Seit 2012 arbeitet er mit dem britischen Duo „The Soulsavers“ zusammen. Im Jahr 2012 erschien das Album „The Light The Dead See“, auf dem Gahan als Sänger und Texter aufritt. Die Musiker setzten die Zusammenarbeit drei Jahre später auf dem Album „Angels & Ghosts“ fort, das 2015 erschien (in Deutschland Platz 5 der Album-Charts).

Nicht nur in den 1980er Jahre standen Depeche Mode für ein Klima der Wahrhaftigkeit – auch heute noch treffen ihre Songs Generationen mitten ins Mark.

Der plötzliche Tod des Gründungsmitglieds und Keyboarders Andy „Fletch“ Fletcher stellte für die Band und die Fans eine schmerzhafte Zäsur dar. „Memento Mori“ heißt das 15. Studio-Album: "Irgendwann wird alles zu Ende gehen. Für jeden", sagt Dave Gahan. Im Hannibal Verlag gibt es mehrere Bücher über die Band. Etwa 14 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung wurde nun die Biografie „Dave Gahan – Sein Leben mit Depeche Mode“ von Trevor Baker neu aufgelegt. Baker arbeitet seit vielen Jahren in London als Musikjournalist, unter anderem für den Observer und den Guardian. Der Inhalt ist umfassend überarbeitet und aktualisiert worden. Die Musikjournalisten André Boße und Dennis Plauk widmen sich in den Update-Kapiteln unter anderem dem Comeback von Depeche Mode. In mehreren Interviews mit Gahan erfuhren sie, wie es dem Frontmann gelang, nicht am Tod seines Bandkollegen Andy Fletcher zu zerbrechen, seine Freundschaft zu Martin Gore zu erneuern und immer wieder Kraft zum Singen zu schöpfen und vor allem: Frieden zu finden. Etwas in sich selbst zu entdecken, dem nichts mehr hinzugefügt werden muss.

Das Buch:

  • Trevor Baker: DAVE GAHAN – SEIN LEBEN MIT DEPECHE MODE. Mit einem Update von André Boße und Dennis Plauk. Übersetzung: Henning Dedekind. Hannibal Verlag, Höfen 2024. 

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Wer schreibt hier?

Dr. Alexandra Hildebrandt
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Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

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Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
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