Dr. Alexandra Hildebrandt

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für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Verantwortung für die ferne Zukunft: Warum wir mehr Kathedralendenken brauchen

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Das Weltende bleibt präsent

Die Vorstellung des Weltuntergangs hat in der westlich-christlichen Kultur eine lange Tradition: Für Menschen früherer Jahrhunderte verband sich mit dem Gedanken an die Apokalypse Angst und Hoffnung. Sie glaubten, dass ihnen nach dem Ende der alten eine neue Welt verheißen war. Der Historiker und Experte für die Geschichte des Mittelalters, Johannes Fried, widmet sich in seinem Buch „Dies irae“ der Geschichte der Vorstellungen vom Weltuntergang seit Christi Geburt bis in die jüngste Gegenwart: „Dem Untergang sind wir nicht entronnen. Seine Erwartung ist nicht erledigt. Das Weltende bleibt präsent, jedenfalls im Westen. Es droht und wühlt im kulturellen Gedächtnis, scheint zum Handeln zu zwingen.“ Im Jahre 70 nach Christus ging Jerusalem in Flammen auf. Seitdem rechnet das Christentum fest mit der Apokalypse. Im zweiten Korintherbrief wird geschildert, wie die Welt zerschmilzt und die Erde in einem Feuerinferno untergeht. 

Das Interesse an außergewöhnlichen, von Gott gesandten Zeichen im Europa des 16. Jahrhunderts verdankt sich Überlieferungen von Omen und Weissagungen, die bis in die klassische Antike und Homer zurückreichen, wo von Donner, Regenbögen, Überschwemmungen oder dem Verhalten von Vögeln berichtet wurde. Diese Texte sollten Menschen zur Umkehr bewegen. Heute sind unsere bangen Blicke ebenfalls auf die Signale der Natur gerichtet: Überschwemmungen, Hitze, saurer Regen, Vulkanausbrüche oder schmelzende Gletscher – all das sind Vorzeichen, die in der Bibel mit der Ankündigung des Weltendes verbunden sind. Zwischen Schöpfung und Untergang sollte die eigene Position bestimmt werden. Auch im Mittelalter glaubten die Menschen, dass die Welt bald untergehen würde. Sie hatten eine begrenzte Vorstellung von Raum und Zeit, und ihr Horizont beschränkte sich vor allem auf Europa. Trotzdem dachten sie langfristig und bauten an Kathedralen. 

Der britische Astronom Martin John Rees spricht von „Kathedralen-Mentalität“ bzw. „Kathedralen-Denken“. 

Gemeint ist die Praxis, sich Projekten zu widmen, die Jahrzehnte und Jahrhunderte in die Zukunft reichen. Dieses Denken führt über die eigene Sterblichkeit hinaus: So begannen die mittelalterlichen Kathedralenbauer mit dem Bau, obwohl ihnen bewusst war, dass sie die Fertigstellung zu nicht mehr erleben würden. Auch Greta Thunberg sagte am 23. April 2019 vor dem britischen Parlament: „Wir müssen den Grundstein legen, obwohl wir noch nicht genau wissen, wie wir das Dach bauen müssen.“ Auch Johannes Fried sieht in der Weltuntergangsrhetorik in Bezug auf den Klimaschutz viele Vorteile und verweist auf die Bemühungen des Klimarats der Vereinten Nationen: „Wer damit rechnet, dass die Welt in einer Klimakatastrophe untergehen könnte, ist eher motiviert, Gegenmaßnahmen zu ergreifen.“

Das Kathedralen-Denken im historischen Kontext:

Neben religiösen Gebäuden gibt es auch öffentliche Bauvorhaben wie Abwasserkanäle, die im viktorianischen London nach dem „Großen Gestank“ von 1858 gebaut wurden und noch heute in Betrieb sind. Zu den wissenschaftlichen Bestrebungen gehört das Svalbard Global Seed in der abgelegenen Arktis, das über eine Million Samen von mehr als 6.000 Arten enthält und sie in einem unzerstörbaren Felsbunker mindestens tausend Jahre lang sicher aufbewahren will. Martin Kunze, Künstler und Initiator des 2013 „Memory of Mankind“ (MOM), archiviert unsere Kultur für die Nachwelt auf äußerst nachhaltige Weise, damit sie versteht, wer wir waren. Das erste "bottom-up"-Geschichtsbuch der Menschheit bewahrt Geschichten und Bilder unserer Zeit vor dem Vergessen - in einer Salzmine in Hallstatt in Österreich. Die älteste Salzmine der Welt (7000 Jahre) ist Teil der UNESCO Welterberegion Hallstatt/Dachstein. Dieses Langzeitarchiv muss tief unter der Oberfläche sein, um die Datenträger vor Erosion zu und Flut durch steigenden Meeresspiegel zu schützen, die geologische Struktur des umliegenden Gesteins darf das Archiv nicht zerdrücken. Der Sinn ist, ein möglichst globales, umfassendes und objektives Bild unserer Zeit widerzugeben, denn unser Wissen ist heute vor allem auf Datenträgern gespeichert, die längere Zeiträume nicht überdauern werden. 

Deshalb graviert MOM unsere Aufzeichnungen und Bilder in Tontafeln, die die Sumerer schon vor Jahrtausenden für ihre Geschichte(n) nutzten – und die heute aussehen wie bunte Kacheln. Die keramischen Datenträger tragen Fotos und Text bis zu 50.000 Zeichen und sind resistent gegenüber Hitze bis 1200°C, Chemikalien, Wasser, Strahlung, Magnetismus und Druck. Sie erzählen Geschichten für 1.000.000 Jahre. Alle, die sich bei MOM beteiligen (Museen, Universitäten, Wissenschaftler, Künstler, Verlage, Firmen oder Gemeinden), erhalten ein Token, der den Ort des Eingangs zum Archiv mit einer Genauigkeit von ein paar zehn Metern zeigt. Die natürlichen markanten Landmarken sollen das Wiederauffinden ermöglichen. Auch die Atomindustrie nutzt das Archiv, um für die Nachwelt festzuhalten, wo nukleare Abfälle gelagert sind.

Um mehr Kathedralen-Denken zu entwickeln, braucht es:

  • Bewusstsein für Endlichkeit und Dringlichkeit
  • Gefühl der zeitlichen Bescheidenheit (der Mensch als Wimpernschlag der Geschichte)
  • Aufbau langlebiger Strukturen und Geschäftsmodellen, die nachhaltig, flexibel und innovativ sind
  • Kontakt mit den langfristigen Zyklen der lebenden Welt
  • Legacy Mindset: der Wunsch, von der Nachwelt in guter Erinnerung behalten zu werden 
  • Nachhaltigkeit: Nicht mehr Ressourcen verbrauchen, als die Erde auf natürliche Weise regenerieren kann
  • Ausschöpfen des Potenzials der Gegenwart und dem Erkunden der Zukunft
  • Vermächtnis-Mentalität entwickeln: das eigene Leben als Aufgabe begreifen
  • Veränderung der Wahrnehmung der Zeit.

Das Kathedralen-Denken muss allerdings auch von den SDG-Ansätzen und der nachhaltigen Transformation begleitet werden. Der Astronom Carl Sagan schrieb, dass jede Gesellschaft ein „Telos“ braucht, das sie leitet („ein langfristiges Ziel und ein heiliges Projekt“). Wie sich die Ereignisse künftig entwickeln, lässt sich nicht planen, doch ist es sinnvoll, sich rechtzeitig Gedanken über das zu machen, was auf uns zukommen könnte und welche Herausforderungen zu lösen sind.

Weiterführende Informationen:

  • Jenseits des digitalen Zeitalters: Dinge für die Nachwelt 
  • Johannes Fried: Dies irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs. Verlag C. H. Beck, München 2026.
  • Klimaneutralität in der Industrie. Aktuelle Entwicklungen – Praxisberichte – Handlungsempfehlungen. Hg. von Ulrike Böhm, Alexandra Hildebrandt, Stefanie Kästle. Springer Gabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2023.
  • Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.

Wer schreibt hier?

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Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
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