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Dr. Alexandra Hildebrandt

Typisch deutsch: Was Gartenzwerge über uns aussagen

Gartenzwerge gelten wie die Kuckucksuhr als typisch deutsch

Schätzungsweise stehen heute in deutschen Gärten etwa 25 Millionen Gartenzwerge. Ihre Historie erscheint wie eine Verdichtung der großen Kultur- und Konsumgeschichte. Wo die Zwerge (vom althochdeu. Twerg, was das Geheimnisvolle seines Wesens beschrieb) auftauchen, halten sie uns einen Spiegel vor. Sie sind heute vor allem in Vorgärten, im Umfeld von Blumenbeeten oder auf Balkonen zu finden. Liebhaber können sie auch in Museen besichtigen: In Bad Schwalbach www.museum-bad-schwalbach.de sind etwa 160 Zwerge ausgestellt, ein kleiner Querschnitt aus der 3000 Zwerge umfassenden Kollektion des Saarländer Sammlers Sven Berrar, ergänzt um Exponate aus der Region. In Pfaffstätt in Oberösterreich haben Helga Eidenhammer und ihr Mann etwa 4443 Zwergen im Garten sowie am und im Haus die größte Sammlung der Welt. Ein Gartenzwergmuseum gibt es auch in Gräfenroda auf dem Betriebsgelände der 1874 gegründeten und letzten (von einst 16!) noch bestehenden deutschen Gartenzwergmanufaktur.

Besonders alte Zwerge werden bis heute unter Sammlern teuer gehandelt. Sie haben ein „echtes“ Gesicht, das Charakter ausstrahlt im Gegensatz zu den ausdruckslosen Posen moderner Plastikzwerge chinesischer Herkunft oder den billigen Plagiaten aus Osteuropa, die aus Gips statt aus gebranntem Ton und Gießharz statt PVC-Kunststoff bestehen. Der hochwertig gefertigte Gartenzwerg ist heute wieder beliebt, weil er uns einen Begriff von Heimat und Überschaubarkeit gibt, denn je weiter wir im Internet surfen, desto ausgeprägter ist die Sehnsucht nach einem engen Bezug zu unserer unmittelbaren Umgebung.

Nostalgische Objekte symbolisieren einen Mythos von „Heimat, Ursprung und Authentizität“, schreibt der Psychologieprofessor Tilmann Habermas. Sie sind „eine in sich geschlossene Welt, getrennt von und besser als die gegenwärtige, aus der sie die träumende Flucht erlauben.“ Der Gartenzwerg gibt uns etwas zurück, das wir im Zeitalter der Digitalisierung zunehmend verloren haben: das Herz der Erinnerung, ohne das auch die Zukunft nicht schlagen kann.

Gartenzwergkultur

Der klassische Gartenzwerg besteht aus Marmor, Sandstein oder gebranntem Ton, der allerdings den Nachteil hat, dass er bei Frost platzt. Bei Gartenzwergen aus Kunststein wie Polyresin ist das nicht so. Das Material hat den Vorteil, dass es wetterfest, winterfest, frostsicher ist. Der Kieler Soziologe Hans-Werner Prahl forschte in den 1970er-Jahren zur Herkunft und Entstehung des Gartenzwergs. Im 13. Jahrhundert mussten kleinwüchsige Sklaven aus Nordafrika im Bergbau auf dem Gebiet der heutigen Osttürkei arbeiten – deren vermeintlich übernatürliche Fähigkeiten verunsicherten die Grubenbesitzer. Deshalb stellten sie kleine Tonfiguren aus roten Mützen auf, um die magischen Kräfte der Sklaven zu bannen. Bereits in der Antike charakterisierte die sogenannte phrygische Mütze die Bewohner dieser Region.

Zwerge spielen im 17. und 18. Jahrhundert des Adels eine Rolle. Zwergenfiguren aus Sandstein dienten in den Hofgärten als Dekoration. Sie konnten sich nur die Adeligen und das Großbürgertum leisten. Vorbilder für Gartenzwerge waren Angestellten, das Personal und ihre Tätigkeiten oder Hofnarren, aber auch Fabelwesen, die Gnomen, die in Wäldern, Bergen und an Flüssen lebten. In Märchen und Legenden wurden sie oft als Wohltäter mit übernatürlichen Fähigkeiten dargestellt.

Damals schuf der französische Zeichner Jacques Callot bizarre Stiche von zwergenhaften Gestalten („Varie figure gobbi“ oder Buckel-Figuren). Sie dienten später als Vorlagen für Skulpturen, die als Callot-Figuren berühmt wurden. Die ältesten heute noch erhaltenen barocken Gartenzwerge hat Johann Bernhard Fischer von Erlach für den Zwergelgarten von Schloss Mirabell in Salzburg entworfen. Sie entstanden zwischen 1690 und 1695. Unter ihnen befindet sich auch der „Zwerg mit Spaten“.

Von den vielen Tausend individuell gestalteten Zwergen sind weniger als 300 erhalten. Als der Barockstil und die Callot-Figuren aus der Mode kamen, wurden die 28 Marmorfiguren (die „Urform“ der Gartenzwerge) entfernt. In den 1920er-Jahren hat man sich wieder an sie erinnert und ließ 15 wieder auffindbare Figuren an ihrem historischen Platz aufstellen. Eine ähnliche steinerne Sammlung gibt es im Garten des baden-württembergischen Schlosses Weikersheim: die „Zwergengalerie“ (Karikaturen des damaligen Weuikersheimer Hofstaates). Angefertigt wurde sie vom Bildhauer Johann Jacob Sommer im 18. Jahrhundert. Klassische Gartenzwerge sind ab der Mitte des 19. Jahrhunderts oft Gärtnern oder mittelalterlichen Bergleuten nachempfunden. Sie tragen eine Lederschürze und eine Schaufel, Spitzhacke, Laterne oder Schubkarre sowie eine rote Zipfelmütze.

Sogar Goethe soll einen Gartenzwerg besessen haben – allerdings ein Unikat, weil die industrielle Massenproduktion erst in den 1870-Jahren im deutschen Thüringen begann. Literarisch belegt sind Gartenzwerge in seinem Versepos „Hermann und Dorothea“ (1797):

„So war mein Garten auch in der ganzen Gegend

berühmt, und

Jeder Reisende stand und sah durch die roten

Staketen

Nach den Bettlern von Stein, und nach den

farbigen Zwergen.“ (Hermann und Dorothea, Dritter Gesang).

Dort klagt ein Apotheker, dass niemand mehr das ansehen möge, weil nun alles anders sein solle: „geschmackvoll, wie sie’s heißen, […] einfach und glatt“.

Dennoch verbreiteten sich die Gartenzwerge im 19. Jahrhundert im bürgerlichen Vorgarten: zunächst in Großbritannien, Deutschland, Österreich und der Schweiz und später in anderen europäischen und nichteuropäischen Ländern. Der „Ur-Gartenzwerg“ entstand 1872, als in Gräfenroda in Thüringen zwei Unternehmen gegründet wurden, August Heissner und Philipp Griebel (nicht geklärt ist, wer von ihnen der Schöpfer war), die später Gartenzwerge in Massen- und Serienproduktion herstellten. 1898 wurden Thüringer Zwerge erstmals auf der Leipziger Messe präsentiert. Nachdem sich danach immer mehr Manufakturen der Herstellung von Gartenzwergen widmeten, stockte der Exportabsatz im Ersten und Zweiten Weltkrieg.

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Gartenzwerg nicht geschätzt – unter anderem wegen der „Eingriffe ins Landschaftsbild“. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Konjunktur anzog, eroberte der Gartenzwerg wieder das Land, denn die Deutschen wollten die Grauen des Krieges vergessen. Viele konnten sich einen Schrebergarten leisten, der auch ein Symbol für die heile Welt war. Der Siegeszug der Gartenzwerge erreichte in den 1950er-Jahren seinen Höhepunkt. Dann gipfelten die gesellschaftlichen Umwälzungen im Jahr 1968. Spätestens zu dieser Zeit wurden Gartenzwerge zum Massenprodukt. Ab den 1980er-Jahren galten sie vielen Deutschen jedoch zum Inbegriff des Spießbürgertums. Der Gartenzwerg galt als Zeichen des schlechten Geschmacks und Beispiel für Kitsch. Allerdings wurde 1981 eine Internationale Vereinigung zum Schutz der Gartenzwerge mit Sitz in Basel gegründet, deren Anliegen die Verbreitung der „Zwergenkunde“ (scherzhaft „Nanologie“) und die Produktion historisch „korrekter“ Gartenwichtel ist. Sie hat definiert, was ein „artiger“ bzw. echter Gartenzwerg ist: Er ist maximal 69 Zentimeter groß, trägt eine Zipfelmütze, einen Bart und ist männlich.

Nach 1990 erlebte der Gartenzwerg eine „Renaissance“ durch die Schaffung neuer, provokativer Modelle. Er verlor dadurch allerdings an Stil und Charakter. Der missbräuchlichen Darstellungsform verdankt sich ihr Niedergang. Ende der 1990er-Jahre die Front zur Befreiung der Gartenzwerge (in Frankreich „Front de Liberation des Nains de Jardins“, in Italien „MALAG“), deren Anhänger die Figuren aus Vorgärten „befreiten“ und oft in Wäldern, ihrem „natürlichen Lebensraum“, aussetzten.

Reinhard Griebel aus Gräfenroda in Thüringen leitet die von seinem Urgroßvater Philipp Griebel 1874 gegründete Firma heute in vierter Generation. Ca. 4000 Zwerge jährlich stellt das Unternehmen noch in Handarbeit her: Eine Form aus Gips wird mit Gießton befüllt. Dann werden die Konturen jedes Zwerges mit einem Modellierstab nachgebessert und die Nahtstellen verschmiert. Bei über 1000 Grad kommt das Modell dann in den Brennofen. Nach der Auskühlung erhält der Wichtel dann die Grundierung, bei der ihm die Farbe von Haut und Bart aufgespritzt wird. Der restliche Körper wird händisch bemalt. Gartenzwerge mögen kitschig sein, aber sie erinnern uns an etwas, das uns nicht verloren gehen sollte in einer immer komplexer werdenden und digitalen Welt: das Begreifbare und Machbare.

Weiterführende Informationen:

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Kommentare

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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