Tabu-Themen in der Arbeitswelt: Die Auswirkungen von Darmerkrankungen auf das Berufsleben
Interview mit Dr. med. Philip Ferstl
Dr. med. Philip Ferstl, Jahrgang 1987, studierte Humanmedizin an der Philipps-Universität Marburg sowie Zürich und war unter anderem an der James Cook University in Australien sowie der Duke University in den USA. 2020 absolvierte er zudem einen Master of Health Administration MHBA an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Es folgten die Leitung der zentralen Notaufnahme am Klinikum der Goethe-Universität in Frankfurt sowie die Weiterbildung zum Internisten und Gastroenterologen sowie Betriebsarzt. Aktuell arbeitet er im Betriebsmedizinischen Dienst bei Gany.MED in Frankfurt und beschäftigt sich mit der Vereinbarkeit von Medizin & Arbeitswelt sowie der Gesundheitsförderung, präventiven Ansätzen und dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit.
Herr Dr. Ferstl, was bedeutet die Diagnose einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung für das Berufsleben?
Das verhält sich tatsächlich ganz unterschiedlich. Patientinnen und Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) sind entweder beschwerdefrei, haben kaum Symptome, sind leicht angeschlagen, haben deutlich Auswirkungen oder führen einen regelrechten Überlebenskampf - und das zu jeweils gleichen Teilen. Da ist es nur logisch, dass die schwereren Fälle schlechtere Karten im Job haben. Wir beobachten hier den sogenannten Selektionseffekt: CED und Beruf funktioniert nicht immer gemeinsam. Im Berufsleben „copen“ insgesamt die weniger schweren Fälle.
In Deutschland erhalten Millionen Menschen die Ausschlussdiagnose “Reizdarmsyndrom”. Das bedeutet für die Betroffenen eine enorme Einschränkung der Lebensqualität – täglich. Was sind die Symptom-Ursachen?
Eine weitere schwierige Frage direkt zum Einstieg ... Ich sage mal ganz salopp: Das Reizdarmsyndrom wird viel schlechter verstanden als die CED, und man kann daher auch seine mannigfaltigen Symptome weniger gut attribuieren. Fakt ist jedoch: Die Verbindung zwischen Darm und Psyche existiert, und sie ist breit ausgebaut. Abgesehen davon werden natürlich zunehmend organische und mikrobielle Ursachen des Reizdarmsyndroms erforscht.
Warum bleiben chronisch-entzündliche Darmerkrankungen häufig unentdeckt?
Die unerkannten Fälle von CED nehmen eigentlich sogar ab. Das hat aus meiner Sicht zwei Gründe: Die Ärzteschaft ist im Gegensatz zu früher auf das Thema Darm besser vorbereitet und überweist beim entsprechenden Verdacht großzügiger zum Gastroenterologen. Und: Die Inzidenz steigt konstant. Das ist in meinen Augen auch ein Beleg für die verbesserte Diagnostik - auch, wenn es natürlich weitere Ursachen dafür gibt. Als Beispiel seien die Themen Ernährung, Stress, westlicher Lebensstil genannt.
Betroffene sagen, dass sie oft vorschnell und falsch diagnostiziert oder abwertend und respektlos behandelt werden („Reizdarm ist doch eh psychisch, was soll ich da machen?”). Wie erklären Sie sich das?
Leider ist das so. Obwohl wir in der Diagnostik anderer Darmerkrankungen besser werden, müssen manche Darm-Patienten sich diese Sprüche nach wie vor anhören. Dazu kommt, dass das Thema komplex ist - die Reizdarm-Leitlinie ist lang und facettenreich und fasst vor allem interdisziplinäre Aspekte zusammen, die von einem einzigen Spezialisten gar nicht bewältigt werden können. Ich finde aber auch, dass es für das Thema keine sinnvolle Nische im ambulanten System gibt. Schauen Sie doch mal, an wen man sich mit Reizdarm überhaupt wenden kann. Der Hausarzt weiß oft nicht so genau, was zu tun ist. Der Gastroenterologe ist naturgemäß sehr auf die Mukosa (Darmschleimhaut) fokussiert. Den Mikrobiom-Berater gibt es schlichtweg nicht. Und der Psychotherapeut ist mit dem medizinischen Anteil ja eigentlich überfordert. Da kommt thematisch halt ganz viel zusammen.
Woran liegt das?
Ein Stück weit hat das auch abrechnungstechnische Gründe, denn Reizdarm-Patienten sind gesprächsintensiv, und im Gegensatz zum Bluthochdruck kann man nicht einfach eine Tablette anbieten. Lange Gespräche beim Arzt werden nunmal kaum besser vergütet als kurze.
Gibt es dennoch ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass falsche oder fehlende Bakterien im Darm eine Wirkung auf die Psyche haben können?
Na klar. Die Assoziation zwischen Darm, Leber und Hirn ist doch längst belegt. Die Frage ist ja eher: Was ist Henne, was ist Ei? Nach was suche ich beim Testen eigentlich? Und wo müsste ein Therapeutikum ansetzen?
Weshalb wird der Darm im Medizinstudium oft eher stiefmütterlich behandelt?
Ich kann mich da nicht beschweren, unser Professor in Marburg hieß Gress und er hat wirklich tolle Vorlesungen gehalten. Aber sagen wir so: Die Gastroenterologie ist ein riesengroßes Fach, welches auch noch Speiseröhre, Magen, Leber, Bauchspeicheldrüse und Onkologie beinhaltet. Dazu die ganze Apparative Diagnostik und die Notfallmedizin. In der Praxis haben wir natürlich Darmspezialisten, die sich speziell um CED kümmern. Diese findet man insbesondere an größeren Zentren, aber auch in kleineren Praxen.
Welche Maßnahmen können dabei helfen, individuelle Auslöser für Beschwerden zu finden?
Meinen Patienten empfehle ich eigentlich immer dasselbe systematische Vorgehen: Zunächst einmal eine Gastro- und Koloskopie, um eine Entzündung der Schleimhaut auszuschliessen. In der Folge einen Atemtest zum Ausschluss von Unverträglichkeiten und, das etabliert sich gerade, von bakteriellen Fehlbesiedelungen. Wir haben dann die Möglichkeit, verschiedene Blutuntersuchungen durchzuführen. En passant müssen wir nach Schilddrüse, Bauchspeicheldrüse, Diabetes und möglicherweise auch anderen hormonellen Faktoren schauen. Und natürlich reden wir vom ersten Tag über das Thema Stress und psychosoziale Belastung. Was im Werkzeugkasten definitiv wünschenswert wäre, ist ein gutes, einheitliches Tool zur Stuhl-Diagnostik und Bewertung der Mikroflora. Außerdem sollten die Ernährungsgewohneiten je nach Verträglichkeit bewertet werden. Weizen, Milchprodukte, rotes Fleisch, Hülsenfrüchte, Alkohol, Kaffee u.v.m. sind solche Themen.
Seit 2002 gibt es in Deutschland die gesetzliche Vorsorge-Koloskopie. Von wem sollte dies verstärkt wahrgenommen werden?
Aktuell von jedem über 50 und jeder über 55 Jahren. Patienten mit familiärer Häufung, Darm- und Lebererkrankungen sollten früher und häufiger gehen. Ich prognostiziere aber mal, dass wir in der Zukunft diagnostische Methoden zur Verfügung haben werden, die zumindest die Frequenz der koloskopie nachhaltig reduzieren werden.
Welche Rolle spielt das Thema im Betrieblichen Gesundheitsmanagement?
Das Thema Darm wird auf Führungsebene im Rahmen der Speisepläne in der Kantine aufgegriffen und manchmal gibt es auch Gesundheits-Tage für die Darmkrebsvorsorge. Gerne wird auch mal ein Obstkorb hingestellt. Von mehr habe ich aber noch nicht gehört.
Das Interview führten Dr. Alexandra Hildebrandt und Christine Bergmair
CED und Beruf
Auch wenn es im Job zu Einschränkungen durch CED kommen kann, gibt es verschiedene Wege und Möglichkeiten, um im Berufsleben zu bleiben. Wichtig ist Offenheit am Arbeitsplatz im Umgang mit CED – das hilft, Missverständnisse zu vermeiden (z.B. bei Krankmeldungen, Fehlzeiten wegen regelmäßiger Arztbesuche etc.). Auch für Betroffene bedeutet es weniger Stress, wenn Vorgesetzte ins Vertrauen gezogen werden. Individuelle Lösungen wie ein Arbeitsplatz in der Nähe einer Toilette, flexible Arbeitszeiten oder ein Homeoffice können nur gefunden werden, wenn der Arbeitgeber informiert ist. Gleiches gilt für den erweiterten Kündigungsschutz (Schwerbehinderung oder Gleichstellung). Flexible Arbeitsbedingungen für CED-Betroffene haben nachweislich positive Auswirkungen und können zu einer besseren Teilhabe am Arbeitsleben führen. Anregungen und Empfehlungen, welche Berufe sich bei CED gut eignen und der Arbeitsalltag mit CED gemeistert werden kann, ist im Beitrag „Ein Beruf ist das Rückgrat des Lebens“ zu finden.
Weiterführende Informationen:
- Am 7. Juni 2024 hält Dr. med. Philip Ferstl von 16.30 bis 18.00 Uhr im Gesundhaus i-Tüpferl den Vortrag „Chronisch entzündliche Darmerkrankungen in der Arbeitswelt“
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