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© Pixanay

Unlösbare Fragen: die Grenzen der Wissenschaft

Die Berliner Humboldt-Universität sorgte gerade für Schlagzeilen, weil sie im Rahmen der „Langen Nacht der Wissenschaften“ wegen einer aufgeheizten Situation den Vortrag einer Biologie-Doktorandin, die über Zweigeschlechtlichkeit referieren wollte, abgesagt hat. Das Beispiel zeigt, dass heute mehr darüber diskutiert werden sollte, was Wissenschaft ist – und was sie von Meinung unterscheidet.

  • Warum heißt es eigentlich "die" Wissenschaft?

  • Woher kommt der zunehmende Hass auf die Wissenschaft?

  • Hat die Wissenschaft den Anschluss an die Gesellschaft verloren?

  • Was sind die Ursachen für die international wachsende Wissenschaftsskepsis?

  • Welche Konzepte sind geeignet, um die Wissenschaft wieder näher in die Mitte der Gesellschaft zu bringen?

  • Haben alle wissenschaftlichen Disziplinen ein gemeinsames Methodenset, einen wesentlichen Kern, der sie in die Kaste der Welterklärer aufsteigen lässt?

  • Worin zeigt sich die Qualität von Wissenschaft?

  • Wie kommen wir zu unseren Entscheidungen: Kopf oder Bauch, Emotion oder Statistik?

  • Was sind die Grundbedingungen für eine freie Wissenschaft?

  • Wer steht für das, was Wissenschaft ausmacht?

  • Weshalb sollten Universitäten auch Räume für öffentliche Debatten sein?

Gewiss ist die Erforschung unserer Welt und die Einordnung der Erkenntnisse unter anderem eine Aufgabe von Wissenschaft. Ihre Erkenntnisse sind Grundlage des gesellschaftlichen Diskurses. Wenn allerdings wissenschaftlich fundierte Tatsachen wie der Klimawandel geleugnet oder relativiert werden, wird ihr die Basis entzogen und das Fundament unserer Demokratie erschüttert. Es geht heute darum, unsere komplexe Wirklichkeit als eine uns allen gemeinsame zu verstehen. Für die politische Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt (1906–1975) gehörte dies zum „gesunden Menschenverstand“, denn Realität ist das, was uns von Natur aus gegeben ist, und woran wir uns orientieren, wenn wir (be)urteilen und Entscheidungen treffen.

Doch die Gemeinsamkeit der Welt nimmt heute immer mehr ab, Leichtgläubigkeit und Aberglauben nehmen zu, und viele Menschen ziehen sich in sich selbst zurück, weil sie hier die Stabilität finden, die es „draußen“ nicht mehr gibt. Aber auch die Wissenschaft selbst ist ins Wanken geraten, wie auch das Beispiel der Humboldt-Universität zeigt. Seit der Corona-Pandemie und der Diversity-Debatten scheinen sich viele Wissenschatler:innen gern und häufig zu Wort zu melden, um die Welt mit ihrer Sicht auf die Dinge zu bereichern. Es werden Vorschläge, Möglichkeiten und Überzeugungen vorgestellt - und eventuell ist nach einiger Zeit dann wieder alles anders.

Der Philosoph Paul Feyerabend hat in den 1970er-Jahren einmal bemerkt, dass es andere Erkenntnisformen und Einsichten brauche, um der wissenschaftlichen Denkweise gegenüberzutreten und das Bild einer Realität geradezurücken, die sich mit den Mitteln der Wissenschaft eben nicht bis ins Letzte "erklären" lasse: "Die Wissenschaft ist nur eines der vielen Mittel, die der Mensch erfunden hat, um mit seiner Umwelt fertig zu werden. Sie ist nicht das einzige, sie ist nicht unfehlbar und sie ist zu mächtig, zu aufdringlich und zu gefährlich geworden, als dass man sie sich selbst überlassen könnte." Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers hat die wissenschaftliche Erkenntnisform scharf von der philosophischen Einsicht unterschieden: "Wissenschaftliche Sachkenntnis ist nicht Seinserkenntnis. Wissenschaftliche Erkenntnis ist partikular, auf bestimmte Gegenstände, nicht auf das Sein selbst gerichtet.

Wissenschaft bewirkt daher philosophisch gerade durch Wissen das entschiedenste Wissen um das Nichtwissen, nämlich um das Nichtwissen dessen, was Sein selbst ist." Wissenschaftliche Erkenntnis ist seiner Meinung nach nicht in der Lage, Ziele für das Leben zu geben, sie stellt keine gültigen Werte und kann also solche nicht führen. „Dass Wissenschaft da ist, beruht auf Antrieben, die selbst nicht wissenschaftlich als wahre und sein sollende bewiesen werden können." Der Philosoph Martin Heidegger bezeichnete das wissenschaftliche Denken als einen "Bekundungszusammenhang unter anderen", eine systematische Ausdrucksform, die eine bestimmte Form der Erkenntnis ermöglicht, aber eben nur eine von verschiedenen möglichen bleibt - ganz im Sinne der Aussage von Paul Feyerabend. Gewiss hat auch die Naturwissenschaft viele wertvolle Entdeckungen zutage gebracht und Wichtiges zum Fortschritt beigetragen - und doch steht sie am Ende vor letzten, unlösbaren Fragen, bei der alle Logik nicht weiterhilft. Auch Komplexität kann nicht rein rational analysiert werden. Es braucht die Einheit von Kopf, Herz und Hand.

Es braucht auch die Offenheit des Geheimnisses, die Öffnung des Herzens, denn nicht alles kann mit dem Kopf verstanden werden. Liebe, Fürsorge, Empathie und Mitgefühl, über sich selbst hinauszugehen, um anderen zu dienen – das ist für die US-amerikanische Sachbuchautorin und Journalistin Arianna Huffington die einzig sinnvolle Reaktion auf die vielfachen Probleme in der Welt: „Wenn Wohlbefinden, Weisheit und Staunen unsere Antwort auf einen persönlichen Weckruf sind, dann sind Großzügigkeit und Dienen die Antwort auf den Weckruf an die Menschheit.“ Studien zeigen, dass Achtsamkeit und Meditation einen messbaren positiven Effekt auf die anderen drei Säulen der Dritten Größe haben: Weisheit, Staunen und Großzügigkeit. Der Mensch ist auch dazu geboren zu staunen, sich zu wundern und neugierig zu sein. Das ist die Voraussetzung, um Dinge denkend und handelnd zusammenzuführen. 2010 veröffentlichte Prinz Charles zusammen mit Ian Skelly und dem Umweltpolitiker Tony Juniper das Buch „Harmonie - Eine neue Sicht unserer Welt“, das mit dem Satz beginnt: „Dies ist ein Aufruf zur Revolution.“ Es ist sein Manifest, das seine Beschäftigung mit scheinbar unzusammenhängenden Themen wie Architektur, ganzheitliche Medizin, Ökologie, Bildung, Aussöhnung der Religionen, Handel und Konsum enthält.

Er zeigt darin, dass alles miteinander verbunden ist – durch den „goldenen Faden uralter Einsichten“. Die Natur wird hier durchgängig als „Wesenheit“ im Gegensatz zum „Objekt“ bezeichnet, zu dem sie in der Aufklärung und Teilen der Wissenschaft wurde: „Aus ‚sie‘ wurde ‚es‘.“ Das Wort Harmonie geht auf das altgriechische harmonia (Dinge zusammenzufügen) zurück. Die Natur bildet ein harmonisches System. Der Dokumentarfilm des gleichen Titels von den US-Filmemachern Julie Bergman Sender und Stuart Sender hatte 2012 Premiere. Die Botschaft lautet auch hier: Die modernistische Denkweise spaltet uns von der Natur ab und damit auch von der Dreifaltigkeit der platonischen Werte, die sie verkörpert: dem Guten, Wahren und Schönen. Das Ergebnis ist Entfremdung und Zerstörung. Noch ist Zeit, wieder Zugang zu den ursprünglichen Werten zu finden.

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Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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