„Versuche es, dein eigenes Leben zu führen.“
Hermann Hesse, der 1946 mit dem Nobelpreis für Literatur und 1955 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, bemerkte einmal, dass er kein Briefeschreiber sei, weil er die Vergänglichkeit des Lebens zu stark spüre, um gern und häufig lange Briefe zu schreiben. Dennoch hat er mehr als 35.000 Briefe in seinem Leben verfasst. 1000 Briefe umfasst allein die Korrespondenz mit seinem Sohn Martin (1911-1968). Sie enthalten Alltagsthemen, Familiäres, Freundschaftliches und „Handreichungen“, die uns auch heute noch ergreifen – etwa, wenn es um die eigene Aufgabe und Bestimmung im Leben geht: „Versuche es, dein eigenes Leben zu führen. Man muss es teuer bezahlen, aber am Ende lohnt es sich doch“, schreibt Hermann Hesse Ende Januar 1931 an seinen Sohn.
Der 1919 beginnende und sich bis zu Hermann Hesses Tod im Jahr 1962 fortsetzende Briefwechsel ist nicht nur ein beeindruckendes Zeitdokument, sondern offenbart auch die Welt der Außenseiter aus Passion, die die Fähigkeit zu einem langen Wachsen und Reifwerden haben. Vater und Sohn waren sich sehr ähnlich und litten schon als Kinder an der äußeren Welt und am Bildungssystem ihrer Zeit. In seinem autobiografisch gefärbten Roman „Unterm Rad“ (1906) schildert Hermann Hesse, der am 2. Juli 1877 in Calw/Württemberg als Sohn eines baltendeutschen Missionars und der Tochter eines württembergischen Indologen geboren wurde, seine schwierige Kindheit, die ihn nahe an den Selbstmord brachte. An seinen Vater schreibt Martin im April 1951: „Ich verstehe vom heutigen Schulbetrieb nichts mehr, weiss nur, dass er eine Last und Überfütterung und die Kinder dem allem besser gewachsen sein dürften, wenn sie älter sind.“
Im Juli 1929 schrieb Hesse an Martin: „Und alles Hübsche und Frohe im Leben wird doppelt froh und schön, wenn man eine Arbeit hat, die einen freut und der man sich gern hingibt.“ Er schätzte es, mit Kopf und Händen zu arbeiten und schätzte wie sein Sohn ehrliche Arbeit wie das Handwerk. „Es gibt nichts Schöneres und Wohltuenenderes, und auch nichts Vorbildlicheres, als einen Mann, der sein Handwerk liebt und meisterhaft ausübt!“ (an Martin Ende Dezember 1932). Gewiss sollte es Respekt vor dem Geist geben, schreibt er Ende Mai 1932 an Martin, „aber vor dem, der etwas schafft, nicht der bloss schwätzt …“ Wirkliche Bildung und echtes Wissen schwätzt nicht. Für den Schriftsteller war dies eher eine Art „Gesellschaftsspiel oder Geistes-Sport“ (an Martin, Mitte Mai 1932), den man im Leben nicht braucht.
Mia Bernoulli (1868-1963), die einer Baser Gelehrtenfamilie entstammte, eröffnete 1902 in Basel ein Fotoatelier für Portraitfotographie, das auch ein Treffpunkt für junge Künstler war. Hier lernte sie Hermann Hesse kennen, der 1899 von Tübingen, wo er eine Buchhändlerlehre absolviert hatte, nach Basel zog. Mia und Hesse verlobten sich 1903 und heirateten im Jahre 1904. Der 1904 publizierte ersten Roman „Peter Camenzind“, ein Bestseller, legte den Grundstein für seine Schriftstellerkarriere und die Hochzeit. Dem Trend der Zeit folgend, zogen sie noch im gleichen Jahr aufs Land in ein kleines, altes Bauernhaus in Gaienhofen. Hier lebte die Familie von 1904 bis 1912 auf der Höri. Martin war der Jüngste von drei Söhnen, die Hesse mit seiner ersten Frau Maria „Mia“ hatte. Er und Bruno (1905-1999) wurden in Gaienhofen geboren, Heiner (1909-2003) in Basel. 1912 zog die Familie nach Bern. Hesse schrieb pausenlos Romane, Erzählungen, Feuilletontexte und Essays, die der Familie ein solides Auskommen garantierten.
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges meldet sich Hesse freiwillig, wurde aber bald zum Kriegsgegner, der gegenüber Romain Rolland bekannte: „Auch ‚Europa‘ ist mir kein Ideal – solange Menschen einander töten unter Führung Europas, ist mir jede Einteilung der Menschen verdächtig. Ich glaube […] nur an die Menschheit, nur an das Reich der Seele auf Erden, an dem alle Völker teilhaben und dessen edelste Verkörperungen wir Asien verdanken.“ Für untauglich erklärt, leitete Hesse in Bern gemeinsam mit dem Zoologen Richard Woltereck einen Bücherdienst, der deutsche Kriegsgefangene im Ausland mit Lektüre versorgt. Der Sohn Martin erkrankte an einer schweren Hirnhautentzündung. Im Herbst 1918 hatte Mia einen schweren psychischen Zusammenbruch und musste über Jahre hinweg in Nervenheilanstalten eingewiesen werden. Die Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und seinem Sohn Martin sowie aus Briefen von Mia an Hermann Hesse belegen allerdings, dass sich Hesse bis zum Tode liebevoll um seine Kinder und Mia kümmerte und sie auch finanziell auch großzügig unterstützt hat. Mia Hesse-Bernoulli starb im Jahre 1963 - ein Jahr nach Hermann Hesse - als Folge einer Grippe im Alter von 95 Jahren.
Im April 1919 verließ Herrmann Hesse seine Familie, um im Tessin ein ungebundenes Leben zu führen. In einem Brief an den Freund Walter Schädelin heißt es: „Das Schicksal preßt mich, und meine Aufgabe dabei ist lediglich, meinen Wein herzugeben. Er fließt nicht immer gern, und die Wandlung der Welt und meines Lebens äußert sich auch in ganz neuen Forderungen meines Denkens und meiner Dichtung, denen meine bisherigen Mittel nicht mehr gewachsen sind“. Seine drei Söhne kamen zu Pflegefamilien oder ins Heim. Martin („Brüdi“), der jüngste Sohn, war gerade sieben Jahre alt. 1923 wurde die Ehe geschieden. Mia litt unter den täglichen Belastungen, die durch die künstlerische Arbeit ihres Mannes, Haus und Kinder entstanden. Nach der Trennung der Eltern wurden die Kinder im Kinderheim oder bei Freunden und Bekannten untergebracht. Bruno fand in dem Maler Cuno Amiet einen Pflegevater und Lehrer – auch er wurde Künstler. Heiner kam zuerst in ein Kinderheim, dann zu einem Erzieher in den Schwarzwald und anschließend in ein Schweizer Landerziehungsheim. Hermann Hesse, der mittlerweile in Montagnola (Tessin) lebte, wo er die längste Zeit seines Lebens verbrachte, besuchte ihn zwei bis dreimal im Jahr.
Martin kam zu einer Pflegefamilie Ringier nach Kirchdorf bei Thun. Zu dieser Zeit bestand die Familie aus Anna Ringier-Aebi und den beiden Töchtern Johanna Ringier, einer Lehrerin, und der Krankenschwester Alice Ringier. Martin fühlte sich hier sehr wohl und kümmerte sich sein Leben lang um Johanna Ringier, die wie eine zweite Mutter für ihn war. Seine ersten Schuljahre erlebte er in Kirchdorf, zeitweise lebte er auch bei seiner Mutter in Ascona. Nach ihrer erneuten Erkrankung kehrte er zu seiner Pflegefamilie zurück. Seinem Vater schrieb er regelmäßig. In den ersten verfassten Briefen an ihn nennt er ihn „Lieber Papi“. Der Vater schreibt „Mein lieber Brüdi“. Mit 14 Jahren veränderte sich nicht nur seine Handschrift - auch die Anrede änderte sich („Lieber Vater“). Und auch der Vater begann seine Briefe mit „Mein lieber Martin“.
Als er etwas unglücklich darüber war, tröstete ihn der Vater, bat ihn jedoch, nicht aufzugeben. Auch Hermann Hesse haderte im Frühsommer 1894 mit seiner Mechaniker-Lehre in der Turmuhrenfabrik Perrot in Calw. Er wechselte dann in den Buchhandel, während Martin seine Lehre durchzog, um danach allerdings ein Studium im Bauhaus (Dessau) aufzunehmen. 1932 schrieb er sich zum Studium am Bauhaus in Dessau ein, da er noch Architektur studieren wollte. Am Bauhaus kam er mit der Fotografie in Kontakt und belegte Kurse in Fototechnik und Fotochemie. Das Studium musste er allerdings aufgeben, nachdem die Schule durch die Nationalsozialisten geschlossen wurde. 1934 ließ er sich in Bern als freier Fotograf nieder und gestand schon früh: „Ich bin viel in der Dunkelkammer, mehr als mir lieb ist.“ Zu seinen Auftraggebern gehörten die Werbebranche, Museen, Bibliotheken, private Sammler, Künstler und sein Vater, den er drei Jahrzehnte lang immer wieder fotografierte. 1944 heiratete er die Bibliothekarin Isabelle von Wurstemberger (1906-1990). 1945 wurde Tochter Sibylle geboren.
Wie seine Eltern war auch Martin Hesse, der als der künstlerisch begabteste, aber zugleich labilste der Söhne galt, für seelische Krisen anfällig. „Es ist ein Zeichen von Lähmung und im Leben, es bringt Leiden, aber mir ist es lieber, als eine stumpfe Zufriedenheit“, schrieb Hesse im Juni 1955 an den Sohn. Doch diese Zeilen half ihm nicht. 1968 nahm er sich das Leben.
Hermann Hesse: »Mein lieber Brüdi!« Briefwechsel mit seinem jüngsten Sohn Martin. Herausgegeben von Gunnar Decker. Unter Mitarbeit von Sibylle Siegenthaler-Hesse, Hanspeter, Martin und Matthias Siegenthaler . Mit zahlreichen Fotos von Martin Hesse. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
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Alexandra Hildebrandt: Meisterjahre. Die Welt verstehen und selbst gestalten. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018, S. 15-30.
Andreas Solbach: Hermann Hesse. Ein Schriftsteller auf der Suche nach sich selbst. wbg Theiss, Darmstadt 2022.
Peter Suhrkamp: Über das Verhalten in der Gefahr. Essays. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.